Wädenswil

Pflegeeltern gesucht!

Im Bezirk Horgen gibt es kaum Pflegeeltern. Die Schönenbergerin Viviane Hürzeler ist Sozialpädagogin und arbeitet für die Institution Sofa AG. Sie sucht Eltern, die einem Kind oder Jugendlichen eine Chance auf ein besseres Leben geben möchten.

Text & Bilder: Ingrid Eva Liedtke

Kinder oder Jugendliche, die in ihrer Herkunftsfamilie keine angemessenen Umstände haben, um gesund und wohlbehalten aufzuwachsen, sollten fremdplatziert werden. Jedes dieser Kinder hat eine oft traumatische Geschichte mit seiner Familie. Die Gründe dafür sind vielfältig, gehen von psychischen Erkrankungen über Suchtproblematik bis zu Gewalt (physische, psychische, sexuelle) und Vernachlässigung.

Wie läuft eine Platzierung ab?

Viviane Hürzeler beschreibt es so: «Oft wird eine Meldung an die KESB gemacht. Diese kann von der Schule ausgehen, wenn zum Beispiel ein Kind sehr ungepflegt ist, verängstigt ist oder die Aufgaben nie macht – möglicherweise auch alles zusammen. Zuerst wird natürlich das Gespräch mit den Eltern gesucht. Wenn das nicht hilft, dann wird eine Gefährdungsmeldung gemacht. Es kommt auch vor, dass sich Eltern selbst melden, weil sie überfordert sind. Eine Platzierung in einer Pflegefamilie kann auch schon kurz nach der Geburt vorgenommen werden, wenn man merkt, dass die Mutter sich nicht angemessen um das Kind kümmern kann.»
Wie das Verfahren der Platzierung eines Kindes abläuft, erläutert sie folgendermassen: «Der Beistand bekommt den Auftrag von der KESB oder vom AJB (im Kanton Zürich gibt es ein neues Kinder- und Jugendhilfegesetz. Platzierungen laufen seither über das Amt für Jugend- und Berufsberatung AJB, nicht mehr über das Sozialamt), ein Kind zu platzieren und muss die Modalitäten abklären. Dann gelangt er an uns oder eine andere Organisation, die Pflegefamilien vermittelt. Wenn wir eine Familie gefunden haben, wird vom Beistand beim Kanton ein Antrag zur Finanzierung gestellt, das heisst ein Tagesansatz für die Familie inklusive Begleitung durch die Organisation. Es gibt noch Nebenkosten- und Verpflegungsbeiträge für die Familie, die von den Herkunftsfamilien bezahlt werden müssen. Wenn diese es nicht können, wird beim Sozialdienst eine Unterstützung beantragt. Die Kosten steigen mit zunehmendem Alter des Kindes.»
Viele Eltern können ihre Not nicht wahrnehmen, wollen sie vielleicht nicht wahrhaben und haben Angst ihre Kinder zu verlieren. Dies zu erkennen und die Situation richtig einzuschätzen ist eine grosse Herausforderung. Das Kind soll immer im Brennpunkt aller Entscheidungen bleiben.

Die Kinder sind meistens sehr loyal

Von aussen betrachtet neigt man dazu anzunehmen, jedes Kind sei froh, dem Trauma zu entkommen und in einer «neuen» Familie seinen Frieden zu finden. Doch es ist bekannt, dass Kinder ihren Eltern gegenüber sehr loyal sind und in den meisten Fällen nicht fremdplatziert werden wollen. Dazu Hürzeler: «Kinder sind immer in einem Loyalitätskonflikt. Die meisten wollen ihre Eltern regelmässig sehen und wollen auch zu ihnen zurück. Das sind dann auch grosse Herausforderungen für die Pflegefamilien. Aber es gibt tatsächlich auch Kinder, die ihre Eltern nicht mehr sehen wollen.»

Normalerweise wird der Kontakt zu den Eltern regelmässig möglich gemacht. Manche Kinder besuchen die Eltern oder diese unternehmen mit dem Kind etwas. Es könne auch vorkommen, dass Kinder ab und zu zuhause übernachteten. Besuche bei schwierigen Verhältnissen würden begleitet und moderiert werden. Der spezifische Fall werde immer angeschaut und dementsprechend gehandelt. Es gibt folglich verschiedene Arten von Platzierungen: Dauerplatzierungen, Kurzzeitplatzierungen, Notfallplatzierungen, Entlastungsplatzierungen (z.B. nur 3 Tage die Woche), Ferienplatzierungen, Wochenendplatzierungen.
Wie wird man Pflegefamilie?

Zur Pflegefamilie, respektive Pflegeeltern, wird man erst nach reichlicher Prüfung. Man befasst sich selbst wohl schon länger mit dem Gedanken, ein Kind aufzunehmen, dem man eine stabile Lebenssituation und ein warmes Familienklima in einem gefestigten Umfeld ermöglichen möchte. Dabei gilt es gewisse Voraussetzungen zu erfüllen: Man benötigt einen einwandfreien Leumund und lebt schon seit einem halben Jahr am aktuellen Wohnort. Ein Kind braucht Platz, ein eigenes Zimmer in einer Wohnung oder einem Haus. Auch alleinerziehende Personen oder gleichgeschlechtliche Paare können Pflegepersonen werden. Um Pflegekinder zu betreuen braucht man Zeit und eine gute psychische und physische Konstitution.
Weitere Werte sind: Politische und konfessionelle Neutralität sowie ein soziales, tolerantes und weltoffenes Wertesystem, ein grosses Einfühlungsvermögen und das Vermögen, in schwierigen Situationen fachliche Unterstützung anzunehmen. Eine hohe Reflexions- und Kommunikationsfähigkeit ist sehr wichtig.
Die Institutionen, wie «Sofa», brauchen Transparenz. So müssen Pflegeeltern bereit sein, Einsicht in das eigene Familienleben und ihr Erziehungsverhalten zu gewähren. Ihre Rolle als Pflegeeltern muss klar sein und sie müssen sich bereit erklären, eng mit der Begleitorganisation zusammenzuarbeiten.

Im Gespräch mit der Pflegefamilie

Im Gespräch mit einer Pflegefamilie wird der Sinn und Nutzen davon schnell klar. Andy Maey, 58, drückt es so aus: «Auch wenn die schon zum dritten Mal in unserem Garten stehen und nochmals wissen wollen, wie es läuft, muss man das akzeptieren, denn es ist gut, dass alles geprüft wird.» Er nimmt es locker, lacht. Raphaella Maey ergänzt: «Man muss bereit sein, die Hosen runterzulassen und Auskunft zu geben. Man wird im Gegenzug auch gut begleitet und unterstützt.» Viviane Hürzeler bestätigt: «Man wird irgendwie zur öffentlichen Person.»
Raphaella, 41, und Andi Maey, 58, wohnen in Balterswil TG, in einem grossen Haus mit viel Platz. Sie haben vier leibliche Kinder, Mädchen im Alter von 24, 20, 18 und 8 Jahren. Nur die Jüngste lebt noch zuhause. Momentan haben die Maeys vier Pflegekinder im Alter von 17, 16, 15, und 3 Jahren, plus einmal im Monat eine Wochenendentlastung. Zwei der Jugendlichen sind Flüchtlinge aus Afghanistan. Sie werden bei den Maeys bleiben, bis sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Eine Jugendliche bleibt für ein Jahr in der Familie. Sie war umplatziert worden. Im Sommer wird sie in der Nähe ihrer Eltern ihre Lehrstelle antreten und dann ziemlich sicher wieder zuhause wohnen. Dann ist da noch ein kleines Mädchen in einer Entlastungplatzierung, es lebt von Dienstag bis Samstag bei den Maeys und ist übers Wochenende zuhause.
Das sind vier bis fünf Pflegekinder, die bei Maeys leben, die eigene Tochter, deren Bedürfnisse unbedingt wichtig sind und da ist auch noch ein grosser Hund. «Man darf halt nicht alles so eng sehen», sagt Raphaella. Sie ist im Haushalt Maey die Vollzeitmutter. Andi leitet in einem 100%-Pensum eine Produktionsküche einer ausserschulischen Betreuung.

Wie kam es?

Andi ist ein hemdsärmliger Typ, einer, der seine Aussagen meistens mit einem humorvollen Spruch würzt. Humor hilft immer! Man kann sich auch vorstellen, dass er ab und zu auf den Tisch haut, wenn ihm etwas nicht in den Kram passt. Aber es scheint, als sei bei Maeys vieles möglich und das meiste irgendwie zu meistern.
«Unsere Spannweite, wen und wie viele Kinder wir aufnehmen, ist sehr gross. Ursprünglich planten wir, eine Weltreise zu machen, wenn die Kinder erwachsen sind. Diese Pläne wurden aber durch Ronja, unsere Nachzüglerin, durchkreuzt. ‹Dann brauchen wir doch unsere Energien für Kinder, die nicht optimale Bedingungen zum Aufwachsen haben!› war die Schlussfolgerung.»
Raphaella wirkt eher sanft, zurückhaltend und doch sehr bestimmt in ihren Aussagen: «Ich bin mit vielen Geschwistern aufgewachsen und wollte immer viele Kinder um mich haben. Ich mag den Betrieb. Auch in meiner Ursprungsfamilie gab es Pflegekinder, und Andi konnte sich das auch immer vorstellen. Wir hätten auch ein behindertes Kind aufgenommen. Ich habe eine Schwester mit Trisomie 21 und habe früher in einer Institution mit psychisch und geistig Beeinträchtigten gearbeitet.»

