Feuilleton Kolumne Wädenswil

Als Hebamme in Indien – ein Erlebnisbericht (Teil II)

Noch bis Mitte August lebe ich in einer abgelegenen Gegend in Nordindien im Bundesstaat Uttarakhand. Die kleine Nichtregierungsorganisation Aarohi ist dort aktiv. Für Aarohi arbeite ich vier Monate als Hebamme.

Hitzewelle in der Schweiz? Feuerverbot? Griechenlandkrise? Legale Ehe für Homosexuelle in den USA? Ja, das sind alles Themen, die ich am Rand hier im indischen Wald mitbekommen habe. Aber es ist alles so weit weg! Hier geht es häufig ums nackte Überleben der Menschen. Kann das Gemüse schon geerntet werden? Schwemmt es unser Land weg wegen des Monsuns? Bekommen wir endlich einen Jungen und nicht wieder ein Mädchen? Haben wir genügend Geld um uns Reis zu kaufen? Das sind die wichtigen Themen hier.
Meine letzte Zeit in Indien ist angebrochen. Weiterhin arbeite ich im PHC (Gesundheitszentrum) und warte auf Geburten. Zudem bin ich jeweils Anfang des Monats im mobilen Camp. Ich habe mich immer mehr mit der indischen Kultur angefreundet. Meine Indisch-Kenntnisse sind immer noch klein, aber es gelingt mir doch, die Sprache häufig zu verstehen. Nur das Sprechen ist so unglaublich schwierig.
Ich beginne meinen Bericht mit meiner Arbeit im Gesundheitszentrum. Ich habe mich ja sehr aufgeregt, wie schmutzig das Geburtszimmer ist. Sowas von Menschenunwürdig! Mit Ilaria Bello, einer FaGe (Fachfrau Gesundheit) aus Horgen, welche ebenfalls für 5 Wochen nach Indien kam, habe ich eine Putzaktion gestartet – überhaupt nicht meine Lieblingsbeschäftigung. Mit guter Musik und einer Prise Humor haben wir in einer zweitägigen Aktion das Zimmer ge­rei­nigt. Ich musste mir immer wieder sagen, dass ich das für jede einzelne Frau, welche ihr Kind hier zur Welt bringt, mache. Unglaublich, wieviel altes Blut und sonstige Körperflüssigkeiten am Gebärbett und dem anderen Inventar war. Auch nach der aufwändigen Putzaktion war das Zimmer nicht so, wie ich mir eigentlich einen sauberen Raum vorstelle. Um das Ganze trotzdem noch zu verschönern, habe ich bei einer Schneiderin Vorhänge und einen Bettüberwurf nähen lassen. Jetzt sieht der Raum immerhin etwas menschlicher aus. Die Angestellten im PHC sind beeindruckt. Aber ich bin ganz ganz sicher, dass es schon sehr bald wieder aussehen wird wie vorher. Arbeiten ist nicht deren Lieblingsbeschäftigung.
Ich hatte dann vor zwei Wochen doch noch eine Geburt im Gesundheitszentrum. Eigentlich wollte ich nur Zuschauerin sein, aber mein Hebammenherz brachte es dann doch nicht übers Herz, nicht zu intervenieren. Die Nurses (Pflegefachfrauen) haben die Gebärende wirklich unfreundlich behandelt und ihr immer wieder an die Beine geschlagen, damit sie diese offen hält. Ich staunte auch, wie schnell sie in den Geburtsprozess eingreifen wollten. Niemand hat Herztöne gehört. Nach einer Stunde Presswehen (sehr unüblich) habe ich mir ein eigenes Bild von der Situation gemacht. Das Kind schien mir für indische Verhältnisse sehr schwer. Die Platzverhältnisse waren aber gut. Die kindlichen Herztöne reagierten im tolerierbaren Rahmen. Das Letzte änderte sich dann aber zu schlechten Herztönen und ich musste handeln. Ich entschied mich, dem Kind per Saugglocke, welche ich aus der Schweiz dabei hatte, auf die Welt zu helfen. Das Mädchen brauchte dann auch noch ein wenig Starthilfe, machte es dann aber gut. Unüblich war für mich auch, dass Mutter und Kind nicht miteinander kuscheln durften nach der Geburt. Mit einem Gewicht von 3400 g ist es für indische Verhältnisse richtig schwer! Der Vater begrüsste seine Tochter etwa 15 Minuten nach der Geburt.
Ich bin sicher, dass niemand in diesem PHC gebären sollte. Ich denke, eine Hausgeburt ist viel besser für manche Frau. Aber: dies ist halt auch Indien.
Im PHC gab es auch noch ein Familienplanungscamp. Das bedeutet, dass eine Ärztin aus einer grösseren Stadt dort Unterbindungen vornimmt. Auch hier habe ich mich über das raue Verhalten des Personals gewundert. Die Unterbindungen werden in Lokalanästhesie durchgeführt im Geburtszimmer, welches ja wirklich nicht den üblichen Hygieneanforderungen entspricht. Die Frauen hatten offensichtlich Schmerzen. Aber die Ärztin meinte nur: «in India everything is possible» und Inderinnen seien stark im Nehmen.
Meine Arbeit im mobilen Camp war und ist ein Highlight. Hier habe ich unterdessen Savitri, eine Nurse, soweit angelehrt, dass sie die Schwangerschaftskontrollen macht und ich sie überwache bei der Arbeit. Im Camp geschah es aber auch, dass mir ein fünf Tage altes Neugeborenes unter den Händen verstarb wegen Neugeborenengelbsucht. Ich habe in meiner ganzen Kinderkrankenschwester- und Hebammentätigkeit noch nie ein so gel­bes Kind gesehen! Leider war alle Hilfe zu spät. Hier sah ich auch, wie mit Emotionen umgegangen wird. Alles war viel emotionsarmer als bei uns. Daran musste ich mich gewöhnen.

Ich war mit zwei Freundinnen aus der Schweiz noch in Agra und habe das wunderschöne und beeindruckende Bauwerk Taj Mahal besichtigt. Sehr ergreifend!
Unterdessen bin ich in meinen zwei letzten Wochen in Indien. Ich musste mich schon von vielen liebgewonnenen Personen verabschieden. Ob ich die wohl wieder sehe?
Indien! Nach wie vor beschäftigen mich folgende Themen: arrangierte Hochzeit – Frauen in der Gesellschaft – Mädchen sind unwichtiger als Knaben – Umweltschutz.
Indien! Wunderschöne Landschaften, neue Freundschaften, Männer und Frauen, welche hoffen, dass sich das Land entwickelt und Gleichberechtigung entstehen kann.
Indien! Ich werde es vermissen und vieles wird in meinem Herzen bleiben!
Kal melenge, Caroline Eith

Die Wädenswilerin Caroline Eith war bis zu ihrem Aufbruch nach Indien leitende Hebamme am Seespital Horgen. Nach ihrer Rückkehr im August 2015 begleitet sie Frauen individuell und ganzheitlich durch ihre Schwangerschaft.
Mehr Infos sowie ein Blog über Caroline Eiths bewegende Zeit in Indien unter www.haerzchlopfae-hebamme.ch.
Infos zu Aarohi unter www.arohi.org.

Teilen mit: