Die Kulturkommission und die Gemeindebibliothek präsentieren ein Projekt, welches die Bevölkerung zur kollektiven Teilnahme bewegen soll: «Richti liest ein Buch». Begleitet wird das Vorhaben von einer spannenden Podiumsdiskussion, einer Autorinnenlesung und der Möglichkeit, im Rahmen des Shared Readings über das Buch zu diskutieren. Das sollte aber längst nicht alles sein …
Text & Bild: Reni Bircher
Natürlich soll nicht irgendein Buch gelesen werden, sondern das erfolgreiche Erstlingswerk der Schweizer Autorin Rebekka Salm, mit dem Titel «Die Dinge beim Namen». Der Roman ist in einem Schweizer Dorf angesiedelt, überschaubar, nicht hübscher oder hässlicher als andere, austauschbar und doch Heimat. Es geht um ein Ereignis, welches auf unterschiedliche Weise von direkt Beteiligten sowie den Dorfbewohnern wahrgenommen wird. Gleichzeitig wird vertuscht, schöngeredet, hinzugefügt und weggelassen, totgeschwiegen. Doch einer der Dorfbewohner, der schreibt penibel alles auf … doch zu welchem Zweck? Fungiert er als eine Art Dorfgedächtnis? Oder steckt ein perfider Plan dahinter, den niemand erahnen kann?
Der bekannte Autor Alex Capus umschreibt den Roman mit «Schuld und Sühne auf dem Dorfe» und rühmt Salm als neue Schweizer Geschichtenerzählerin. Nun hofft das Gremium dieses neusten dorfumfassenden Kulturprojektes auf ganz viele Leserinnen und Leser, welche sich diesem Urteil anschliessen möchten.
Das Projekt wurde von Susanna Ricklin, Leiterin der Gemeindebibliothek, sowie Claudia Rossel und Hansjakob Schneider von der Kulturkommission, ins Leben gerufen. In einem Interview erklären sie, was hinter «Richti liest ein Buch» steckt:
Susanna, wie bist Du auf die Idee gekommen, das Dorf zur Lesung desselben Buches zu motivieren?
Susanna: Ich habe vor ein paar Jahren zum ersten Mal von diesem kollektiven Leseerlebnis gehört und war sofort fasziniert von der Idee, Menschen über die Lektüre ein und desselben Buches und an verschiedenen Veranstaltungen dazu in ein literarisches Gespräch zu führen. In meiner Tätigkeit als Moderatorin von Shared Reading (shared-reading.org) war ich 2020 an einem solchen Anlass in Frauenfeld, ein Jahr später nahm ich an einem traumhaften Gartenfest anlässlich von «Zürich liest ein Buch» teil. Die Autorin Ulrike Ulrich hat persönlich gelesen und wurde der Handlung im Buch entsprechend musikalisch begleitet.
Da habe ich mir dann zum ersten Mal überlegt, ob das nicht auch eine tolle Idee wäre für Richterswil. Auch hier sollen möglichst viele Menschen ins Gespräch kommen und sich über Sprache, Gefühle und Geschichte begegnen.
Als Vertreterin der Gemeindebibliothek ist mir diese Art von Austausch natürlich ein grosses Anliegen. Meist liest man ein Buch alleine, taucht ein und verliert sich. Doch was geschieht, wenn ein ganzes Dorf denselben Roman liest? Kann Literatur in dieser Form Menschen zusammenbringen? Ein spannendes Projekt und eine Kulturveranstaltung der besonderen Art, die für Richterswil gerade im Zusammenhang mit dem zur Begegnungszone umgestalteten Dorfkern interessant sein wird.
Wie erklärst Du die Wahl des Buches, was war Dir dabei wichtig?
Susanna: Die Auswahl des Buches erschien mir tatsächlich das Schwierigste. Es sollte vor noch nicht allzu langer Zeit erschienen sein, interessant und aktuell vom Thema her, und auf möglichst viele Altersgruppen ansprechend wirken. Die Autorin oder der Autor sollte in der Schweiz wohnen, damit sie/er zu einer Veranstaltung eingeladen werden kann, und vielleicht auch noch nicht allzu bekannt, um ein neues Leseerlebnis vermitteln zu können. Da möglichst viele Menschen das Buch lesen sollen, durfte der Seitenumfang auch nicht allzu gross sein.
