Wädenswil

Julia Gerber Rüegg – ein Porträt mit Seebezug

Für Julia Gerber Rüegg ist der Zürichsee ein Freund aus Kindertagen. Ihre Wahrnehmung der Welt hatte mit dem Gewässer zu tun. Nun kämpft sie dafür, dass alle Menschen überall freien Zugang zum See haben.

Text: Ingrid Eva Liedtke
Bild: zvg

Auf dem Foto, das Julia Gerber Rüegg uns für diesen Artikel zugeschickt hat, steht sie in einem antiken Ruderboot. Sie rudert stehend und strahlt dabei übers ganze Gesicht. Schon als Kind ist sie jeweils am Samstag mit den Eltern über den See gerudert, um dann auf dem Etzel zu frühstücken. In Uerikon ist sie aufgewachsen – mit und auf dem See. Dem See und seiner Landschaft fühlt sie sich verbunden. In ihrem Haus in Wädenswil hängen impressionistische Bilder von Karl Landolt, einem Maler aus Stäfa. Eines seiner Lieblingssujets ist der Zürichsee.
Julia Gerber Rüegg ist mit Willy Rüegg verheiratet und Mutter von zwei Söhnen (*1989 und 1991).

Politik als Bürgerinnenpflicht

«Das Leben an und im See, alles, was sich jahraus, jahrein da abspielte, hat meine Sicht von der Welt schon als Kind geprägt.» Dass ihr Vater in der FDP Stäfa aktiv politisierte, ihre Mutter davon aber noch ausgeschlossen war, hat sie ebenso geprägt. Darum hat sie sich schon früh politisch engagiert. Politik als Chance und Bürgerinnenpflicht, in diesem Sinn verstehe sie ihr Engagement.

Bis 1989 arbeitete Gerber Rüegg als Lehrerin, dann liess sie sich zur PR-Beraterin ausbilden und gründete eine PR-Agentur. Ab 2010 war sie im GAV-Vertragsvollzug tätig, dann als Mediensprecherin und später als Zentralsekretärin in grossen Schweizer Gewerkschaften. Heute arbeitet sie teilzeitlich für einen Menschenrechtsanwalt.
Gerber Rüeggs Engagement für Frauen im Beruf und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie führte sie immer wieder zu politischen Vorstössen im Kantonsrat. Als Präsidentin des Gewerkschaftsbundes lancierte sie die Volksinitiative «Kinderbetreuung JA!», die den Ausbau des Betreuungsangebotes für Kinder im Vorschulalter zum Ziel hatte. Im Juni 2010 stimmte das Zürcher Stimmvolk dem Gegenvorschlag zu und garantierte damit den Anspruch auf einen familienergänzenden Kinderbetreuungsplatz.
Im Auftrag der Universität Zürich gründete Gerber Rüegg mit der «Kinderkrippe Pitschi» die erste Kindertagesstätte für Kinder studierender Eltern an der Universität Zürich und legte den Grundstein für die Stiftung «Kinderbetreuung im Hochschulraum Zürich kihz» der beiden Zürcher Hochschulen.
Seit 1980 brachte sich Gerber Rüegg in der Gemeindepolitik von Wädenswil ein. Sie engagierte sich in der Sozialdemokratischen Partei und wurde 1987 in den Wädenswiler Gemeinderat gewählt. Hier präsidierte sie die Raumplanungskommission und erreichte, dass auf der Halbinsel Giessen ein Seeuferweg realisiert werden konnte.
Am 7. Juni 1993 stellte Julia Gerber Rüegg bei der Revision der Wädenswiler Gemeindeordnung folgenden Antrag: «Für Personen-, Funktions- und Rollenbezeichnungen wird in diesem Text die feminine Form verwendet. Da die männliche Form in der weiblichen enthalten ist, ist sowohl die männliche als auch die weibliche Person angesprochen.» Diesem Antrag stimmte der Rat zu. Am 26. September wurde in Wädenswil über die Revision der Gemeindeordnung abgestimmt. Damit wurde dem Volk zum ersten Mal in der Schweiz eine Vorlage unterbreitet, die ausschliesslich weibliche Personenbezeichnungen enthielt. Sie löste in breiten Kreisen der Bevölkerung heftige Diskussionen aus, sowohl über die sprachliche Gleichstellung als auch über die Gleichberechtigung ganz generell. Die Vorlage wurde erwartungsgemäss abgelehnt, löste aber im ganzen deutschen Sprachraum eine Debatte über den Umgang mit dem generischen Maskulin aus und stiess international auf Interesse. Am 20. Februar 1994 wurde eine neue Vorlage, in der die «Paarform» verwendet wurde, klar angenommen. Seither werden amtliche Texte und Gesetzestexte in der Schweiz nicht mehr ausschliesslich männlich formuliert.
Von 1994 bis 2014 war Julia Gerber Rüegg Zürcher Kantonsrätin und dort Mitglied der Geschäftsprüfungs- und der Finanzkommission.
Die politischen Kernthemen von Julia Gerber Rüegg waren in allen Dossiers die Gleichstellung von Mann und Frau in Beruf und Gesellschaft sowie die Rechte und der Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Engagiert

