Kolumne Wädenswil

Seesicht mit Verfalldatum: Guckloch zum See auf Zeit

Seesicht: Alle wollen sie haben und leicht kann sie einem genommen werden, denn verdichtetes Bauen ist angesagt. Ein Erfahrungsbericht.

Text & Bild: E. Magdalena Preisig

Meine Seesicht vom Küchenfenster war nicht der Rede wert. Doch letztes Jahr im März erweiterte sich mein Gucklöchlein zum See zu einem Guckloch. Je mehr sich der Baggerzahn in das Haus zwei Strassen weiter vorn frisst, desto grösser wird meine Seesicht und bleibt doch bescheiden klein: Wenn ich den Arm ausstrecke und den Daumen hochhalte, hat meine Seesicht die Grösse meines Daumennagels. Immerhin, denn das kleinste Eckchen ist erwähnenswert, das wissen die Wohnungsvermieter und die Immobilienhändler, die See- wie auch Bergsicht entsprechend hervorstreichen – und sie hat ihren Preis.

Beobachten

Ich freue mich über die neu gewonnene Sicht und ich fange an, den See zu beobachten, wie meine Freundin, die mit leuchtenden Augen von ihrer ausgedehnten Seesicht schwärmt: «Ich geniesse die wechselnden Stimmungen und könnte stundenlang schauen!» Tatsächlich schimmert das Wasser in unzähligen Farbnuancen, im letzten Sommer sehr oft blau, weil er den blauen Himmel widerspiegeln konnte, gräulich bei Regenwetter und grünlich, wenn Wind aufkommt. Und immer ist die Wasseroberfläche in Bewegung, ein faszinierendes Wellenspiel, das Formen in die Seefläche zeichnet. Ich erkenne, ob der See glatt oder rau ist. Wenn ich weisse Wellenkrönchen erkenne, gehe ich gar nicht zum Schwimmen hinunter zum See, knurre höchsten: Diese lästige Bise!

Momente festhalten

Natürlich mache ich auch mit beim Trend, ergreifende Momente für die Ewigkeit festzuhalten. Etwa die Sonnenaufgänge in der Mitte des Sommers, wenn die Sonne wie ein Feuerball über der Krete des Pfannenstilausläufers aufsteigt. Klar wollte ich auch Schiffe fotografieren. Etwa das Shuttle nach Männedorf. Nach der Abfahrtminute vier hielt ich mich bereit: Handy mit aufgezogenem Telebereich, für ein wackelfreies Bild angelehnt an mein geöffnetes Küchenfenster. Sobald das Schiff in meinem Seeausschnitt sichtbar wurde, begann ich zu drücken und reihte Foto an Foto. Das musste fix gehen, denn ich hatte nur fünf Sekunden Zeit, dann war das Schiff wieder aus der Szene gefahren. Ich genoss die Seesicht, doch Ende April verhiess der Kran, dass meine Seesicht in Verfalldatum hat. Einen Monat später ragte erst eine einsame Gerüststange in mein Guckloch. Doch im Herbst geht’s zügig vorwärts. Immer wenn die meterlangen Elemente am Kran hangeln, wächst der Bau, und es geht vorwärts mit dem Zupflastern meiner Seesicht. Eisenarmierter Beton stoppt meinen Blick, ein Stockwerk und noch eins. Ab morgens um 7 Uhr klopfen und hämmern die Arbeiter, bis in der dunklen Winterszeit.

Nicht nur Häuser

Doch nicht nur das entstehende Haus raubt mir die Sicht, auch die Zweige des Baumes, der im Garten des unmittelbaren Nachbarn steht. Das Grün wächst und breitet sich aus. Mit dem Schnee im Winter werden die Zweige schwerer und schmälern meine Sicht noch mehr. Soll ich mir diesen Baum, ein gutes Stück Natur, wegwünschen? Oh nein, das wünsche ich mir auch nicht in den dunklen Tagen vor Weihnachten, als es Tatsache wird: Kein Quäntchen Seesicht mehr.

Nicht für alle

Oft denken Bekannte, weil ich in Wädenswil wohne, hätte ich automatisch Seesicht. Mit der verdichteten Bauweise ist das allgemein immer weniger wahrscheinlich, denn wenn ein Haus ersetzt wird, ist es breiter und höher als vorher. Das ist der Preis für die optimale Ausnützung des Baugrunds. In einer neuen Überbauung in Wädenswil gewähren die findigen Architekten den Leuten in den hinteren Häusern Durchsicht durch die grossen Fensterfronten des Wohnzimmers der vorderen Häuser. Das findet eine der Bewohnerinnen toll: «Immerhin das!» Doch relativiert sich die Seesicht, denn eine Bekannte mit umfassender See- und Bergsicht sagt: «Es ersetzt nicht den Besuch eines lieben Menschen!» Auch ich verschmerze das verlorene Guckloch zum See, denn mir bleibt die Sicht auf den jenseitigen Uferhang mit dem Weinberg der Stäfner Sternhalde. Im Weiteren geniesse ich nach wie vor alle Vorteile von Wädenswil, auch die Sonnenaufgänge im Sommer bleiben mir, — wenigstens solange kein Hochhaus mir die Sicht verdeckt. n

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