Als dann die Durchführung eines solchen Projekts dank der Kulturkommission konkret wurde, wusste ich sofort, dass es «Die Dinge beim Namen» sein soll. Die Geschichte der Schriftstellerin aus Olten erfüllte fast alle Vorgaben perfekt. In einem Dorf kennt man sich – aber redet man auch miteinander? Oder redet man übereinander? Auch das Thema überzeugt. Ein Glücksfall!
Die Kulturkommission hat die Idee begeistert aufgenommen und unterstützt das Projekt. Warum und wodurch?
Claudia: Susanna hatte mich auf das Leseprojekt «Ein Dorf liest das gleiche Buch» in Appenzell aufmerksam gemacht, das von SRF Kultur dokumentiert worden war. Ich schaute mir die Sendung an, fand die Idee originell und konnte mir vorstellen, dass dies auch in Richterswil realisierbar wäre. So trug ich die Idee in die Kulturkommission, wo man sofort angetan war.
Hansjakob: Die Kommission unterstützt einerseits Vereine und Kunstschaffende für Projekte in der Gemeinde. Andererseits initiiert sie auch eigene Projekte, wie etwa vor zwei Jahren einen Schreibwettbewerb. Kultur sollte auch verstanden werden als eine Kultur des Zusammenlebens und der Zusammengehörigkeit. Und diese wird mit dem Projekt «Richti liest ein Buch» durch das Teilen von Leseerfahrungen besonders gefördert.
Wie wollt Ihr die Bevölkerung dazu bewegen, sich dieser Lektüre anzunehmen?
Claudia: Durch viel Kommunikation und Motivation. Wir machen die Leute über Plakate, Flyer, Presse, Webseite und natürlich über die direkte Ansprache auf dieses Projekt aufmerksam. Mit unserer Präsenz am Frühlingsmarkt am 29. April hoffen wir, viele Leute direkt und persönlich ansprechen und motivieren zu können, an diesem Projekt mitzumachen.
Wir wollen dazu animieren, über die gemeinsame Lektüre miteinander ins Gespräch zu kommen, sich auszutauschen.
Hansjakob: Nebst den von Claudia erwähnten Möglichkeiten hilft vielleicht auch ein Button, den man tragen kann, und der anderen signalisiert, dass man das Buch auch liest. Der Button kann am Frühlingsmarkt bezogen werden und überall dort, wo es das Buch zu kaufen gibt oder aufliegt.
Schliesslich organisieren wir eine Lesung mit der Autorin und ein Podiumsgespräch zu einem der wichtigen Themen im Buch: «Miteinander reden – übereinander reden». Beteiligt sind Exponentinnen und Exponenten aus dem Dorf: Ein Pfarrer, ein Psychologe und eine Politikerin sowie als auswärtiges Podiumsmitglied eine Bäuerin mit Social-Media-Präsenz.
Wo kann sich die oder der Lesewillige das Buch besorgen?
Hansjakob: Das Buch kann bei der Papeterie Köhler gekauft werden. Die Gemeindebibliothek bietet einige Exemplare zur Ausleihe an. Einzelne Exemplare werden durch die Kulturkommission in ausgewählten Coiffeursalons und Fachgeschäften verteilt. Am 29. April 2023 gibt es das Buch auch direkt beim Stand der Kulturkommission am Frühlingsmarkt zu kaufen.
Dem Thema widmet sich auch die Podiumsdiskussion mit sehr unterschiedlichen Gastrednern: Wie fand diese Zusammensetzung statt?
Claudia: Wir nehmen das Projekt «Richti liest ein Buch» ja zum Anlass, im Vorfeld ein Podiumsgespräch durchzuführen, bei dem es um ein zentrales Thema des Buches geht, nämlich um die Kommunikation: miteinander zu reden (oder eben nicht), bzw. was ausgesprochen wird oder unausgesprochen bleibt. Übertragen auf die aktuelle Situation der digitalen Transformation und deren Auswirkung auf die heutige Kommunikation, ergibt sich eine Vielfalt von Betrachtungsweisen, die von den Podiumsteilnehmenden bezogen auf ihr Betätigungsfeld aufgegriffen werden können. Und so hat sich die Teilnahme der ausgewählten Gruppe wie aufgedrängt. Für sie alle ist die Kommunikation Alltag, ihre Betrachtungsweise sicher unterschiedlich gewichtet.
