Für die Historikerin aus Wädenswil sind fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ein Schwerpunktthema, ja vielleicht könnte man sagen, ein Lebensthema, geworden. Seit Jahren forscht sie auf diesem Gebiet, führt mit betroffenen Menschen Interviews und gibt dem Schrecken eine menschliche Stimme.
Text: Ingrid Eva Liedtke, Bild: zvg
Seit sich Menschen zu Gemeinschaften zusammengeschlossen haben, werden solche, die sich nicht regelkonform verhalten oder besondere Hilfe benötigen, ausgestossen. Vielleicht ist dies ein Urinstinkt, einst notwendig zum Erhalt und Schutz der Sippe. Möglicherweise ist es auch nur die dunkle Seite des Menschen, die dieses düstere Kapitel der Menschheit schrieb. Man kann sagen, dass je umfassender die menschliche Vorstellung davon wurde, wie eine Gesellschaft zu sein und zu funktionieren hatte, es immer mehr Individuen und Gruppen gab, die diesem Bild nicht entsprachen und die man irgendwie loswerden oder umformen wollte.
Meistens betraf dies Menschen, die arm waren, die wenig Bildung hatten, die sich, wie schon erwähnt, nicht «der Norm entsprechend» verhielten oder gar einer «unpassenden» Ethnie oder Glaubensgruppe angehörten.
Klar ist uns heute, dass diese Menschen vielmehr den Schutz, das Mitgefühl und oft auch die Hilfe und Unterstützung der Gesellschaft benötigten.
Jahrelange Forschung
Dr. Loretta Seglias, Historikerin aus Wädenswil, hat jahrelang auf dem Gebiet der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen geforscht, hat unzählige Interviews mit Betroffenen geführt. Sie hat den Betroffenen dieser systematischen Diskriminierung und oft unmenschlicher Massnahmen, den Menschen, deren Individualität missachtet und getreten wurde und die durch jahrelangen Missbrauch oft lebenslange Traumata mittragen müssen, eine Stimme gegeben.
Persönliche Daten
Dr. Loretta Seglias ist 1975 geboren und in Uerikon aufgewachsen. Sie hat dort die Primarschule und in Stäfa die Sekundarschule besucht. Sie machte die Matura an der Kantonsschule Küsnacht. Dann studierte sie Geschichte an der Universität Zürich. Ihr Lizenziat machte sie zum Thema «Schwabengänger», woraus ein Buch entstanden ist.
Loretta Seglias hat zwei Kinder im Teenageralter und arbeitet als selbstständige Historikerin. Mit 38 Jahren hat sie promoviert. Das Thema hat sie nicht mehr losgelassen. Auch aus ihrer Doktorarbeit «Geprägt fürs Leben», die sie zusammen mit Marco Leuenberger schrieb, wurde ein vielbeachtetes Buch.
Zentrale Fragestellung
Zentral für Seglias Forschung ist immer die Frage, warum es überhaupt zu diesen Missständen kommen konnte, welche Gegebenheiten solche Vorkommnisse begünstigten und welche Mechanismen spielten. Dieser sozialhistorische Ansatz soll ermöglichen, aus der Geschichte zu lernen, Missstände zu korrigieren und zukünftig zu verhindern.
«Es reicht nicht, Interviews mit Betroffenen zu führen und über diese oft erschreckenden Geschehnisse persönliche Betroffenheit zu zeigen», sagt Seglias, «als Historikerin kann ich mit einer gewissen Distanz den grösseren Kontext beschreiben. Eine zusätzliche Differenzierung geschieht da, wo man auch die institutionellen Stimmen einbezieht, die Aufschluss geben zu den gesellschaftlichen Motiven der damaligen Zeit.»
Seglias berücksichtigt in ihrer Forschung unterschiedliche Perspektiven. Sie spricht auch mit Personen aus der Pflege, mit Psychiaterinnen, Heimleitern, Sozialpädagogen, auch mit solchen, die in verantwortungsvollen Positionen waren. Immer geht es darum, Strukturen offenzulegen.
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierung als Schwerpunktthema
Loretta Seglias gehört zu den profundesten Kennerinnen des Themas.
Dabei stellt sich die Frage, warum sie sich, einem so aufwühlenden und schmerzbesetzten Thema, widmet. Geht es um eigene Betroffenheit?
Sie sagt: «Ich wusste von klein auf, dass je ein Elternteil meiner Grossväter früh gestorben ist und sie dann mit Fürsorgebehörden in Kontakt kamen. Die Familie des einen Grossvaters erhielt einen Vormund, nachdem der Vater gestorben war, doch die Familie blieb zusammen. Beim anderen Grossvater wurde die Familie auseinandergerissen und die Kinder überall verteilt. Armut war lange ein Thema in unserer Familie. Meine Grossmutter im Bündnerland erzählte ab und zu von den Kindern, die von zuhause wegmussten, ins Schwabenland, um zu arbeiten; dem wollte ich nachgehen und habe dazu meine Abschlussarbeit an der Uni Zürich geschrieben. Historisch haben mich schon immer einzelne Akteure interessiert, die vom Schicksal nicht Begünstigten, die, die nicht viel zu sagen hatten – Armut spielte dabei immer eine grosse Rolle – und die Frage: Wie geht man in ein solches Leben, wenn die Ressourcen so limitiert sind? Interessant fand ich auch die Fragestellung, wieso etwas so ist, wie es ist, welche Strukturen dem zugrunde liegen. Das ist wohl die Kernarbeit einer Historikerin.Ich bin zeitgeschichtlich und sozialgeschichtlich unterwegs».
Loretta Seglias Engagement ist gross und sie hat viel zu erzählen zum Thema «Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierung».
«Dieser schwierige Begriff versucht eine Klammer zu machen zu einer Sozialpolitik, die wir lange hatten, die versuchte, Lebensweisen, die nicht in die Norm passten, auch mit Zwang zu bekämpfen: Im 19. Jahrhundert versuchte man die Armut zu bekämpfen, denn sie brachte Elend und führte zu Auswanderung. Involviert waren viele private Organisationen. Es war ein Nebeneinander von staatlichen, privaten und kirchlichen Akteurinnen und Akteuren. Es herrschte das Subsidiaritäts-Prinzip, das bedeutet, dass die Gesellschaft Unterstützung zu leisten versucht, sich aber selber organisiert, bevor der Staat eingreifen muss. Die Kantone waren damals noch nicht so stark und das Armenwesen lastete auf den Gemeinden, die meistens wenig Geld hatten. Die Schweiz war lange ein Land, in dem viele Einwohnerinnen und Einwohner arm waren.
Unterstützen und disziplinieren
Die herrschenden Wert- und Normvorstellungen, die massgeblich waren, sind erst vor ein paar Jahrzehnten aufgebrochen. Für Frauen, die mittellos waren und ein Kind bekamen, ohne verheiratet zu sein, war die Gefahr gross, dass ihnen das Kind weggenommen wurde oder sie es, um arbeiten zu können, in Fremdpflege geben mussten. Man bedenke: Noch bis ins Jahr 1988 konnte der Ehemann darüber entscheiden, ob seine Frau arbeiten durfte.
Moralische Instanzen waren der Pfarrer, der Lehrer und der Bürgermeister. Dass die Frau zuhause ist und der Mann arbeitet, war aber in vielen armen Familien gar nicht möglich. Man lebte oft am Limit. Wenn irgend etwas schiefging, kam man schnell an die Grenze. Erst mit dem Ausbau der Sozialwerke wurde die Absicherung von Armutsrisiken, wie Alter oder Arbeitsunfähigkeit, für die Gesamtbevölkerung umgesetzt. Man darf schon erwähnen, dass es manchmal auch gut war ein Kind wegzunehmen». fügt Loretta Seglias an. «Wenn es zum Beispiel in der Familie misshandelt wurde. Nur leider kam es oft an einen Ort, wo es genau gleich weiterging oder noch schlimmer wurde. Die Massnahmen waren selten auf die Bedürfnisse der Betroffenen ausgerichtet. Das gesellschaftliche Stigma wog für viele schwer und wirkte mitunter ein Leben lang nach.»
Zuhören mit historischer Distanz
Loretta Seglias hat mit vielen Betroffenen Interviews geführt und doch immer die historische Distanz zu wahren versucht. Wird diese Haltung den Betroffenen, die ihren innersten Schmerz offenbaren, gerecht?
