Am 1. und 4. Mai öffnete das Weinbauzentrum Wädenswil an der Schlossgass Tür und Weinkeller zur Besichtigung. Am 1. Mai konnte ausserdem die spannende Geschichte des Stocks 58 – die Ur-Rebe der erfolgreichsten Rebsortenzüchtung – miterlebt werden: Winzerin Jacqueline Achermann teilte ihr umfangreiches Wissen zu Müller-Thurgau – sowohl der Person wie auch der Rebsorte – mit den Besucherinnen und Besuchern der Weinkellerei. Hermann Müller-Thurgau wäre am 21. Oktober 175 Jahre alt geworden, daher finden verschiedene Feierlichkeiten und Anlässe zu Ehren dieses bemerkenswerten Mannes statt.
Text & Bilder: Stefan Baumgartner
Beim gut sichtbaren rosaroten Rebhaus sammeln sich um Jacqueline Achermann herum im Stundentakt interessierte Besucherinnen und Besucher und lassen sich auf die Geschichte von Hermann Müller-Thurgau und Stock 58 ein. Achermann nennt es scherzhaft «Märchenstunde» – aber Krimi oder Thriller würde genau so gut passen.
Und Achermann weiss, wovon sie spricht: Martin Wiederkehr, Geschäftsführer des Weinbauzentrums erklärt, dass Achermann im Auftrag des Vereins «ErlebnisMüllerThurgau» die Geschichte des Stocks 58 auf rund 30 Seiten dokumentiert habe. Das bestätigt ebenso Lukas Bertschinger, Präsident von «ErlebnisMüllerThurgau» und Stiftungsratspräsident der Müller-Thurgau-Stiftung: «Wir können mit gutem Gewissen sagen, dass Jacqueline Achermann wohl weltweit die bestinformierte Person ist, wie die Sorte Müller-Thurgau entstand und wie sie in die Welt hinausgetragen wurde!»
Vorgeschichte
Hermann Müller – den Zusatz «Thurgau» erhielt er zur Unterscheidung von anderen Müllers – forschte an der Königlich Preussischen Lehranstalt für Obst- und Weinbau in Geisenheim an einer neuen, früher reifenden Traubensorte, die zugleich aromatisch und mild sein soll – also das feine Riesling-Aroma behalten – aber so früh reifen soll wie der Silvaner. Er bekam jedoch anstelle von Riesling × Silvaner eine Jahrhundert-Verwechslung: «Dem guten Müller war nicht bewusst, mit welcher Rebsorte er den Riesling tatsächlich gekreuzt hatte», sagt Jacqueline Achermann dazu. Die Verwechslung ist vermutlich bereits in Geisenheim passiert. Wie genau – dazu später.
1891 kehrte Hermann Müller-Thurgau in die Schweiz zurück und wurde erster Direktor der neu gegründeten Deutschschweizerischen Versuchsstation und Schule für Obst, Wein- und Gartenbau in Wädenswil, die nach Geisenheimer Vorbild aufgebaut werden sollte. Von seinem ehemaligen Geisenheimer Assistenten lässt er sich – mit Erlaubnis der preussischen Regierung – Stecklinge von 150 vorselektionierten Sämlingen (darunter der Steckling Nr. 58) nach Wädenswil senden.
Die Stecklinge wurden schliesslich angezüchtet, und 1894 konnten 73 Sorten im Freiland ausgepflanzt werden. Der vermeintliche Riesling × Silvaner trug die Zucht-Nr. 58. Daraus wuden zwei bewurzelte Reben gepflanzt. Ab 1903 wird eine ganze Parzelle bepflanzt, zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls in der Stäfner Sternenhalde. Ab 1908 pflanzen auch Winzer die neue Rebsorte an. Und noch heute stehen in Wädenswil vegetativ vermehrte Ur-Müller-Thurgau-Reben.
Zurück zum Rebhäuschen unterhalb der Etzelstrasse: Hier wurde in den 80er-Jahren der Urstock ausgerissen. Ob aus Versehen oder nicht, ist nicht ganz klar, doch konnte vom Urstock gerade noch Rebholz gerettet und in der Rebschule vermehrt werden. Zwölf Rebstöcke – direkte Nachkommen des Ur-Stocks 58 – sind heute hier angepflanzt. Man sieht ihnen nicht an, dass sie Nachkommen des Urstocks des weltweit am weitest verbreiteten Neuzüchtungs-Wein des 20. Jahrhunderts sind. Und da kommt Jacqueline Achermann ins Schwärmen: «Das ist das Coole: dass es Wädenswil ist, die diese Sorte hat und das in einem unscheinbaren Stock eine solche Geschichte drin steckt – das würde niemand erwarten!»