Maeys sind nun schon seit 10 Jahren Pflegefamilie. In diesen Jahren sind viele Kinder durch die Familie geraschelt, wie es Andi Maey ausdrückt.
Viviane Hürzeler fügt an: «Die Maeys sind sehr offen und immer bereit sich auf sehr vieles, ja praktisch alles, einzulassen.»

Gibt es etwas, was nicht geht?

«Das ist sehr schwierig zu beantworten», sagt Andi. Beide denken angestrengt nach. «Vielleicht, wenn die Familienhierarchie durcheinandergewirbelt würde, wenn es sich zeigt, dass ein Kind eine Eins-zu-Eins-Betreuung braucht, dann leiden die anderen Kinder. Wir hatten schon mal einen Abbruch, weil das eigene Kind gelitten hat. Das geht dann gar nicht. Wir nehmen anfangs möglichst viele Infos entgegen und entscheiden dann aus dem Bauch heraus. Wir lehnen eigentlich nichts ab, ausser es geht vom Haus her nicht. Am wichtigsten ist die bestehende Gruppe. Die Mitglieder müssen untereinander gut funktionieren. Momentan passt es sehr gut», antwortet Raphaella.

Um sich auf diese verantwortungsvolle Aufgabe vorzubereiten, gibt es für Pflegeeltern einen 2-jährigen Lehrgang an der Schule für Sozialbegleitung. «Eine gute Sache», sagt Andi, «das hat uns viel gebracht. Am meisten haben wir aber aus unserem eigenen Leben mitgebracht, auch die Erfahrungen mit den eigenen Teenies.»
Weil die meisten Kinder, die fremdplatziert werden, traumatisiert sind, muss individuell der richtige Umgang gefunden werden und Maeys bestätigen, dass man ein dickes Fell braucht. Für die eigenen Kinder, die das noch nicht kennen, könne es schwierig werden. «Da muss man viel erklären und zeigen. Die Grossen konnten sich immer gut abgrenzen. Sie wurden immer in Entscheidungen involviert. Wir hielten immer Familienrat. Die Kleinste ist jetzt auch hineingewachsen. Wir passen sehr gut auf sie auf.»

Wenn die Kinder gehen

Die Kinder, mit denen man sein Leben teilt, werden ein Teil der Familie, auch wenn es nicht die eigenen sind. Man sollte nie ganz vergessen, dass sie eines Tages gehen.
Raphaella sagt: «Je nach Situation ist es schon schlimm, wenn sie gehen.» Andi: «Man hat sie gern, sie gehören zur Familie, aber man muss wissen, dass sie gehen. Schlimm ist manchmal zu sehen, was nachher passiert, wenn sich die Verhältnisse in ihren Stammfamilien nicht wirklich gebessert haben. Leider werden sie oft zu früh rückplatziert. Das Elternrecht kommt vor dem Kinderrecht. Und wir sind dann hilflos. Aber es tröstet, dass wir für das Kind wenigstens eine Zeit lang da sein konnten.»
Andi und Raphaella sind sich ihrer Verantwortung sehr bewusst. Es ist ein soziales Engagement, ein Dienst an der Gesellschaft und im Speziellen am Kind, der Stütze unserer Gesellschaft, wie man so schön zu sagen pflegt.