Loretta Seglias ist es wichtig keine falschen Hoffnungen zu wecken und will darum anfänglich die Rollen definieren. «Ich komme in Kontakt mit teilweise mehrfach traumatisierten Menschen, die erfahren, dass endlich jemand ihnen zuhört. Mit einigen Menschen, die ich interviewt habe, bin ich immer noch in Kontakt. Es gibt auch solche, mit denen ich jetzt zusammen an Projekten arbeite. Es ist wichtig, klar zu definieren, was ich kann und was nicht. Ich kann zuhören, nachfragen, Erfahrungen historisch einordnen und daraus dann sozialhistorische Schlussfolgerungen ziehen. Neben den schriftlichen, sind diese mündlichen Quellen sehr wichtig zur historischen Rekonstruktion. Was mir nicht möglich ist, ist als Anwältin zu fungieren. Ich habe auch kein psychologisches, kein therapeutisches Setting.»
Der Glaube an das Gute
Diese strukturellen Ungerechtigkeiten und das hohe Mass an Leid, das daraus entstanden ist, ist in der Rückschau nur schwer zu ertragen, und es erscheint unfassbar, dass Menschen fähig sind, anderen, ja gar Kindern, solches anzutun. Und doch hat Loretta Seglias ihren Glauben an das Gute im Menschen nicht verloren: «Ja, ich finde es furchtbar, wozu Menschen fähig sind. Aber es gibt immer auch wieder diese einzelnen Menschen, die etwas Gutes tun und damit einen wertvollen Beitrag leisten. Sie zeigen, wie man auch anders hätte handeln können. Sie machen Hoffnung. Das erlittene Trauma ist nicht heilbar, aber meine Arbeit hat mir gezeigt, dass und wie manche Menschen einen Weg finden, damit zu leben und eine grosse Widerstandsfähigkeit (Resilienz) aufweisen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass viele Menschen dies nicht schafften. Immer wieder begegneten mir Suizide während einer Fremdplatzierung oder administrativen Einweisung, etwa von Geschwistern meiner Interviewpartnerinnen und -partner oder von Kolleginnen und Kollegen. Nach der Entlassung war für fast alle der Übergang in ein autonomes Leben schwierig. Bis heute ist dies ein Thema, wie sich an der aktuellen Diskussion zu den sogenannten Careleavern zeigt. Es ist ein heikler Moment der Selbstfindung. Viele haben sich aber bewusst für das Leben entschieden.»
Was nimmt man mit aus all diesen Erfahrungen und Zeugnissen und wie können wir es besser machen? Wie begegnet Loretta Seglias ihren Kindern und den alten, tradierten Mustern aus ihrer Familie?
«Ich konnte beruflich und privat viel mitnehmen. Einerseits zum Verständnis struktureller Gewalt und Diskriminierung – in der Schweiz war es keinesfalls besser als anderswo. Andererseits erfüllt es mich mit Hochachtung zu sehen, wie stark manche Menschen sind. Gelernt habe ich auch, wie wichtig tragende Beziehungen sind, Klarheit, Transparenz und sich selbst sein zu können. Ich konnte persönlich daran wachsen.
Es ist aber eine Illusion zu meinen, wir würden alles besser machen. Man kann es nur probieren, versuchen den eigenen Kindern Wurzeln zu geben und die Möglichkeit, sich zu entwickeln, einen eigenen Weg zu finden, kritisch sein zu dürfen und nicht alles für bare Münzen zu nehmen.»
Wie wichtig ist die Forschung für die Zukunft?
«Ich denke, es ist essenziell gesellschaftliche Systematiken zu verstehen. Darauf können wir aufbauen und entscheiden, wie wir weitergehen wollen. Ich kann mit meiner Forschung dazu beitragen, dass das Thema gehört und diskutiert wird.
Daneben sind partizipative Ansätze für historische Themen ein interessanter Ansatz, der neue Fragestellungen und Umsetzungen mit sich bringen kann. Aktuell arbeite ich, zusammen mit MarieLies Birchler und Mario Delfino – sie sind beide Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen – am multimedialen Projekt «Gesichter der Erinnerung», das im Oktober veröffentlicht wird. Wir stellen Betroffene und ihr familiäres Umfeld in den Mittelpunkt und zeigen, was die Massnahmen beinhalteten, wie sie erlebt wurden, aber auch, wie sie fortgewirkt haben, zum Teil über Generationen und bis heute.»
Mit ihnen will Loretta Seglias weiterarbeiten. Sie sollen teilhaben und nun mitbestimmen können.
