Feuilleton Wädenswil

Hanna Steinegger – «Und überhaupt»

Wenn man schon über achtzig Lebensjahre gelebt hat, darf man – wenn möglich mit Stolz – zurückblicken. Wenn man Autorin ist, kann man sich ein Geschenk machen, indem man das Gelebte zu einem Päckchen schnürt und eine Biografie verfasst. Ein solches Geschenk hat sich – und den geneigten Leserinnen und Lesern – die Wädenswiler Autorin Hanna Steinegger gemacht.

Text: Ingrid Eva Liedtke
Bild: zvg

«Und überhaupt» erzählt in kurzen, prägnanten Kapiteln, gespickt mit Galgenhumor und Situationskomik und gewürzt mit leiser Zeit- und Gesellschaftskritik, von einem Leben, das 1944 begann und bis heute selbstbestimmt, aber auch geprägt von gesellschaftlichen Normen und Mustern ist.

Hanna Steinegger erinnert sich, ohne allzu viel Emotionales preiszugeben. Sie will niemanden diskreditieren oder verletzen, will auch auf ihre Kinder Rücksicht nehmen. Man müsse nicht alles erzählen – vor allem nicht, da es vergangen und oft schon verziehen sei.

Ich unterhalte mich mit einer starken Frau, die ich schon seit zwanzig Jahren kenne und mit der ich mich schon oft über unsere Nöte als Ehefrauen, Mütter, Berufstätige und unsere Stellung als Frau in der Gesellschaft ausgetauscht habe.

Du schreibst mit diesem leicht lakonischen Unterton über die Diskriminierung der Frauen, über Rollenbilder, die auch durch Deinen Mann und Deine Eltern getragen wurden –
was Du allerdings nur andeutest. Du hast Dich oft angepasst, es scheint, mit knirschenden Zähnen; Du hast Dich öfters arrangiert. Warum sprichst Du nicht ausführlicher darüber, was Dich frustriert hat? Wolltest Du bewusst nicht tiefer blicken lassen?
«Ich wollte niemanden blossstellen – auch mich nicht. Die Lesenden können dahinterspüren, und das reicht. Das Leben läuft nicht immer gerade. Manchmal hat man den ‹Ablöscher›, schlechte Stimmungen – darüber muss man hinwegkommen, und dann ist es auch wieder vorbei.»
So fliesst der Text. Das Schlimme, Bedrückende wird kurz und faktisch beschrieben – und ja, dann ist es auch wieder schnell vorbei.
«Für mich waren die Kinder das Wichtigste», erklärt die Wädenswiler Autorin. «Sie sind das Beste, was einem passieren kann, finde ich. Ich wollte sie niemals belasten mit Ehekrisen oder sonstigen Problemen – auch nicht mit diesem Buch. Darin waren mein Mann und ich uns stets einig. Wir konnten die Tiefpunkte in unserer Ehe realistisch anschauen. Natürlich hatten wir daran zu beissen – an den Fragen, ob wir uns gegenseitig anpassen mussten und wie. Die Kinder waren dabei immer im Fokus.»

Bisher hast Du vornehmlich historische Romane geschrieben. Warum jetzt diese Autobioiografie?
«Vor etwa vierzig Jahren riet mir mein damaliger Verleger vom Zytglogge Verlag, ich solle einen Eheratgeber schreiben. Ich war jung, erst seit Kurzem verheiratet. Ich wollte keine Ratschläge erteilen – hatte ja noch gar keine Erfahrung! Wie sollte ich anderen Tipps geben, wenn ich selber dauernd welche brauchte? Zudem zweifelte ich damals, in meinen schriftstellerischen Anfängen, noch sehr an meinen Fähigkeiten. Die Zeit war definitiv noch nicht reif. Über die Jahre habe ich mir aber immer wieder Ereignisse aufgeschrieben. Jetzt habe ich all diese Erfahrungen meines ganzen langen Lebens in diesem Buch gesammelt. Man kann das nun als Ratgeber sehen – ich persönlich sehe es nicht so. Meine Geschichte soll eher Mut machen: Es geht immer irgendwie weiter!»
Diese Aussage widerspiegelt Hanna Steineggers Stärke. Sie macht weiter – auch wenn es mal schwer ist. Das ist ihre Art, die Dinge anzupacken. Humor ist eine weitere ihrer Eigenschaften. «Humor hilft, die Dinge, die nicht immer leicht und freudig sind, zu ertragen. Gute Beziehungen zu führen ist harte Arbeit. Mein Mann und ich hatten schwere Krisen, aber wir haben immer wieder zueinander gefunden. Humor hilft dabei definitiv», erinnert sie sich.