In Salms Buch geht es um das Verschweigen und Schönreden eines schwerwiegenden Ereignisses. Versteht Ihr das als ein menschliches «Versagen», ein Problem des dörflichen Lebens; ist das Verhalten nachvollziehbar?
Hansjakob: Das Ereignis, um das es geht, ist nicht absolut eindeutig. Vielmehr wird es von verschiedenen Beobachtern unterschiedlich gedeutet, dies gilt auch für die beiden direkt Beteiligten. Alle haben ihre eigene Version des Ereignisses konstruiert. Das macht eine Beurteilung sehr komplex und eine Verurteilung fast unmöglich. Der Roman verdeutlicht sehr gut, dass Dinge oft nicht einfach sind, sondern konstruiert und interpretiert werden.
Susanna: Ich erachte dieses Verhalten als menschlich. Letztendlich ist sich jeder selbst am nächsten und hat seine eigenen Wahrheiten, die auf einer persönlichen Geschichte beruhen. Wie viel Toleranz, Empathie und Wohlwollen man lebt, ist sehr individuell. Etwas anzusprechen und anzuklagen führt zu Unruhe und macht Probleme. Zitat im Buch: «Das Dorf braucht jemanden, der danach schaut, dass die Dinge in Ordnung bleiben. Und wenn die Dinge aus der Ordnung geraten sind, musste dieser Jemand dafür sorgen, dass sie wieder in Ordnung kamen. Das Glück oder Unglück eines Einzelnen war dabei von untergeordneter Bedeutung. … (Dieser Jemand) ermahnte ihn mit Nachdruck, sich still zu halten. So komme am Schnellsten alles wieder in Ordnung».
Ausgesprochenes, nicht Ausgesprochenes, Halbwahrheiten, Gerüchte – gerade in der heute stark digitalisierten Welt wird beleidigt, verleumdet und gehetzt. Was macht das mit Euch persönlich?
Claudia: Mich persönlich ärgert diese Entwicklung nicht nur als Leserin, Zuhörerin, Zuschauerin, sondern auch als Kommunikationsfachfrau. Diese Art der Kommunikation, mit viel Respektlosigkeit und Intoleranz, ist eine Entwicklung, die der Basis der Kommunikation – auf einer Vertrauensbasis offen, gezielt und ehrlich zu informieren – zuwiderläuft.
Susanna: Ich finde es generell sehr schwierig mit verschiedenen Wahrheiten und damit verbundenen Verleumdungen und Beleidigungen umzugehen. Sich immer wieder zu erklären und zu rechtfertigen wird nochmals schwieriger, wenn Anschuldigungen im Netz verbreitet wurden und so viel mehr Menschen erreichen, die nicht persönlich am Vorkommnis beteiligt waren. Meinungen entstehen dann aufgrund von Gerüchten und subjektiven Wahrheiten. Das kann zu unglaublichen Verletzungen führen und zu einer Ohnmachtssituation.
Hansjakob: Die Plattform des informellen Austauschs war früher hauptsächlich das Gespräch. Heutzutage wird es ergänzt und teilweise ersetzt durch speicher- und reproduzierbare Dokumente, z.B. schriftliche oder mündliche WhatsApp-Nachrichten. Dadurch wird vieles verbindlicher, und man ist stärker rechenschaftspflichtig, etwa, wenn man sich abfällig über eine Person oder ein Ereignis geäussert hat.
Das ist einerseits gut so, andererseits ist es schwierig, den Kontext, der sich in einem Gespräch durch Nachfragen und ein Hin und Her ergibt, ins Schriftliche zu übertragen, so dass sich die Gefahr von Missverständnissen verstärkt. Das in Gesprächen natürlicherweise interpretierbare Gefühlsempfinden wird versucht in Textnachrichten durch Emojis auszudrücken.
Aber was genau bedeutet etwa der lachende Smiley mit der Zunge im Mundwinkel? Wird jemand ausgelacht oder wird signalisiert, dass man etwas nicht ganz ernst meint? Ich überlege mir jedenfalls gut, an wen ich welche Art von Nachricht schicke.