Für die Historikerin aus Wädenswil sind fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ein Schwerpunktthema, ja vielleicht könnte man sagen, ein Lebensthema, geworden. Seit Jahren forscht sie auf diesem Gebiet, führt mit betroffenen Menschen Interviews und gibt dem Schrecken eine menschliche Stimme.
Text: Ingrid Eva Liedtke, Bild: zvg
Seit sich Menschen zu Gemeinschaften zusammengeschlossen haben, werden solche, die sich nicht regelkonform verhalten oder besondere Hilfe benötigen, ausgestossen. Vielleicht ist dies ein Urinstinkt, einst notwendig zum Erhalt und Schutz der Sippe. Möglicherweise ist es auch nur die dunkle Seite des Menschen, die dieses düstere Kapitel der Menschheit schrieb. Man kann sagen, dass je umfassender die menschliche Vorstellung davon wurde, wie eine Gesellschaft zu sein und zu funktionieren hatte, es immer mehr Individuen und Gruppen gab, die diesem Bild nicht entsprachen und die man irgendwie loswerden oder umformen wollte.
Meistens betraf dies Menschen, die arm waren, die wenig Bildung hatten, die sich, wie schon erwähnt, nicht «der Norm entsprechend» verhielten oder gar einer «unpassenden» Ethnie oder Glaubensgruppe angehörten.
Klar ist uns heute, dass diese Menschen vielmehr den Schutz, das Mitgefühl und oft auch die Hilfe und Unterstützung der Gesellschaft benötigten.
Jahrelange Forschung
Dr. Loretta Seglias, Historikerin aus Wädenswil, hat jahrelang auf dem Gebiet der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen geforscht, hat unzählige Interviews mit Betroffenen geführt. Sie hat den Betroffenen dieser systematischen Diskriminierung und oft unmenschlicher Massnahmen, den Menschen, deren Individualität missachtet und getreten wurde und die durch jahrelangen Missbrauch oft lebenslange Traumata mittragen müssen, eine Stimme gegeben.
Persönliche Daten
Dr. Loretta Seglias ist 1975 geboren und in Uerikon aufgewachsen. Sie hat dort die Primarschule und in Stäfa die Sekundarschule besucht. Sie machte die Matura an der Kantonsschule Küsnacht. Dann studierte sie Geschichte an der Universität Zürich. Ihr Lizenziat machte sie zum Thema «Schwabengänger», woraus ein Buch entstanden ist.
Loretta Seglias hat zwei Kinder im Teenageralter und arbeitet als selbstständige Historikerin. Mit 38 Jahren hat sie promoviert. Das Thema hat sie nicht mehr losgelassen. Auch aus ihrer Doktorarbeit «Geprägt fürs Leben», die sie zusammen mit Marco Leuenberger schrieb, wurde ein vielbeachtetes Buch.
Zentrale Fragestellung
Zentral für Seglias Forschung ist immer die Frage, warum es überhaupt zu diesen Missständen kommen konnte, welche Gegebenheiten solche Vorkommnisse begünstigten und welche Mechanismen spielten. Dieser sozialhistorische Ansatz soll ermöglichen, aus der Geschichte zu lernen, Missstände zu korrigieren und zukünftig zu verhindern.
«Es reicht nicht, Interviews mit Betroffenen zu führen und über diese oft erschreckenden Geschehnisse persönliche Betroffenheit zu zeigen», sagt Seglias, «als Historikerin kann ich mit einer gewissen Distanz den grösseren Kontext beschreiben. Eine zusätzliche Differenzierung geschieht da, wo man auch die institutionellen Stimmen einbezieht, die Aufschluss geben zu den gesellschaftlichen Motiven der damaligen Zeit.»
Seglias berücksichtigt in ihrer Forschung unterschiedliche Perspektiven. Sie spricht auch mit Personen aus der Pflege, mit Psychiaterinnen, Heimleitern, Sozialpädagogen, auch mit solchen, die in verantwortungsvollen Positionen waren. Immer geht es darum, Strukturen offenzulegen.
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierung als Schwerpunktthema
Loretta Seglias gehört zu den profundesten Kennerinnen des Themas.
Dabei stellt sich die Frage, warum sie sich, einem so aufwühlenden und schmerzbesetzten Thema, widmet. Geht es um eigene Betroffenheit?
