Richterswil Wirtschaft

Trauer und Dankbarkeit gehen hier Hand in Hand

Am Freitagabend, 27. November 2020, haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Frauen- und Geburtsklinik des Paracelsus vom Spital Abschied genommen. Ein Abgesang.

Text & Bilder: Reni Bircher

Noch brennt Licht in den unteren Stockwerken des Spitalgebäudes, die Zimmer jedoch sind menschen- oder zumindest patientenleer. Vor der Parkplatzeinfahrt steht die Storchenfigur, welche normalerweise die Leute in der Geburtsklinik willkommen hiess. «Leider kein Landeplatz mehr», verkündet Adebar, und die um ihn herum drapierten Kerzen von Mitarbeiterinnen und Familien, die hier ihren «Start» hatten, untermalen das Trauerspiel.
Eine junge Frau stellt ihr Velo ab, ein Weckglas samt Kerze in der Hand. Ein weiteres Licht, das sowohl Trauer wie Dankbarkeit ausdrücken soll. Sie erzählt, dass hier ihre Zwillinge geboren werden durften; Beckenendlage, eine komplizierte Ausgangssituation – sie hätte nirgendwo anders hingehen können. Für das äusserst kompetente Paracelsus-Team aber kein Grund zur Sorge und professionell zu meistern. «Das war die schönste Woche meines Lebens hier, wie wir in diesem Familienzimmer starten durften». Sagt es, und fängt an zu weinen. «Es ist, als ob jemand gestorben wäre.»
Einmal mehr würden doch nur wieder die ehrlichen Menschen verlieren. «Ich verstehe nicht, wie das passieren kann!» Die Erinnerung an diese Zeit, an die Menschen, die ihr und ihrem Mann dort begegneten sind noch immer im Gedächtnis. «Sie haben einfach Dich – den Menschen – gesehen, Deine Familie, das was zählt». Selber ausgebildete Hebamme gesteht sie, dass sie früher nicht gedacht hätte, dass es so etwas noch gibt. «Es ist … war einmalig. Hier stirbt etwas, was dem Leben erst einen Sinn gibt. Es ist eine Katastrophe». Inzwischen mischt sich viel Wut in die Trauer.

Abschied selbst organisiert

Um die Feuerschale und den Tisch mit Kürbissuppe und selbst gemachtem Gebäck tummeln sich die Angestellten der Geburtenabteilung. Sie haben für sich selber einen Abschied vom Paracelsus organisiert. Die Gespräche drehen sich hauptsächlich um Themen wie Jobverlust, Stellensuche, die Frustration über die Situation im Allgemeinen. Man versucht, das Unfassbare irgendwie zu begreifen. Jahrelang haben diese Menschen, die sich hier versammelt haben, gekämpft: für ihre Arbeit, ihre Überzeugung und die Frauen, die sich ihnen anvertraut haben, und das für einen Lohn, den sonst niemand akzeptiert hätte. Was die Leute im besonderen Rahmen des Paracelsus-Spitals geleistet haben, das ist vielerorts überhaupt nicht möglich.

Paracelsus-Spital Richterswil

Im Hafenbecken schiesst die Fontäne gut sichtbar empor: ein Gruss an das anwesende Team von einem Grossvater, dessen Enkelkinder im Paracelsus zur Welt kommen durften.
Unter die Anwesenden mischen sich die Richterswiler Kinderärzte. Dr. Patrik Schimert bedauert, dass die Zusammenarbeit nach zwei Generationen beendet wurde: «Eine Ära ging rasch und unerwartet zu Ende.»

 

Die seit drei Jahren pensionierte Chefärztin der Frauenklinik, Dr. Angela Kuck, hat 17 Jahre lang die Abteilung geführt. «Ich wollte erst gar nicht herkommen … der Schmerz über den Verlust der Geburtenabteilung ist gross», gesteht die zierliche Frau. Jedoch hätte ihr eine Freundin ins Gewissen geredet, dass sie zum Abschied gehen müsse! «Ich habe das Gefühl, dass die Idee hinter dem Ganzen nicht verstanden worden ist», und spricht damit den komplementärmedizinischen Ansatz sowie den Menschen als Mittelpunkt des Geschehens an.