Wie wichtig ist Euch die zwischenmenschliche Kommunikation?
Susanna: Wir Menschen sind soziale Wesen, die sich mitteilen und austauschen möchten. Deshalb ist der Wunsch und die Möglichkeit nach zwischenmenschlichen Kontakten ein Grundbedürfnis. Zu guter Kommunikation gehören aber auch das Zuhören und die Empathie für das Gegenüber. Dann trägt der verbale Austausch zum Wohlbefinden bei.
Deshalb ist unser vorrangiges Ziel, unser Wunsch, mit diesem Projekt gute Gespräche anzuregen. Miteinander lesen, um einem erweiterten Lesekreis anzugehören, verbindet. Der Austausch, das Offensein für andere Ansichten und das Mitteilen eigener Gefühle beflügelt. Dies ist in den Grundzügen das Prinzip von den seit Jahren so erfolgreichen Shared-Reading-Leserunden.
Hansjakob: Wenn zwischenmenschlich heissen soll, dass es in einem Kommunikationsereignis – sei es von Angesicht zu Angesicht oder per digitale Medien – um die beteiligten Menschen geht, um ihre Bedürfnisse, Ängste und Freuden, dann würde ich sagen, dass dies für die psychische Gesundheit und den sozialen Zusammenhalt das Nachhaltigste ist. Und das finde ich sehr wichtig. Muss ich wissen, was Prinz Harry öffentlich über seinen Bruder zu sagen hat? Nicht unbedingt. Sollte ich mit meinem eigenen Bruder besprechen, wie er sich fühlt, nachdem ihm seine Wohnung gekündigt worden ist? Schon, oder?
Claudia: Diese ist mir persönlich sehr wichtig. Ich stelle aber gerade auch im privaten Bereich immer wieder fest, dass das Zwischenmenschliche durch die fast zur Gewohnheit gewordene WhatsApp-Kommunikation leidet. Das bedaure ich sehr. Da lob ich mir dann doch mal ein persönliches Telefonat und noch besser ein direktes Treffen.
Wäre Euer vorrangiges Ziel, mit diesem Lese-Projekt das Miteinanderreden anzuregen?
Hansjakob: Auf jeden Fall! Und dass es ein Reden über ein gemeinsames Erlebnis ist, nämlich das Lesen des Buchs von Rebekka Salm, ist besonders interessant. Über wen hat man sich weswegen aufgeregt, wer ist einem sympathisch, wie hätte man in einer bestimmten Situation selber reagiert, ist einem schon Ähnliches passiert – dies ist Gesprächsstoff, der uns einander näherbringt. Und das ist für ein Dorf, das sich als Gemeinschaft und nicht einfach als Wohnort versteht, wichtig.
Eine Idee von Euch ist, dass sich Leute, die das Buch lesen oder schon gelesen haben, dies mit einem Button signalisieren können … man könnte dann also problemlos jemanden darauf ansprechen und über das Gelesene diskutieren?
Susanna: Mit dem Tragen eines Buttons signalisiert man seine Bereitschaft zu einem Gespräch. Und seine Zugehörigkeit zu einem Kreis, der allen offensteht. Dies fördert das Gemeinschafts- und das Wohlgefühl. Und fördert die Identifikation der Bewohner mit ihrem Dorf.
Claudia: Ja, wäre doch cool, wenn dadurch ein spontanes Gespräch ein Austausch entsteht. Das Buch bietet ja eine Vielzahl an verschiedenen Themen, die aufgegriffen werden könnten.
Hansjakob: Das hoffen wir und appellieren an die Einwohnerinnen und Einwohner von Richterswil und Samstagern, dass sie sich als Lesende outen und in Gespräche verwickeln lassen.