Sie sagt: «Ich wusste von klein auf, dass je ein Elternteil meiner Grossväter früh gestorben ist und sie dann mit Fürsorgebehörden in Kontakt kamen. Die Familie des einen Grossvaters erhielt einen Vormund, nachdem der Vater gestorben war, doch die Familie blieb zusammen. Beim anderen Grossvater wurde die Familie auseinandergerissen und die Kinder überall verteilt. Armut war lange ein Thema in unserer Familie. Meine Grossmutter im Bündnerland erzählte ab und zu von den Kindern, die von zuhause wegmussten, ins Schwabenland, um zu arbeiten; dem wollte ich nachgehen und habe dazu meine Abschlussarbeit an der Uni Zürich geschrieben. Historisch haben mich schon immer einzelne Akteure interessiert, die vom Schicksal nicht Begünstigten, die, die nicht viel zu sagen hatten – Armut spielte dabei immer eine grosse Rolle – und die Frage: Wie geht man in ein solches Leben, wenn die Ressourcen so limitiert sind? Interessant fand ich auch die Fragestellung, wieso etwas so ist, wie es ist, welche Strukturen dem zugrunde liegen. Das ist wohl die Kernarbeit einer Historikerin.Ich bin zeitgeschichtlich und sozialgeschichtlich unterwegs».
Loretta Seglias Engagement ist gross und sie hat viel zu erzählen zum Thema «Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierung».
«Dieser schwierige Begriff versucht eine Klammer zu machen zu einer Sozialpolitik, die wir lange hatten, die versuchte, Lebensweisen, die nicht in die Norm passten, auch mit Zwang zu bekämpfen: Im 19. Jahrhundert versuchte man die Armut zu bekämpfen, denn sie brachte Elend und führte zu Auswanderung. Involviert waren viele private Organisationen. Es war ein Nebeneinander von staatlichen, privaten und kirchlichen Akteurinnen und Akteuren. Es herrschte das Subsidiaritäts-Prinzip, das bedeutet, dass die Gesellschaft Unterstützung zu leisten versucht, sich aber selber organisiert, bevor der Staat eingreifen muss. Die Kantone waren damals noch nicht so stark und das Armenwesen lastete auf den Gemeinden, die meistens wenig Geld hatten. Die Schweiz war lange ein Land, in dem viele Einwohnerinnen und Einwohner arm waren.
Unterstützen und disziplinieren
Die herrschenden Wert- und Normvorstellungen, die massgeblich waren, sind erst vor ein paar Jahrzehnten aufgebrochen. Für Frauen, die mittellos waren und ein Kind bekamen, ohne verheiratet zu sein, war die Gefahr gross, dass ihnen das Kind weggenommen wurde oder sie es, um arbeiten zu können, in Fremdpflege geben mussten. Man bedenke: Noch bis ins Jahr 1988 konnte der Ehemann darüber entscheiden, ob seine Frau arbeiten durfte.
Moralische Instanzen waren der Pfarrer, der Lehrer und der Bürgermeister. Dass die Frau zuhause ist und der Mann arbeitet, war aber in vielen armen Familien gar nicht möglich. Man lebte oft am Limit. Wenn irgend etwas schiefging, kam man schnell an die Grenze. Erst mit dem Ausbau der Sozialwerke wurde die Absicherung von Armutsrisiken, wie Alter oder Arbeitsunfähigkeit, für die Gesamtbevölkerung umgesetzt. Man darf schon erwähnen, dass es manchmal auch gut war ein Kind wegzunehmen». fügt Loretta Seglias an. «Wenn es zum Beispiel in der Familie misshandelt wurde. Nur leider kam es oft an einen Ort, wo es genau gleich weiterging oder noch schlimmer wurde. Die Massnahmen waren selten auf die Bedürfnisse der Betroffenen ausgerichtet. Das gesellschaftliche Stigma wog für viele schwer und wirkte mitunter ein Leben lang nach.»
Zuhören mit historischer Distanz
Loretta Seglias hat mit vielen Betroffenen Interviews geführt und doch immer die historische Distanz zu wahren versucht. Wird diese Haltung den Betroffenen, die ihren innersten Schmerz offenbaren, gerecht?