Emotionaler Ballast
abfangen

Eine der Medizinischen Praxisassistentinnen (MPA) – sie arbeitete fast sieben Jahre im Paracelsus – erzählt, wie sie wenige Wochen vor Konkursanmeldung noch schwangere Frauen aufgenommen und versichert hätten, dass sie im Dezember hier gebären könnten. «Drei Wochen später musste ich alle anrufen und ihnen sagen, dass ihr Kind nicht hier zur Welt kommen kann.» Entsprechend verständnislos und entsetzt waren die Reaktionen.
Die letzten zwei Wochen im Betrieb seien verheerend gewesen, sie und ihre Kolleginnen wären häufig weinend nach Hause gegangen. «Natürlich wollten alle Patientinnen ihre Krankenakte, und ein Telefonat dauert zehn, zwanzig Minuten, weil sich die Frauen emotional bei uns ausleeren mussten.» Das alles türmt sich in den MPAs an, manchmal weit über die Belastungsgrenzen hinaus. «Ich bin mehr als einmal zusammengebrochen», gesteht sie mit erstickter Stimme. Diese Last trägt niemand mit.
Dass die Praxisangestellte acht Stellenangebote bekommen habe, ohne auch nur eine einzige Bewerbung rauszuschicken, ist ein Trostpflaster.
Eine Hebamme, welche selbst in Erwartung ist, verabschiedet sich von den Umstehenden. «Ich möchte mich nochmals bedanken für die Zeit, die ich hier erleben durfte.» Nachdem sie an mehreren Orten gearbeitet und sich mehr als einmal unzufrieden mit dem Beruf hintersinnt habe, hätte im Paracelsus-Spital plötzlich alles einen Sinn ergeben. «Ich habe meinen Beruf plötzlich gelebt und geliebt.» Hier habe sie sich aufgehoben und zuhause gefühlt, der Umgang miteinander, die Atmosphäre sei einmalig gewesen. Ein Team zu finden, welches gut miteinander funktioniere, sei schwer zu finden. Mit diesen Gefühlen steht sie nicht alleine da. «Dieses Wissen, was man zusammen erreichen kann, der Zusammenhalt untereinander, das werde ich mitnehmen», sagt sie entschieden. «Es ist doch einfach völlig absurd, dass wir in der heutigen Welt nicht nach Harmonie und einem Miteinander streben», enerviert sie sich. Aber: «Trotz all dem Mist, der hier gerade passiert ist, bin ich unendlich dankbar, dass ich hier sein durfte.»

Etwas Besonderes

Im ersten Stock des Paracelsus-Spitals durfte sich jeder als etwas Besonderes fühlen – und genauso sollte es sein. Ist es andernorts aber nicht. Das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, welches die Familien hier erfahren durften, war aussergewöhnlich. «Was jede von uns sicher mitbringt, ist die Einstellung und Empathie den Frauen, Familien und der Geburt gegenüber; wir sehen unseren Beruf als Berufung», erklärt Karin Höhener, leitende Hebamme. Diese Einstellung wollen sie möglichst an die neue Arbeitsstelle mitnehmen: «Wir möchten weiterhin den Frauen ermöglichen selber zu gebären und nicht entbunden zu werden!» Der Prozess einer Geburt sei etwas sehr Intimes und das Klientel äusserst vielfältig. «Da sind so viele Schicksale und Geschichten, und man muss etwa bei einer Frau, welche sexuellen Missbrauch erfahren hat, sehr vorsichtig agieren», weiss die Hebamme. Das zu spüren und entsprechend zu handeln verlangt viel Feingefühl. «Dieser Raum muss den Frauen gewährt werden.»
In den letzten Wochen vor der Spitalschliessung war sozusagen «volles Haus». Für die Belegschaft eine grosse Freude: «33 Babys durften diesen November noch bei uns ankommen», erzählt Karin Höhener glücklich. Ausserdem hätte es von der unfassbaren Situation, in der sie sich befanden, abgelenkt. «Leider hatten wir einen grossen Materialengpass und personell weniger Ressourcen», erklärt sie, «bei Ausfällen war es schwierig, zusätzlich Personal zu mobilisieren, da unsere Löhne im Dezember nicht gesichert sind.»
Die Stellung der Hebamme hat in der Schweiz tatsächlich einen sehr hohen Stellenwert. Einerseits trägt sie viel Verantwortung, hat aber auch viele Befugnisse und kann Entscheidungen treffen, ohne einen Arzt beiziehen zu müssen. «In anderen Ländern ist die Hebamme mehr ein Handlanger», erklärt Höhener. Die geistige Präsenz und die Verantwortung, die der Geburtshelferin hierzulande obliegt, ist enorm. «Deshalb ist das bei uns auch ein Studium.»
25 Hebammen, sieben Pflegeassistentinnen, vier MPAs, acht Ärzte – für sie alle ist ihr Beruf nicht einfach ein Job, sondern eine Berufung, wenn nicht gar eine Lebenseinstellung.
Als die Nachricht von der beantragten Nachlassstundung bekannt wurde, haben nur wenige nach einer neuen Anstellung gesucht, die meisten hatten die Hoffnung, dass es irgendwie weitergehen würde, haben weitergearbeitet, vollen Einsatz gezeigt. Wenige Tag später, am 16. November, erfuhren sie von der Spitalschliessung – eine Stunde vor der offiziellen Medienmitteilung.