«Richti liest ein Buch»:
• «Kick-Off» am Frühlingsmarkt, 29. April
• Shared Reading, 16. Mai + 12. Juni, um 19.30 Uhr, Bibliothek Richterswil (Anmeldung erforderlich)
• Themenpodium: «Miteinander reden. Übereinander reden», 30. Mai, um 19.30 Uhr, Rosengartensaal
• Autorinnenlesung, 22. Juni, um 19.30 Uhr, Rosengartensaal
Die Kulturkommission und die Gemeindebibliothek präsentieren ein Projekt, welches die Bevölkerung zur kollektiven Teilnahme bewegen soll: «Richti liest ein Buch». Begleitet wird das Vorhaben von einer spannenden Podiumsdiskussion, einer Autorinnenlesung und der Möglichkeit, im Rahmen des Shared Readings über das Buch zu diskutieren. Das sollte aber längst nicht alles sein …
Text & Bild: Reni Bircher
Natürlich soll nicht irgendein Buch gelesen werden, sondern das erfolgreiche Erstlingswerk der Schweizer Autorin Rebekka Salm, mit dem Titel «Die Dinge beim Namen». Der Roman ist in einem Schweizer Dorf angesiedelt, überschaubar, nicht hübscher oder hässlicher als andere, austauschbar und doch Heimat. Es geht um ein Ereignis, welches auf unterschiedliche Weise von direkt Beteiligten sowie den Dorfbewohnern wahrgenommen wird. Gleichzeitig wird vertuscht, schöngeredet, hinzugefügt und weggelassen, totgeschwiegen. Doch einer der Dorfbewohner, der schreibt penibel alles auf … doch zu welchem Zweck? Fungiert er als eine Art Dorfgedächtnis? Oder steckt ein perfider Plan dahinter, den niemand erahnen kann?
Der bekannte Autor Alex Capus umschreibt den Roman mit «Schuld und Sühne auf dem Dorfe» und rühmt Salm als neue Schweizer Geschichtenerzählerin. Nun hofft das Gremium dieses neusten dorfumfassenden Kulturprojektes auf ganz viele Leserinnen und Leser, welche sich diesem Urteil anschliessen möchten.
Das Projekt wurde von Susanna Ricklin, Leiterin der Gemeindebibliothek, sowie Claudia Rossel und Hansjakob Schneider von der Kulturkommission, ins Leben gerufen. In einem Interview erklären sie, was hinter «Richti liest ein Buch» steckt:
Susanna, wie bist Du auf die Idee gekommen, das Dorf zur Lesung desselben Buches zu motivieren?
Susanna: Ich habe vor ein paar Jahren zum ersten Mal von diesem kollektiven Leseerlebnis gehört und war sofort fasziniert von der Idee, Menschen über die Lektüre ein und desselben Buches und an verschiedenen Veranstaltungen dazu in ein literarisches Gespräch zu führen. In meiner Tätigkeit als Moderatorin von Shared Reading (shared-reading.org) war ich 2020 an einem solchen Anlass in Frauenfeld, ein Jahr später nahm ich an einem traumhaften Gartenfest anlässlich von «Zürich liest ein Buch» teil. Die Autorin Ulrike Ulrich hat persönlich gelesen und wurde der Handlung im Buch entsprechend musikalisch begleitet.
Da habe ich mir dann zum ersten Mal überlegt, ob das nicht auch eine tolle Idee wäre für Richterswil. Auch hier sollen möglichst viele Menschen ins Gespräch kommen und sich über Sprache, Gefühle und Geschichte begegnen.
Als Vertreterin der Gemeindebibliothek ist mir diese Art von Austausch natürlich ein grosses Anliegen. Meist liest man ein Buch alleine, taucht ein und verliert sich. Doch was geschieht, wenn ein ganzes Dorf denselben Roman liest? Kann Literatur in dieser Form Menschen zusammenbringen? Ein spannendes Projekt und eine Kulturveranstaltung der besonderen Art, die für Richterswil gerade im Zusammenhang mit dem zur Begegnungszone umgestalteten Dorfkern interessant sein wird.
Wie erklärst Du die Wahl des Buches, was war Dir dabei wichtig?
Susanna: Die Auswahl des Buches erschien mir tatsächlich das Schwierigste. Es sollte vor noch nicht allzu langer Zeit erschienen sein, interessant und aktuell vom Thema her, und auf möglichst viele Altersgruppen ansprechend wirken. Die Autorin oder der Autor sollte in der Schweiz wohnen, damit sie/er zu einer Veranstaltung eingeladen werden kann, und vielleicht auch noch nicht allzu bekannt, um ein neues Leseerlebnis vermitteln zu können. Da möglichst viele Menschen das Buch lesen sollen, durfte der Seitenumfang auch nicht allzu gross sein.
Als dann die Durchführung eines solchen Projekts dank der Kulturkommission konkret wurde, wusste ich sofort, dass es «Die Dinge beim Namen» sein soll. Die Geschichte der Schriftstellerin aus Olten erfüllte fast alle Vorgaben perfekt. In einem Dorf kennt man sich – aber redet man auch miteinander? Oder redet man übereinander? Auch das Thema überzeugt. Ein Glücksfall!
Die Kulturkommission hat die Idee begeistert aufgenommen und unterstützt das Projekt. Warum und wodurch?
Claudia: Susanna hatte mich auf das Leseprojekt «Ein Dorf liest das gleiche Buch» in Appenzell aufmerksam gemacht, das von SRF Kultur dokumentiert worden war. Ich schaute mir die Sendung an, fand die Idee originell und konnte mir vorstellen, dass dies auch in Richterswil realisierbar wäre. So trug ich die Idee in die Kulturkommission, wo man sofort angetan war.
Hansjakob: Die Kommission unterstützt einerseits Vereine und Kunstschaffende für Projekte in der Gemeinde. Andererseits initiiert sie auch eigene Projekte, wie etwa vor zwei Jahren einen Schreibwettbewerb. Kultur sollte auch verstanden werden als eine Kultur des Zusammenlebens und der Zusammengehörigkeit. Und diese wird mit dem Projekt «Richti liest ein Buch» durch das Teilen von Leseerfahrungen besonders gefördert.
Wie wollt Ihr die Bevölkerung dazu bewegen, sich dieser Lektüre anzunehmen?
Claudia: Durch viel Kommunikation und Motivation. Wir machen die Leute über Plakate, Flyer, Presse, Webseite und natürlich über die direkte Ansprache auf dieses Projekt aufmerksam. Mit unserer Präsenz am Frühlingsmarkt am 29. April hoffen wir, viele Leute direkt und persönlich ansprechen und motivieren zu können, an diesem Projekt mitzumachen.
Wir wollen dazu animieren, über die gemeinsame Lektüre miteinander ins Gespräch zu kommen, sich auszutauschen.
Hansjakob: Nebst den von Claudia erwähnten Möglichkeiten hilft vielleicht auch ein Button, den man tragen kann, und der anderen signalisiert, dass man das Buch auch liest. Der Button kann am Frühlingsmarkt bezogen werden und überall dort, wo es das Buch zu kaufen gibt oder aufliegt.
Schliesslich organisieren wir eine Lesung mit der Autorin und ein Podiumsgespräch zu einem der wichtigen Themen im Buch: «Miteinander reden – übereinander reden». Beteiligt sind Exponentinnen und Exponenten aus dem Dorf: Ein Pfarrer, ein Psychologe und eine Politikerin sowie als auswärtiges Podiumsmitglied eine Bäuerin mit Social-Media-Präsenz.
Wo kann sich die oder der Lesewillige das Buch besorgen?
Hansjakob: Das Buch kann bei der Papeterie Köhler gekauft werden. Die Gemeindebibliothek bietet einige Exemplare zur Ausleihe an. Einzelne Exemplare werden durch die Kulturkommission in ausgewählten Coiffeursalons und Fachgeschäften verteilt. Am 29. April 2023 gibt es das Buch auch direkt beim Stand der Kulturkommission am Frühlingsmarkt zu kaufen.
Dem Thema widmet sich auch die Podiumsdiskussion mit sehr unterschiedlichen Gastrednern: Wie fand diese Zusammensetzung statt?
Claudia: Wir nehmen das Projekt «Richti liest ein Buch» ja zum Anlass, im Vorfeld ein Podiumsgespräch durchzuführen, bei dem es um ein zentrales Thema des Buches geht, nämlich um die Kommunikation: miteinander zu reden (oder eben nicht), bzw. was ausgesprochen wird oder unausgesprochen bleibt. Übertragen auf die aktuelle Situation der digitalen Transformation und deren Auswirkung auf die heutige Kommunikation, ergibt sich eine Vielfalt von Betrachtungsweisen, die von den Podiumsteilnehmenden bezogen auf ihr Betätigungsfeld aufgegriffen werden können. Und so hat sich die Teilnahme der ausgewählten Gruppe wie aufgedrängt. Für sie alle ist die Kommunikation Alltag, ihre Betrachtungsweise sicher unterschiedlich gewichtet.