Loretta Seglias ist es wichtig keine falschen Hoffnungen zu wecken und will darum anfänglich die Rollen definieren. «Ich komme in Kontakt mit teilweise mehrfach traumatisierten Menschen, die erfahren, dass endlich jemand ihnen zuhört. Mit einigen Menschen, die ich interviewt habe, bin ich immer noch in Kontakt. Es gibt auch solche, mit denen ich jetzt zusammen an Projekten arbeite. Es ist wichtig, klar zu definieren, was ich kann und was nicht. Ich kann zuhören, nachfragen, Erfahrungen historisch einordnen und daraus dann sozialhistorische Schlussfolgerungen ziehen. Neben den schriftlichen, sind diese mündlichen Quellen sehr wichtig zur historischen Rekonstruktion. Was mir nicht möglich ist, ist als Anwältin zu fungieren. Ich habe auch kein psychologisches, kein therapeutisches Setting.»
Der Glaube an das Gute
Diese strukturellen Ungerechtigkeiten und das hohe Mass an Leid, das daraus entstanden ist, ist in der Rückschau nur schwer zu ertragen, und es erscheint unfassbar, dass Menschen fähig sind, anderen, ja gar Kindern, solches anzutun. Und doch hat Loretta Seglias ihren Glauben an das Gute im Menschen nicht verloren: «Ja, ich finde es furchtbar, wozu Menschen fähig sind. Aber es gibt immer auch wieder diese einzelnen Menschen, die etwas Gutes tun und damit einen wertvollen Beitrag leisten. Sie zeigen, wie man auch anders hätte handeln können. Sie machen Hoffnung. Das erlittene Trauma ist nicht heilbar, aber meine Arbeit hat mir gezeigt, dass und wie manche Menschen einen Weg finden, damit zu leben und eine grosse Widerstandsfähigkeit (Resilienz) aufweisen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass viele Menschen dies nicht schafften. Immer wieder begegneten mir Suizide während einer Fremdplatzierung oder administrativen Einweisung, etwa von Geschwistern meiner Interviewpartnerinnen und -partner oder von Kolleginnen und Kollegen. Nach der Entlassung war für fast alle der Übergang in ein autonomes Leben schwierig. Bis heute ist dies ein Thema, wie sich an der aktuellen Diskussion zu den sogenannten Careleavern zeigt. Es ist ein heikler Moment der Selbstfindung. Viele haben sich aber bewusst für das Leben entschieden.»
Was nimmt man mit aus all diesen Erfahrungen und Zeugnissen und wie können wir es besser machen? Wie begegnet Loretta Seglias ihren Kindern und den alten, tradierten Mustern aus ihrer Familie?
«Ich konnte beruflich und privat viel mitnehmen. Einerseits zum Verständnis struktureller Gewalt und Diskriminierung – in der Schweiz war es keinesfalls besser als anderswo. Andererseits erfüllt es mich mit Hochachtung zu sehen, wie stark manche Menschen sind. Gelernt habe ich auch, wie wichtig tragende Beziehungen sind, Klarheit, Transparenz und sich selbst sein zu können. Ich konnte persönlich daran wachsen.
Es ist aber eine Illusion zu meinen, wir würden alles besser machen. Man kann es nur probieren, versuchen den eigenen Kindern Wurzeln zu geben und die Möglichkeit, sich zu entwickeln, einen eigenen Weg zu finden, kritisch sein zu dürfen und nicht alles für bare Münzen zu nehmen.»
Wie wichtig ist die Forschung für die Zukunft?
«Ich denke, es ist essenziell gesellschaftliche Systematiken zu verstehen. Darauf können wir aufbauen und entscheiden, wie wir weitergehen wollen. Ich kann mit meiner Forschung dazu beitragen, dass das Thema gehört und diskutiert wird.
Daneben sind partizipative Ansätze für historische Themen ein interessanter Ansatz, der neue Fragestellungen und Umsetzungen mit sich bringen kann. Aktuell arbeite ich, zusammen mit MarieLies Birchler und Mario Delfino – sie sind beide Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen – am multimedialen Projekt «Gesichter der Erinnerung», das im Oktober veröffentlicht wird. Wir stellen Betroffene und ihr familiäres Umfeld in den Mittelpunkt und zeigen, was die Massnahmen beinhalteten, wie sie erlebt wurden, aber auch, wie sie fortgewirkt haben, zum Teil über Generationen und bis heute.»
Mit ihnen will Loretta Seglias weiterarbeiten. Sie sollen teilhaben und nun mitbestimmen können.