2021 wären auch die zwölf «Kinder» von Rebstock 58 beinahe wieder ausgerissen worden, was Martin Wiederkehr, Leiter des Weinbauzentrums Wädenswil, zu verhindern wusste. Nun gedeihen nebst den 12 direkten Nachkommen 226 weitere Jungreben dieser Sorte. Denn Müller-Thurgau hat die besten Voraussetzungen, mit sorgfältiger Erziehung und gezielter Ertragsreduktion wieder die Beliebtheit zu erlangen, die ihm gebührt. «Er entspricht in idealer Weise dem aktuellen Trend zu frischen, fruchtigen und leichten Weissweinen», ist sich Jacqueline Achermann sicher.
War’s die Maus?
Doch bei allem Erfolg: Wie konnte Hermann Müller-Thurgau glauben, Stock 58 sei eine Kreuzung von Riesling und Silvaner – und nicht, wie sich dank Gen-Analyse schliesslich beweisen liess, Riesling und Madeleine Royal? Immerhin war Hermann Müller-Thurgau für seine exakte Arbeitsweise bekannt. Zweifel am Silvaner-Anteil gab es zwar schon länger, denn es stimmte geschmacklich nicht, spürte man doch immer auch ein Muskateller-Aroma, das nicht zugeordnet werden konnte.
1996, also über hundert Jahre nach der ursprünglichen Kreuzung, befanden österreichische Forscher nach einer Gen-Analyse Gutedel (bei uns als Chasselas bekannt) als Kreuzungspartner. 2000 lüfteten Forscher am Pfälzer Institut Geilweilerhof endültig das Geheimnis: Beim Kreuzungsvater handelt es sich um die französische Tafeltraubensorte Madeleine Royale. Jacqueline Achermann hat zu dieser Verwechslung spannende Gedanken parat: «Meine These ist, dass die Traubenkerne der gekreuzten Sämlinge in Geisenheim bei der Überwinterung im Sandbeet von Mäusen durcheinander gebracht wurden. Man wusste, dass Müller-Thurgau auch mit Madeleine Royal kreuzte.» Es ist also durchaus denkbar, dass eine Maus dem Botaniker einen Streich gespielt haben könnte.
Eine Weltreise, beginnend in Wädenswil.
Dem Erfolg der neuen Traube tat die Verwechslung keinen Abbruch: Nach dem 2. Weltkrieg trat die Rebsorte Müller-Thurgau ihren Erfolgszug um die ganze Welt an, in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist sie die meistangebaute Rebsorte in Deutschland, in den 80ern in Neuseeland.
Die Nachkommen von Stock 58 stehen hier in Wädenswil als Denk- und auch als Mahnmal für den Forschungsstandort Wädenswil, den der Bund aus wenig nachvollziehbaren Beweggründen aufgegeben hat. Jacqueline Achermann bestätigt: «Die Leute wissen kaum mehr, welch wichtiger Standort Wädenswil war – und eigentlich immer noch ist.»
Das rosarote Rebhäuschen
Auf dem Areal der ehemaligen Eidgenössischen Forschungsanstalt zwischen Etzelstrasse und Palmenweg steht ein gemauertes Rebhäuschen. Es gehörte ursprünglich zu einem bäuerlichen Heimwesen, das 1826 dem Neubau des Wohnhauses zur Palme weichen musste, und stammt sicher noch aus dem 18. Jahrhundert. Das mit gebrochenem Walmdach gedeckte, würfelförmige Gebäude mit Sockelgeschoss und Ecklisenen hat in der seeseitigen Fassade eine Türe, die über eine Aussentreppe mit Podest erreicht wird, und in den übrigen Fassaden je ein Fenster mit zweit Brettläden. Der einst mit Reblaub umrankte, zweigeschossige barocke Kleinbau wurde 1976 restauriert.
