Kolumne

Es ist nicht die Zeit zu schweigen

Kürzlich habe ich etwas gelesen, das ich einleuchtend fand und auch durchaus logisch: «Der liberale Staat muss die gesamte Gemeinschaft schützen: Die Corona-Pandemie ist verheerend und hat weltweit enormes Leid angerichtet. Dennoch gibt es immer noch Stimmen, die alle staatlichen Schutzmassnahmen ablehnen. Ist aber die Gesellschaft als Ganzes in Gefahr, so ist der Erhalt ihres Wohls oberstes Prinzip. Denn wird das Kollektiv nicht geschützt, können auch die Individualrechte nicht mehr garantiert werden.»
Also einfach gesagt, wenn der Staat alle schützen kann, dann sind auch die Rechte des Einzelnen geschützt. Wenn Einzelne die Schutzmassnahmen ablehnen, bringen sie damit alle in Gefahr, und in dieser Situation können die Rechte der Einzelnen nicht mehr garantiert werden. Das leuchtet ein.
Doch wie steht es mit dem Selbstbestimmungsrecht, dem Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen? Ist das nicht ein Grundrecht, ein Menschenrecht? Wie könnte man das verneinen? Das würde dann doch bedeuten, dass jeder auch das Recht hat, sich nicht impfen zu lassen.
Ist es aber nicht so, dass die Freiheit jedes Einzelnen da aufhört, wo er die Freiheit eines Anderen einschränkt?
Wir dürfen so viel rauchen, wie wir wollen, aber nicht in Räumen, wo sich andere Menschen aufhalten. Wir dürfen auf Strassen nicht in selbstgewählter Geschwindigkeit «herumblochen», weil wir damit das Leben anderer gefährden. Wir haben ein Rechtssystem, Gesetze, um den Einzelnen vor Übergriffen zu bewahren oder zumindest den zu bestrafen, der sich nicht an das Gesetz hält.
Wenn wir uns nicht impfen lassen und schwer an Corona erkranken, können wir andere anstecken, die Spitäler überlasten und somit zum Beispiel einem herzkranken Kind, das auf eine Transplantation wartet, den Platz auf der Intensivstation wegnehmen.
Die Eigenverantwortung über den Körper müsste demzufolge ausgeweitet werden auf die Folgen, die dann auch vom Einzelnen übernommen werden müssten. Konkret hiesse das, man nimmt sein Recht auf den eigenen Körper wahr, lässt sich nicht impfen und verzichtet damit auf die Einweisung ins Spital, falls das nötig sein sollte.
Das ist doch logisch! Und doch weiss ich nicht, ob ich als Ärztin Menschen wegweisen könnte. Nun habe ich noch einen Dokumentarfilm über Long-Covid gesehen, der mich ziemlich erschreckt hat. Es gibt Menschen, die können sich kaum noch bewegen, sind immer erschöpft, haben diverse körperliche Beschwerden. Sie sind – obwohl genesen – ihres früheren Lebens beraubt worden. Ob sie je wieder ganz in ihre Kraft kommen, ist ungewiss. Was das für die Gesellschaft und das Gesundheitswesen in Zukunft bedeutet, ist noch nicht klar.
Es gibt also unglaublich viele und bestechende Gründe, sich impfen zu lassen, und es geht nie um Diskriminierung und darum, Gräben auftun. Ich persönlich möchte das am allerwenigsten.
Aber es geht um Zusammenhalt und um Solidarität; darum, uns gegenseitig beizustehen und dafür zu sorgen, dass wir und auch andere geschützt sind. Und es ist wohl nicht der Moment, um zu schweigen. Auch wenn ich das gerne tun würde und mich damit auch gut vor jeglicher Kritik schützen könnte und vor diesem Diskriminierungsvorwurf.

Ich verstehe nicht, warum das nicht logisch ist, warum mein Nachbar mir plötzlich aggressive Plakate vor die Nase baut, warum ich plötzlich mit abstrusen Verschwörungstheorien konfrontiert werde, von Leuten, die ich mag und die ich für vernünftig und keinesfalls extrem gehalten habe? Ich verstehe nicht, wie man so lange hoffnungsvoll auf diese Impfung gewartet hat und jetzt, da sie da ist, so widerständig ist, nur weil man das Gefühl hat, es werde einem etwas vorgeschrieben. Momentan braucht es keine mutigen Freiheitskämpfer in der Schweiz, sondern verbindende Elemente, ein soziales Gewissen, Solidarität.
Was passiert? Corona!
Und es passiert weiter, geht nicht weg, nur weil wir jetzt wirklich genug davon haben, mutiert, weil es immer noch genug Möglichkeiten dazu hat, bleibt und macht uns müde und gereizt und irgendwie auch selbstsüchtig.

Nur wenn wir als Gemeinschaft dagegen kämpfen, werden wir dieses Übel vielleicht bekämpfen können. Das bedeutet Solidarität und den Blick auf den Nächsten. s
So, nun habe ich’s gesagt!

Ihre Ingrid Eva Liedtke

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