Das Patriarchat, alte Zöpfe, Muster, die schon über Generationen galten, machten es Mann und Frau ja nicht leichter. Wie hast Du das erlebt?
«Wir lebten damals in einer Umbruchsituation. Mein Mann Peter kam aus dem Kanton Uri, aus der Innerschweiz – einer konservativen Gegend. Ich hingegen war drei Jahre lang in Amerika gewesen, unabhängig, frei! Mein Mann und ich hatten eigentlich eine gute Beziehung. Die alten Zöpfe kamen uns aber oft in die Quere. Ohne meine Zeit in Amerika hätte ich mit Pedro (so nennt sie ihn liebevoll) nie diese gute Beziehung führen können. Eigentlich waren wir moderne Leute, an denen teilweise noch die alten Rollenbilder anhafteten.»
Hanna Steinegger wundert sich diesbezüglich auch über ihre Eltern, die sie in den sechziger Jahren alleine nach Amerika gehen liessen.
«Ich bin da in viele gefährliche Situationen geraten. Es hätte immer etwas schiefgehen können. Schliesslich konnte ich mich mit Mut und meiner Frechheit immer irgendwie hinauswinden. Nach einer ersten Enttäuschung war ich auch in Liebesdingen ziemlich nüchtern geworden und immer auf der Hut. Das Leben damals war total anders. Der Übergang aus dieser altväterlichen Normalität der Kindheit in die Freiheit der Hippiezeit – und diese dann wieder aufgeben zu müssen – das waren schon sehr krasse Gegensätze. Ich wusste aber, dass ich heiraten und Kinder haben wollte. Zu dieser Zeit waren die Ansichten darüber noch ziemlich rigide. Eigentlich musste man mit 25 verheiratet sein – ab 30 galt man schon als alte Jungfer. Ich war wirklich zufrieden als verheiratete Frau. Später dann habe ich ab und zu unabhängige Frauen beneidet. Aber ich wollte halt doch Kinder und Familie haben. Natürlich kann man das auch als Prägung sehen.»
Über ihre Eltern, die für die angesprochenen Prägungen mehrheitlich verantwortlich sind, hat Hanna Steinegger wenig Negatives zu sagen. Sie seien Menschen ihrer Zeit und ihres Standes gewesen und hätten ihr und ihren Geschwistern einiges ermöglicht. «Ich habe meine Eltern geliebt», sagt sie. Darum hat sie sie im Alter auch intensiv begleitet und gepflegt. «Das hat mich aber auch aufgebraucht – und meine Ehe sehr belastet. Es war sehr kräfteraubend – auch für meinen Mann. Eine Zeit lang waren wir nur noch damit beschäftigt, Pflichten zu erfüllen.»
Diese Zeit hat auch gesundheitliche Spuren hinterlassen. Die immer gesunde Fitnessfrau wurde von einer Autoimmunerkrankung in die Knie gezwungen.
Trotzdem möchte sie ihren Einsatz eher mit ihrer Liebe und ihrem Mitgefühl erklären: «Es ist schon so, dass ich oft nachgegeben habe – aus Liebe. Aber das tut mir heute im Rückblick gut. Ich bin froh, habe ich meine Eltern bis zum Schluss begleitet. Sie haben mich grossgezogen, gepflegt, unterstützt – nach besten Möglichkeiten. Ich wollte ihnen etwas zurückgeben. Ich sehe das nun alles klar. Damals war ich manchmal überfordert.»

Und gewisse Aspekte solle man ruhen lassen und verzeihen.
«Meine Absicht ist es, aus einer gewissen Distanz und von einer neutralen Warte aus auf das Leben zu schauen. Für Schwierigkeiten braucht es immer mehr als eine Person.»
In einer Psychotherapie, die sie nach dem Tod ihres Mannes machte, habe sie vieles verstanden – auch über ihre Familienkonstellation und die Charaktere ihres Umfelds. «Ich habe vieles begriffen. Das hat mir sehr geholfen, auch über die Trauer hinwegzukommen.»

Da ist aber sehr vieles auf Dich eingestürzt! Deine Gesundheit fiel buchstäblich zusammen, Dein geliebter Hund starb, und dann wurde auch noch Dein Mann schwer krank und starb. Wie kann man mit dieser Trauer umgehen?
«Sie kommt und geht. Anfangs war ich zu kaum etwas fähig. Ich brauchte drei Jahre, um mich von allem zu trennen. Es macht mir bis heute zu schaffen. Ich musste mich von so vielem trennen – von meinem Mann, dem Hund, meiner Gesundheit, unserem Haus, dem Garten, von sehr vielen Andenken, als ich in diese Wohnung zog. Mein ganzes Leben bröckelte weg. Ich habe hier in dieser Wohnung lange gebraucht, um mich zuhause zu fühlen. Alles kommt immer wieder mal hoch. Ich forciere mich manchmal, mit Freundinnen Ausflüge zu machen oder kleinere Reisen. Ich vermisse meinen Mann immer noch. Plötzlich möchte ich ihm etwas sagen und realisiere, dass ich das nicht mehr kann – dass er nicht mehr da ist, nicht antworten wird.»