Pflegefamilien sind sehr gesucht

Viviane Hürzeler von der Sofa AG sucht Familien im Bezirk Horgen, die einem Kind oder Jugendlichen ein gutes Zuhause geben möchten.
«Es gibt bisher kaum Pflegefamilien in der Region, auf jeden Fall keine, die bei uns angeschlossen sind. Wir würden uns sehr über Anfragen freuen, weil wir sehr viele Anfragen des Kinder- und Jugendhilfe-Zentrums Horgen haben, und es ist uns ein grosses Anliegen, für möglichst alle Kinder in solch ‹schwierigen› Umständen, bessere Verhältnisse schaffen zu können. Das heisst, einem Kind ein zweites Zuhause zu geben, einen wohlwollenden, akzeptierenden Rahmen, worin es sich gut entwickeln kann, bei Pflegeeltern, wo es möglichst unbeschadet aufwachsen kann. Ich hoffe, dass wir mit diesem Bericht das Bewusstsein dafür schaffen können, dass es dringend Pflegefamilien braucht, aber auch dafür, dass es möglich und machbar ist, und wir die Pflegeeltern dabei auch sehr gut begleiten.

Rahmenbedingungen und Begleitung

Pflegeeltern werden anfangs wöchentlich, anschliessend mindestens einmal pro Monat besucht. Gespräche und Besuche können je nach Situation alleine mit den Eltern, zusammen mit dem Pflegekind oder mit dem Pflegekind alleine stattfinden. Die Art, der Rhythmus und die Rahmenbedingungen des Kontakts werden in Zusammenarbeit mit der platzierenden Behörde geregelt und mit den Pflegepersonen besprochen und organisiert. Mindestens zweimal jährlich findet mit der platzierenden Behörde, den Eltern, mit der Pflegefamilie und der Sofa-Bezugsperson ein Standortgespräch statt, um die Entwicklung und Förderung des Pflegekindes zu besprechen und neu zu planen.
Hürzeler: «Meistens wird ein Kind in ein bestehendes Familiensystem mit eigenen Kindern aufgenommen. Im Rahmen unseres Abklärungsverfahren haben sich die angehenden Pflegeeltern im Vorfeld schon viele Gedanken gemacht. Die meisten möchten einem Kind ein behütendes Umfeld bieten, weil sie Platz und Zeit haben. Sie wollen Gutes tun. Es gibt auch Menschen, die keine eigenen Kinder haben, aber gerne welche aufnehmen möchten, auch Geschwister, denn adoptieren ist extrem schwierig. Schon im Aufnahmeverfahren wird angesprochen, dass es emotional sehr schwierig sein kann, wenn die Kinder allenfalls wieder zurück zu ihren Eltern gehen.»

Am Anfang ist der Kontakt intensiv, wöchentlich. Das dient dem Aufbau der Beziehung in alle Richtungen. Es geht darum die Platzierung zu begleiten, auch pädagogische Fragen zu besprechen, auch darum den Kontakt mit dem Herkunftssystem aufrecht zu erhalten. Das reduziert sich mit der Zeit. An Wochenenden haben wir einen Pikettdienst. Wir sind immer erreichbar, wenn es schwierig ist.»

Die Frage, wie sehr man persönlich involviert ist in diesen intensiven Prozessen, drängt sich irgendwann auf. «Es ist manchmal ein langer Prozess, nur schon zu erkennen, dass eine Fremdplatzierung nötig ist. Manchmal gehen jahrelang Gefährdungsmeldungen ein. In Gesprächen mit den Eltern und mit anderen Unterstützungsmassnahmen, zum Beispiel Familienbegleitung oder Coaching, hofft man, die Sache in den Griff zu bekommen. Schliesslich greifen diese dann doch nicht. Da darf man sich nicht überlegen, wie viel Schaden das Kind schon genommen hat. Ich freue mich immer sehr zu sehen, wie Kinder in Pflegefamilien aufblühen und endlich bekommen, was sie brauchen, um gesund aufzuwachsen. Was ich schwierig finde ist, im Hinterkopf zu haben, was die Kinder schon erlebt haben, es auch hinzunehmen in der Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie, zu akzeptieren, dass daran nichts mehr zu ändern ist. Diese Schicksale sind für alle Involvierten eine grosse emotionale Belastung, aber wir tun ja wenigstens etwas, um den Kindern für die Zukunft zu helfen. Ausserdem ist es toll dann ihre Entwicklung zu sehen. Zusammengefasst ist es einfach schön, dass wir etwas bewirken können.»
Viviane Hürzeler hofft, dass sich viele Familien in der Region angesprochen fühlen und den Wunsch verspüren, Kindern einen guten Familienplatz zu bieten.

Viviane Hürzeler hofft, dass sich viele Familien in der Region angesprochen fühlen und den Wunsch verspüren, Kindern einen guten Familienplatz zu bieten.
Weitere Infos erhalten Sie unter www.sofa-ag.ch, info@sofa-ag.ch oder Tel. 056 210 38 10 (siehe Inserat in dieser Zeitung).

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