1999 ist Gerber Rüegg aus dem Gemeinderat, 2014 aus dem Kantonsrat und 2015 aus der SP ausgetreten, politisch aber bleibt sie weiterhin aktiv. Sie will zusammen mit dem parteiunabhängigen Verein «JA zum Seeuferweg», den sie präsidiert, durchsetzen, dass die Ufer freigehalten und mit Fusswegen zugänglich gemacht werden. Das verlangen die Richtplanung und die Gesetze von Bund und Kanton schon seit Jahren und Jahrzehnten. Dafür hat sich Gerber Rüegg auch schon 2010 mit der kantonalen Volksinitiative «Zürisee für alli» erfolgreich eingesetzt. «Die Zürcher Regierung weigert sich aber bis heute für die Freihaltung der Ufer zu sorgen und einen durchgehenden Fussweg, wie es das Zürcher Strassengesetz verlangt, zu verwirklichen», konstatiert sie.

Das Seeufer sollte allen Menschen zugänglich sein

«Seit 1995, als ich als junge Gemeinderätin zur Präsidentin der Raumplanungskommission gewählt wurde, bin ich mit dem Thema beschäftigt. Da begegnet mir zum ersten Mal der Begriff ‹Konzessionsland›. Konzessionsland ist Land, das durch Aufschüttung auf Seegrund entstanden ist. Ich realisierte, dass 95% des Zürichsee-Ufers, wie es mir vertraut war, nicht natürlich war. Plötzlich habe ich diesen See mit anderen Augen gesehen, sah all die leblosen Ufermauern und das fehlende Schilf.»
2009, anlässlich einer Debatte zum kantonalen Richtplan, wurde der Antrag gestellt, den Seeuferweg aus dem Textteil des Richtplans zu streichen. Ihn zu realisieren sei unmöglich. Die Uferanwohner wollten nicht, dass ständig Leute direkt vor ihrem Grundstück spazieren würden.
Kantonsrätinnen und -räte der EVP und der SP starteten daraufhin je eine Volksinitiative für einen Seeuferweg. Nachdem im Jahr 2005 die Stimmberechtigten von Wädenswil und Richterswil mit je einer 2/3-Ja-Mehrheit dem Seeuferweg zwischen den beiden Gemeinden zugestimmt hatten, waren sie sicher, auch kantonal den Seeuferweg rund um den Zürichsee an der Urne durchzubringen. Die nötigen Unterschriften kamen problemlos zusammen.

Gegenvorschlag

Es war damals schon klar: Viele wollten mehr als ein paar Badewiesen. Sommer und Winter am See spazieren und die Naturschauspiele am Wasser zu erleben war ein grosses Bedürfnis. Dass die Initiativen mehrheitsfähig sein könnten, nahmen auch ihre Gegner an. Um einen Erfolg der Uferinitiativen an der Urne zu verhindern, wollten sie als Gegenvorschlag einen Artikel im Strassengesetz vorschlagen, der dem Seeuferweg gewidmet war. Damit konnte der Kanton Zürich verpflichtet werden, den Weg zu planen, zu finanzieren und zu erstellen. Das gefiel auch den Seebueben und Seemeitli im Kantonsrat. Sie waren mit dem Vorschlag grundsätzlich einverstanden und haben ihre Initiativen in einem frühen Zeitpunkt zurückgezogen.

Im Vorschlag, den der Kantonsrat 2014 schliesslich zugestimmt hat, waren im Kleingedruckten allerdings diverse Hürden eingebaut, sodass der Bau des Seeuferweges bis heute verzögert werden kann.
«Die für die Planung zuständige Regierungsrätin, Carmen Walker-Späh, nimmt diese Möglichkeiten denn auch ausgiebig wahr. Seit 2014 ist kein einziger Meter neuer Uferweg gebaut worden. Eine hohe Zustimmung zur Uferinitiative im März 2024 wird dem regierungsrätlichen Widerstand definitiv ein Ende bereiten», erklärt Gerber Rüegg.

Noch mehr Verdichtung, noch mehr Mauern

Es ist für jedermann sichtbar, dass immer mehr Leute am Zürichsee wohnen wollen. Das führt zu zunehmender baulicher Verdichtung an den Seeufern, zu Mehrverkehr auf der Seestrasse. Immer mehr und immer höhere Schallschutzmauern schotten die Liegenschaften am See von der Strasse ab. «Auf der Seestrasse zu spazieren ist alles andere als schön und erholsam.»
Das möchte der parteiunabhängige Verein «JA zum Seeuferweg» mit seiner Uferinitiative ändern. Diesmal sollen die Ufer, die Ufernatur und der Seeuferweg durch die Verfassung geschützt werden. In der Kantonsverfassung soll stehen, dass die Ufer ökologisch aufgewertet werden müssen.

«Klar, dass die Uferanwohner sich dagegen zur Wehr setzen. Aber sie wissen, seit sie ihr Grundstück erworben haben, dass das Ufer seit je zum See gehört und damit öffentlich ist. Wenn ein Teil ihres Grundstücks aus Konzessionsland besteht, dann ist dieses aufgeschüttete Land immer Eigentum mit öffentlich-rechtlichen Einschränkungen und kann nie zu uneingeschränktem Eigentum werden. Somit kann der Kanton Teile des Konzessionslandes zurückverlangen, wenn es das öffentliche Interesse erfordert.»
Julia Gerber Rüegg kennt jedes zu beachtende Detail ihres Anliegens und dies sind wirklich viele. Sie will, dass die Leute verstehen, worum es geht, denn natürlich will sie einen möglichst grossen Teil der Bevölkerung überzeugen. «Wenn ich von einer Sache überzeugt bin, kämpfe ich mit Leidenschaft. In diesem Fall geht es um meine Heimat!»

Wichtig auch für Wädenswil

Eine Annahme der Uferinitiative im nächsten Frühjahr hätte einen grossen Vorteil für Wädenswil. Die Uferweglücke bis zur Halbinsel Giessen könnte ohne Kostenbeteiligung der Stadt geschlossen werden. Bisher war stets von Kosten für Wädenswil von 4 Mio. Franken die Rede.

Gute Lösungen

Julia Gerber Rüegg sieht Politik als einen ständigen Lernprozess. Dazu gehörten auch Rückschläge. Sie sagt: «Vieles geht nur in kleinen Schritten voran. Man wirft etwas ins Spiel und schaut, was man auslöst, wenn nötig und möglich bietet man Hand. Es geht immer darum gute Lösungen auszuhandeln.» Dafür hat sie schon manches gewagt. «Ich habe immer ein wenig verrückte Dinge angerissen – und damit etwas erreicht. Oft ist es ein Kompromiss. Das ist das Wesen der Schweiz, die Stabilität des Landes.»
Diesmal gehe es einerseits um die Menschen, die das Seeufer als Erholungsraum geniessen möchten. Genauso gehe es um die Freihaltung des Gewässerraums. Er ist ein wichtiger Lebensraum für viele verschiedenen Pflanzen und Tiere und schützt vor Hochwasser. Dieser Aspekt wird angesichts des Klimawandels immer wichtiger. Dass auch für Seeanwohner eine gute Ufergestaltung möglich ist und ihre Privatsphäre gewahrt bleibt, zeigt nicht zuletzt der Weg auf der Halbinsel Giessen.
Wo findet Julia Gerber Rüegg Ruhe und Entspannung? Sie muss überlegen. «Was mir Ruhe bringt, sind Bergtouren. Der Aufstieg, der Rhythmus im Körper, der Überblick über alles, wenn man oben ist. Wenn man vom Gipfel ins Tal hinunterschaut, merkt man, dass alles, was einem jeweils belastet, gar nicht so tragisch ist. Das entspannt enorm. Körperliche Bewegung tut mir gut. Auch beim Stehrudern mit Victor, einem antiken Boot (1921) des Oldtimer Bootclub Zürichsee.
Auch lese ich, wenn ich dazu komme, gute Romane oder philosophische Werke. Musik hat ebenso ihren Platz, barocke Musik, und die Romantik.» Sie erinnert sich lachend: «In meiner Jugend war ich ein Hardrock-Fan. Deshalb habe ich heute einen Gehörschaden.»

Dies sollte ein Porträt werden, doch wie man schnell bemerkt, beansprucht Julia Gerber Rüeggs Anliegen, die Seeuferinitiative, den grössten Teil dieses Artikels. Da ist sie ganz versierte Politikerin und engagierte Frau, eine Kämpferin, die für ihr Anliegen brennt. Sie versteht es, dieses überzeugend dar­zulegen und ihm Platz zu verschaffen.

Initiativtext:
Wortlaut von Art. 105a: Der Kanton sorgt dafür, dass See- und Flussufer freigehalten und der öffentliche Zugang sowie die Begehung erleichtert werden.
Die Uferwege an Seen und Flüssen sind in der Regel am Land und möglichst nahe am Ufer zu führen. Unberührte und ökologisch wertvolle Ufer sind ungeschmälert zu erhalten. Bei der Erstellung ist dem Natur- und Landschaftsschutz Sorge zu tragen und die Ufer sind ökologisch aufzuwerten.
An Flüssen ausserhalb des Siedlungsgebietes wird in der Regel nur einseitig ein Uferweg geführt.

Art. 146 Uferweg am Zürichsee
Der Kanton erstellt in Zusammenarbeit mit den betroffenen Gemeinden am Zürichsee bis 2050 einen durchgehenden Uferweg, soweit er auf Kantonsgebiet liegt.
Die Finanzierung des Seeuferwegs erfolgt durch den Kanton.
Der Kantonsrat bewilligt zu diesem Zweck nach Massgabe der Planung und des Baufortschrittes periodisch einen mehrjährigen Rahmenkredit.

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