Du hast nun all diese Lebenserfahrung, die Erfahrungen, die Du als Frau gemacht hast. Was muss sich Deiner Meinung nach dringend verändern in unserer Gesellschaft?
«Die Welt ist von Männern für Männer gemacht», antwortet Hanna Steinegger. «Die Welt ist ausser Rand und Band. Diese vermeintlichen Führer mit ihren Machtansprüchen! Auch die meisten Religionen sind von Männern gemacht. Es sind Institutionen wie die Kirche, die uns Menschen, uns Frauen, kontrollieren sollen – uns unterdrücken. Spiritualität und Religion will ich klar trennen. Wenigstens gibt es heutzutage Pfarrerinnen und homosexuelle Geistliche. Es ist aber leider immer noch eine männerdominierte Welt. Macht ist die Lust der Männer! Man sieht es oft auch in ihrem Umgang mit Tieren. Sie wollen das Tier dominieren. Ein Mann reitet ein Pferd anders als eine Frau.»

Einen Fortschritt sieht sie in den vielen möglichen Beziehungsformen. Das Ehegelübde sei passé; man könne nun zusammenleben und Kinder haben, ohne heiraten zu müssen. Die Ehe sei wohl ein alter Zopf, der lange die Gesellschaft zusammengehalten habe. Trotzdem bedauert die über achtzigjährige Autorin, dass sich die Moralvorstellungen auch in gewissen anderen Belangen verändert haben. Das Gefühl, dass jüngere Menschen sich über Dinge hinwegsetzen, an die sie sich gehalten hat, bereitet ihr Unbehagen. «Aber vielleicht hat dies damit zu tun, dass ich schon so alt bin», räumt sie ein.

Ist dies das letzte Buch?
Hanna Steinegger muss kurz nachdenken. «Im Moment denke ich», sagt sie dann, «es ist genug. Das ist das elfte Buch! Dieses Buch ist eine schöne Abrundung dieses Lebens, das geprägt war von Abschieden. Eigentlich könnte ich sagen: Es passt – das ist mein letztes Buch. Aber man soll niemals nie sagen! Mein Leben geht noch weiter, vielleicht gibt es noch Themen – nicht aus der historischen Nische – über die ich noch schreiben möchte. Nichts mehr zu müssen ist nun die Freiheit des Alters. Das ist beglückend. Ich kann frei entscheiden. Ich muss mich nicht anpassen.»
Sie sieht sich dadurch auch frei von verkaufstechnischen Erwartungen, vom Druck der Verlage, die es im kleinen Schweizer Markt nicht einfach haben. Auch die Konkurrenz sei kein Thema mehr. Das Glück soll nun überwiegen.
Abrundend sagt sie nochmals: «Dieses Buch half mir, das Leben zu sortieren und zu verstehen. Es hat viele Facetten – wie auch die Menschen, die mir begegneten. Der Rucksack gehört halt auch dazu. Er füllt sich mit den Jahren, aber grundsätzlich mag man ihn tragen, so denke ich. Ich habe genug Kraft, Lebenswillen und Stärke dazu. Das Glück hat überwogen – und so sollte auch dieses Buch rüberkommen. Ich würde wieder denselben Mann heiraten. Bei allem, das dazwischengeraten ist.»

Hat Hanna Steinegger nun ihre Unabhängigkeit wieder?
Ja. Man könnte sagen, sie geniesst die «Weisheit des Alters» – diese Stärke, Dankbarkeit und Einsicht – und ihre Unabhängigkeit als alleinstehende Witwe. Die alten Rollenbilder tangieren ihre Freiheit nicht mehr. Sie kann selbst bestimmen. Die Begleitung eines Mannes mag sie immer noch – ab und zu. Sie will noch reisen, mit Freundinnen, mit denen sie dieselben Gefühle und Sehnsüchte teilt. Und manchmal fehlt der Partner auch … und auch ein Hund. Aber sie will nicht nochmals um einen Hund trauern.
«Mein Leben ist jetzt anders, aber auch schön, mit einer hohen Lebensqualität!», sagt sie bestimmt, immer auf diesen positiven Grundton bauend. «Mit Galgenhumor, manchmal ein wenig Zynismus und viel Empathie ist auch das Alter zu meistern.»

«Und überhaupt» liest sich leicht. In kurzen Sätzen wird vieles knapp erzählt, einiges nur angedeutet – aber wie es so ist in der menschlichen Begegnung, kann man mit Einfühlungsvermögen und Sensibilität vieles mehr herauslesen und verstehen, als da schwarz auf weiss steht. Denn jede Lebensgeschichte unterscheidet sich von der anderen, und doch lässt sich immer vieles finden, das uns Menschen – uns Frauen – verbindet … und dann braucht es gar nicht mehr viele Worte.

ISBN/GTIN 978-3-85717-310-3
Verlag Baeschlin, 216 Seiten

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