Das Versagen
der Führungskräfte

Das Entsetzen, die Wut über eine solche Kommunikationspolitik ist beinahe greifbar.
Hinter vorgehaltener Hand wird der Geschäftsleitung Misswirtschaft vorgeworfen, das Vertrauen schwer belastet. Fehlkalkulationen, keine Investition dort, wo es nötig und wichtig gewesen wäre. Von «oben herab» seien sie ständig geschnitten worden, weil die Geburtshilfe angeblich nicht rentabel war. Wegen jedem Fitzelchen hätte man betteln müssen. Anfang Oktober war noch neues Personal eingestellt worden, obwohl im Hintergrund wohl bereits Verhandlungen bezüglich der Nachlassstundung geführt worden sind.
Emotionale Unterstützung würden sie kaum erfahren, berichten mehrere Anwesende. Die Spitaldirektion sei kein einziges Mal vorbeigekommen, um mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu reden. «Ein Armutszeugnis. Wir fühlen uns total im Stich gelassen, das ist einfach nur respektlos.»

Das letzte Kapitel

Karin Höhener verbrachte noch eine weitere Woche nach der Schliessung im Spital, um die Abrechnungen zu machen und sicherstellen, dass alle Leute ihren Lohn und den 13ten bekommen. «Mir ist wichtig, dass sie eine Anschlusslösung haben, deshalb haben meine Co-Leitung Lena Schönenberger und ich gleich nach Bekanntgabe der Schliessung die Zeugnisse geschrieben», sagt die leitende Hebamme und setzte für ihr Team alle Hebel in Bewegung.
Bisher ist es neun der 25 Hebammen gelungen, eine Neuanstellung zu finden. Andere haben sich vorsorglich beim RAV angemeldet. Höhener selbst war im alten Krankenhaus Kinderkrankenschwester, beschloss die Ausbildung zur Hebamme und trat 1999 wieder ins Spitals ein. Fünf Jahre hatte sie die Leitung des Teams inne.
In den letzten Arbeitstagen haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angefangen, alles in einem der Zimmer zu sammeln. «Wir sind froh, wenn es Abnehmer gibt, etwa von angefangenen Spritzenpackungen. Die sind noch immer separat verpackt. Weil aber das Multipack angefangen ist, nimmt es der Hersteller nicht mehr zurück.» Auch das Inventar soll veräussert werden. «Ich hoffe, es gibt noch Geburtshäuser oder andere Institutionen, die froh wären, wenn sie eines dieser guten Geräte für wenig Geld erwerben könnten.» Dass die Managerin des Spitals Infusionen aufschneiden und wegleeren wollte, sorgt für Kritik und Höhener musste einschreiten: «Sowas geht doch einfach nicht!», empört sie sich.

Weitere Betroffene

Dem Leitenden Arzt des ZIO, Dr. med. Michael Decker, wünschen die Ex-Angestellten, genauso wie seine Patienten und Private alles Gute und hoffen, dass er die Onkologieabteilung weiterführen kann – sei das im dritten Stock des Paracelsus-Spitals, oder im Medizinischen Zentrum Chrummbächli.
Die «Lismifrauen» um Margrit Kirner, welche seit Jahren Decken, Finkli und Schlüttli gestrickt haben für die Neugeborenen im Paracelsus, sind auf der Suche nach einer neuen Institution, welche sich gerne ihrem Können (und Wollen!) annehmen möchten. Momentan stricken die flinkfingrigen Damen für die Arbeitsgruppe «Jugend und Familie».
Die vielen Zuschriften, Anrufe, Zeichnungen und – man kann es nicht anders sagen – Beileidsbekundungen aus der Bevölkerung und von Familien, die im Paracelsus-Spital ihren Start hatten, zeugen von der grossen Bestürzung und der Trauer um das, was hier verloren geht. Denn hier wurden Geschichten geschrieben.n

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