In Salms Buch geht es um das Verschweigen und Schönreden eines schwerwiegenden Ereignisses. Versteht Ihr das als ein menschliches «Versagen», ein Problem des dörflichen Lebens; ist das Verhalten nachvollziehbar?
Hansjakob: Das Ereignis, um das es geht, ist nicht absolut eindeutig. Vielmehr wird es von verschiedenen Beobachtern unterschiedlich gedeutet, dies gilt auch für die beiden direkt Beteiligten. Alle haben ihre eigene Version des Ereignisses konstruiert. Das macht eine Beurteilung sehr komplex und eine Verurteilung fast unmöglich. Der Roman verdeutlicht sehr gut, dass Dinge oft nicht einfach sind, sondern konstruiert und interpretiert werden.
Susanna: Ich erachte dieses Verhalten als menschlich. Letztendlich ist sich jeder selbst am nächsten und hat seine eigenen Wahrheiten, die auf einer persönlichen Geschichte beruhen. Wie viel Toleranz, Empathie und Wohlwollen man lebt, ist sehr individuell. Etwas anzusprechen und anzuklagen führt zu Unruhe und macht Probleme. Zitat im Buch: «Das Dorf braucht jemanden, der danach schaut, dass die Dinge in Ordnung bleiben. Und wenn die Dinge aus der Ordnung geraten sind, musste dieser Jemand dafür sorgen, dass sie wieder in Ordnung kamen. Das Glück oder Unglück eines Einzelnen war dabei von untergeordneter Bedeutung. … (Dieser Jemand) ermahnte ihn mit Nachdruck, sich still zu halten. So komme am Schnellsten alles wieder in Ordnung».
Ausgesprochenes, nicht Ausgesprochenes, Halbwahrheiten, Gerüchte – gerade in der heute stark digitalisierten Welt wird beleidigt, verleumdet und gehetzt. Was macht das mit Euch persönlich?
Claudia: Mich persönlich ärgert diese Entwicklung nicht nur als Leserin, Zuhörerin, Zuschauerin, sondern auch als Kommunikationsfachfrau. Diese Art der Kommunikation, mit viel Respektlosigkeit und Intoleranz, ist eine Entwicklung, die der Basis der Kommunikation – auf einer Vertrauensbasis offen, gezielt und ehrlich zu informieren – zuwiderläuft.
Susanna: Ich finde es generell sehr schwierig mit verschiedenen Wahrheiten und damit verbundenen Verleumdungen und Beleidigungen umzugehen. Sich immer wieder zu erklären und zu rechtfertigen wird nochmals schwieriger, wenn Anschuldigungen im Netz verbreitet wurden und so viel mehr Menschen erreichen, die nicht persönlich am Vorkommnis beteiligt waren. Meinungen entstehen dann aufgrund von Gerüchten und subjektiven Wahrheiten. Das kann zu unglaublichen Verletzungen führen und zu einer Ohnmachtssituation.
Hansjakob: Die Plattform des informellen Austauschs war früher hauptsächlich das Gespräch. Heutzutage wird es ergänzt und teilweise ersetzt durch speicher- und reproduzierbare Dokumente, z.B. schriftliche oder mündliche WhatsApp-Nachrichten. Dadurch wird vieles verbindlicher, und man ist stärker rechenschaftspflichtig, etwa, wenn man sich abfällig über eine Person oder ein Ereignis geäussert hat.
Das ist einerseits gut so, andererseits ist es schwierig, den Kontext, der sich in einem Gespräch durch Nachfragen und ein Hin und Her ergibt, ins Schriftliche zu übertragen, so dass sich die Gefahr von Missverständnissen verstärkt. Das in Gesprächen natürlicherweise interpretierbare Gefühlsempfinden wird versucht in Textnachrichten durch Emojis auszudrücken.
Aber was genau bedeutet etwa der lachende Smiley mit der Zunge im Mundwinkel? Wird jemand ausgelacht oder wird signalisiert, dass man etwas nicht ganz ernst meint? Ich überlege mir jedenfalls gut, an wen ich welche Art von Nachricht schicke.