(Quelle: Rundgang II durch Wädenswil, Publikation 1990 von Peter Ziegler)
Am 1. und 4. Mai öffnete das Weinbauzentrum Wädenswil an der Schlossgass Tür und Weinkeller zur Besichtigung. Am 1. Mai konnte ausserdem die spannende Geschichte des Stocks 58 – die Ur-Rebe der erfolgreichsten Rebsortenzüchtung – miterlebt werden: Winzerin Jacqueline Achermann teilte ihr umfangreiches Wissen zu Müller-Thurgau – sowohl der Person wie auch der Rebsorte – mit den Besucherinnen und Besuchern der Weinkellerei. Hermann Müller-Thurgau wäre am 21. Oktober 175 Jahre alt geworden, daher finden verschiedene Feierlichkeiten und Anlässe zu Ehren dieses bemerkenswerten Mannes statt.
Text & Bilder: Stefan Baumgartner
Beim gut sichtbaren rosaroten Rebhaus sammeln sich um Jacqueline Achermann herum im Stundentakt interessierte Besucherinnen und Besucher und lassen sich auf die Geschichte von Hermann Müller-Thurgau und Stock 58 ein. Achermann nennt es scherzhaft «Märchenstunde» – aber Krimi oder Thriller würde genau so gut passen.
Und Achermann weiss, wovon sie spricht: Martin Wiederkehr, Geschäftsführer des Weinbauzentrums erklärt, dass Achermann im Auftrag des Vereins «ErlebnisMüllerThurgau» die Geschichte des Stocks 58 auf rund 30 Seiten dokumentiert habe. Das bestätigt ebenso Lukas Bertschinger, Präsident von «ErlebnisMüllerThurgau» und Stiftungsratspräsident der Müller-Thurgau-Stiftung: «Wir können mit gutem Gewissen sagen, dass Jacqueline Achermann wohl weltweit die bestinformierte Person ist, wie die Sorte Müller-Thurgau entstand und wie sie in die Welt hinausgetragen wurde!»
Vorgeschichte
Hermann Müller – den Zusatz «Thurgau» erhielt er zur Unterscheidung von anderen Müllers – forschte an der Königlich Preussischen Lehranstalt für Obst- und Weinbau in Geisenheim an einer neuen, früher reifenden Traubensorte, die zugleich aromatisch und mild sein soll – also das feine Riesling-Aroma behalten – aber so früh reifen soll wie der Silvaner. Er bekam jedoch anstelle von Riesling × Silvaner eine Jahrhundert-Verwechslung: «Dem guten Müller war nicht bewusst, mit welcher Rebsorte er den Riesling tatsächlich gekreuzt hatte», sagt Jacqueline Achermann dazu. Die Verwechslung ist vermutlich bereits in Geisenheim passiert. Wie genau – dazu später.
1891 kehrte Hermann Müller-Thurgau in die Schweiz zurück und wurde erster Direktor der neu gegründeten Deutschschweizerischen Versuchsstation und Schule für Obst, Wein- und Gartenbau in Wädenswil, die nach Geisenheimer Vorbild aufgebaut werden sollte. Von seinem ehemaligen Geisenheimer Assistenten lässt er sich – mit Erlaubnis der preussischen Regierung – Stecklinge von 150 vorselektionierten Sämlingen (darunter der Steckling Nr. 58) nach Wädenswil senden.
Die Stecklinge wurden schliesslich angezüchtet, und 1894 konnten 73 Sorten im Freiland ausgepflanzt werden. Der vermeintliche Riesling × Silvaner trug die Zucht-Nr. 58. Daraus wuden zwei bewurzelte Reben gepflanzt. Ab 1903 wird eine ganze Parzelle bepflanzt, zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls in der Stäfner Sternenhalde. Ab 1908 pflanzen auch Winzer die neue Rebsorte an. Und noch heute stehen in Wädenswil vegetativ vermehrte Ur-Müller-Thurgau-Reben.
Zurück zum Rebhäuschen unterhalb der Etzelstrasse: Hier wurde in den 80er-Jahren der Urstock ausgerissen. Ob aus Versehen oder nicht, ist nicht ganz klar, doch konnte vom Urstock gerade noch Rebholz gerettet und in der Rebschule vermehrt werden. Zwölf Rebstöcke – direkte Nachkommen des Ur-Stocks 58 – sind heute hier angepflanzt. Man sieht ihnen nicht an, dass sie Nachkommen des Urstocks des weltweit am weitest verbreiteten Neuzüchtungs-Wein des 20. Jahrhunderts sind. Und da kommt Jacqueline Achermann ins Schwärmen: «Das ist das Coole: dass es Wädenswil ist, die diese Sorte hat und das in einem unscheinbaren Stock eine solche Geschichte drin steckt – das würde niemand erwarten!»