Wie wichtig ist Euch die zwischenmenschliche Kommunikation?
Susanna: Wir Menschen sind soziale Wesen, die sich mitteilen und austauschen möchten. Deshalb ist der Wunsch und die Möglichkeit nach zwischenmenschlichen Kontakten ein Grundbedürfnis. Zu guter Kommunikation gehören aber auch das Zuhören und die Empathie für das Gegenüber. Dann trägt der verbale Austausch zum Wohlbefinden bei.
Deshalb ist unser vorrangiges Ziel, unser Wunsch, mit diesem Projekt gute Gespräche anzuregen. Miteinander lesen, um einem erweiterten Lesekreis anzugehören, verbindet. Der Austausch, das Offensein für andere Ansichten und das Mitteilen eigener Gefühle beflügelt. Dies ist in den Grundzügen das Prinzip von den seit Jahren so erfolgreichen Shared-Reading-Leserunden.
Hansjakob: Wenn zwischenmenschlich heissen soll, dass es in einem Kommunikationsereignis – sei es von Angesicht zu Angesicht oder per digitale Medien – um die beteiligten Menschen geht, um ihre Bedürfnisse, Ängste und Freuden, dann würde ich sagen, dass dies für die psychische Gesundheit und den sozialen Zusammenhalt das Nachhaltigste ist. Und das finde ich sehr wichtig. Muss ich wissen, was Prinz Harry öffentlich über seinen Bruder zu sagen hat? Nicht unbedingt. Sollte ich mit meinem eigenen Bruder besprechen, wie er sich fühlt, nachdem ihm seine Wohnung gekündigt worden ist? Schon, oder?
Claudia: Diese ist mir persönlich sehr wichtig. Ich stelle aber gerade auch im privaten Bereich immer wieder fest, dass das Zwischenmenschliche durch die fast zur Gewohnheit gewordene WhatsApp-Kommunikation leidet. Das bedaure ich sehr. Da lob ich mir dann doch mal ein persönliches Telefonat und noch besser ein direktes Treffen.
Wäre Euer vorrangiges Ziel, mit diesem Lese-Projekt das Miteinanderreden anzuregen?
Hansjakob: Auf jeden Fall! Und dass es ein Reden über ein gemeinsames Erlebnis ist, nämlich das Lesen des Buchs von Rebekka Salm, ist besonders interessant. Über wen hat man sich weswegen aufgeregt, wer ist einem sympathisch, wie hätte man in einer bestimmten Situation selber reagiert, ist einem schon Ähnliches passiert – dies ist Gesprächsstoff, der uns einander näherbringt. Und das ist für ein Dorf, das sich als Gemeinschaft und nicht einfach als Wohnort versteht, wichtig.
Eine Idee von Euch ist, dass sich Leute, die das Buch lesen oder schon gelesen haben, dies mit einem Button signalisieren können … man könnte dann also problemlos jemanden darauf ansprechen und über das Gelesene diskutieren?
Susanna: Mit dem Tragen eines Buttons signalisiert man seine Bereitschaft zu einem Gespräch. Und seine Zugehörigkeit zu einem Kreis, der allen offensteht. Dies fördert das Gemeinschafts- und das Wohlgefühl. Und fördert die Identifikation der Bewohner mit ihrem Dorf.
Claudia: Ja, wäre doch cool, wenn dadurch ein spontanes Gespräch ein Austausch entsteht. Das Buch bietet ja eine Vielzahl an verschiedenen Themen, die aufgegriffen werden könnten.
Hansjakob: Das hoffen wir und appellieren an die Einwohnerinnen und Einwohner von Richterswil und Samstagern, dass sie sich als Lesende outen und in Gespräche verwickeln lassen.
«Richti liest ein Buch»:
• «Kick-Off» am Frühlingsmarkt, 29. April
• Shared Reading, 16. Mai + 12. Juni, um 19.30 Uhr, Bibliothek Richterswil (Anmeldung erforderlich)
• Themenpodium: «Miteinander reden. Übereinander reden», 30. Mai, um 19.30 Uhr, Rosengartensaal
• Autorinnenlesung, 22. Juni, um 19.30 Uhr, Rosengartensaal