2021 wären auch die zwölf «Kinder» von Rebstock 58 beinahe wieder ausgerissen worden, was Martin Wiederkehr, Leiter des Weinbauzentrums Wädenswil, zu verhindern wusste. Nun gedeihen nebst den 12 direkten Nachkommen 226 weitere Jungreben dieser Sorte. Denn Müller-Thurgau hat die besten Voraussetzungen, mit sorgfältiger Erziehung und gezielter Ertragsreduktion wieder die Beliebtheit zu erlangen, die ihm gebührt. «Er entspricht in idealer Weise dem aktuellen Trend zu frischen, fruchtigen und leichten Weissweinen», ist sich Jacqueline Achermann sicher.
War’s die Maus?
Doch bei allem Erfolg: Wie konnte Hermann Müller-Thurgau glauben, Stock 58 sei eine Kreuzung von Riesling und Silvaner – und nicht, wie sich dank Gen-Analyse schliesslich beweisen liess, Riesling und Madeleine Royal? Immerhin war Hermann Müller-Thurgau für seine exakte Arbeitsweise bekannt. Zweifel am Silvaner-Anteil gab es zwar schon länger, denn es stimmte geschmacklich nicht, spürte man doch immer auch ein Muskateller-Aroma, das nicht zugeordnet werden konnte.
1996, also über hundert Jahre nach der ursprünglichen Kreuzung, befanden österreichische Forscher nach einer Gen-Analyse Gutedel (bei uns als Chasselas bekannt) als Kreuzungspartner. 2000 lüfteten Forscher am Pfälzer Institut Geilweilerhof endültig das Geheimnis: Beim Kreuzungsvater handelt es sich um die französische Tafeltraubensorte Madeleine Royale. Jacqueline Achermann hat zu dieser Verwechslung spannende Gedanken parat: «Meine These ist, dass die Traubenkerne der gekreuzten Sämlinge in Geisenheim bei der Überwinterung im Sandbeet von Mäusen durcheinander gebracht wurden. Man wusste, dass Müller-Thurgau auch mit Madeleine Royal kreuzte.» Es ist also durchaus denkbar, dass eine Maus dem Botaniker einen Streich gespielt haben könnte.
Eine Weltreise, beginnend in Wädenswil.
Dem Erfolg der neuen Traube tat die Verwechslung keinen Abbruch: Nach dem 2. Weltkrieg trat die Rebsorte Müller-Thurgau ihren Erfolgszug um die ganze Welt an, in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist sie die meistangebaute Rebsorte in Deutschland, in den 80ern in Neuseeland.
Die Nachkommen von Stock 58 stehen hier in Wädenswil als Denk- und auch als Mahnmal für den Forschungsstandort Wädenswil, den der Bund aus wenig nachvollziehbaren Beweggründen aufgegeben hat. Jacqueline Achermann bestätigt: «Die Leute wissen kaum mehr, welch wichtiger Standort Wädenswil war – und eigentlich immer noch ist.»
Das rosarote Rebhäuschen
Auf dem Areal der ehemaligen Eidgenössischen Forschungsanstalt zwischen Etzelstrasse und Palmenweg steht ein gemauertes Rebhäuschen. Es gehörte ursprünglich zu einem bäuerlichen Heimwesen, das 1826 dem Neubau des Wohnhauses zur Palme weichen musste, und stammt sicher noch aus dem 18. Jahrhundert. Das mit gebrochenem Walmdach gedeckte, würfelförmige Gebäude mit Sockelgeschoss und Ecklisenen hat in der seeseitigen Fassade eine Türe, die über eine Aussentreppe mit Podest erreicht wird, und in den übrigen Fassaden je ein Fenster mit zweit Brettläden. Der einst mit Reblaub umrankte, zweigeschossige barocke Kleinbau wurde 1976 restauriert.
(Quelle: Rundgang II durch Wädenswil, Publikation 1990 von Peter Ziegler)