Evolutionsbiologe Carel von Schaik und der Historiker und Literaturwissenschaftler Kai Michel versuchten am 21. März durch ihren Vortrag «Endlich das Leben verstehen!» an der ZHAW Wädenswil zu erklären, wie es dazu kommen konnte, dass wir Menschen eine Existenz im Ausnahmezustand führen.
Text & Bild: Ingrid Eva Liedtke
Im gegenseitigen Gespräch und wechselseitigen Informationsaustausch zeigten die Autoren Gründe und Zusammenhänge auf, wie der Mensch in diesen Zustand, in dem er sich heute befindet, geraten konnte.
Die beiden Wissenschaftler räumten mit Missverständnissen über die Evolution und die menschliche Natur auf und zeigten auf, welche Macht die Kultur über uns besitzt.Dabei zeigt sich, dass es durchaus heikel sein kann, mit Evolutionsbiologie menschliches Verhalten zu erklären. Allzu oft wurden damit vermeintliche Unterschiede zwischen Menschengruppen (Frauen und Männer oder verschiedene Ethnien) als natürlich und unverrückbar dargestellt und oft auch Privilegien und Machtansprüche mit Rückgriff auf «die Natur des Menschen» gerechtfertigt.
Dieses Gefühl, das viele kennen
Viele Menschen haben das Gefühl, dass mit dem Leben etwas nicht stimmt. Depressionen und Angststörungen grassieren, Krisen, Kriege und Katastrophen dominieren die Nachrichten. Die längste Zeit redete die Kirche uns ein, dies alles läge an der menschlichen Sündhaftigkeit. Eine Ratgeberindustrie verordnet Selbstoptimierung. Van Schaik und Michel glauben, es sei höchste Zeit für eine evolutionäre Aufklärung: Wir sind nicht schuld! Wir müssen uns nur endlich selbst verstehen!
Zu Anfang, so zeigen van Schaik und Michel auf, ist es entscheidend, wann man mit der Betrachtung der Menschheitsgeschichte beginnt. Oft werden nur die letzten 5000 Jahre überblickt, die Zeit, aus der es schriftliche Zeugnisse gibt. Doch wie Carel von Schaik darlegt, ist diese Zeitspanne nur ein winziger Abschnitt auf dem Millionen Jahre langen Strang der Menschheitsentwicklung (8 Sekunden gemessen an einer Stunde). Allerdings scheint es, als sei in diesen 8 Sekunden, als wir von Jägern und Sammlern zu Sesshaften wurden, Entscheidendes geschehen.
Da es bis vor kurzem einige Gruppen gab, die noch als nomadische Jäger und Sammler lebten, wissen wir, dass es in der Zeit kaum Kriege und keine Ungleichheit gab. Diese Gruppen hat man in den letzten 150 Jahren eifrig studiert und es ergab sich ein einheitliches Bild: Wir haben ganz anders gelebt!
Sowohl bei Tieren wie auch beim Menschen zeigt sich, dass die Nische, in der man lebt, die Lebensweise, das Habitat, die Psychologie einer Art, ihre Präferenzen und Sozialstruktur usw. prägt. Daraus ist zu folgern, dass die Erste Natur des Menschen, das heisst die veranlagte Seite der menschlichen Natur, zu einer Zeit entstanden ist, die nichts mehr mit unserer heutigen Lebensweise zu tun hat. Das grosse Thema von Kai Michel und Carel van Schaik ist diese Erste Natur zu verstehen und aufzuzeigen, was danach passierte.
Was ist die menschliche Natur?
Wenn man die letzten tausend Jahre betrachtet und all die Kriege, Ungleichheiten, Krankheiten, Epidemien usw. sieht und sich fragt: «Was ist die menschliche Natur?», könnte man denken, es gehe um Egoismus und Konkurrenz und um Krieg.
Lange nahmen die Biologen an, dass es für alles ein Gen gebe. Man glaubte, dass wir, sozusagen, genetisch gezwungen seien, gewisse Dinge zu tun.
Neuere wissenschaftliche Methoden zeigen, dass dies nicht stimmt. Wir wissen, dass gewisse Gene schon vorhanden sind, aber dass eine ungeheure Plastizität im Verhalten da ist, und wir absolut nicht die Sklaven unserer Gene sind.
Das Ziel von Michel und von Schaik ist es, Kultur und Biologie miteinander zu verbinden. Sie haben das Modell der drei Naturen des Menschen entwickelt, eine einfache Begrifflichkeit, um zu zeigen, dass wir nicht aus einem Guss sind, sondern auch kulturelle Dimensionen haben.
Die 1. Natur des Menschen (Jäger und Sammler)
Die 1., veranlagte Natur, das Jagen und Sammeln, hat sich vor 2,5 Mio. Jahren etabliert. Sie ist teilweise biologisch veranlagt und bedeutete Teamarbeit, Komplementarität, die einen jagen und die anderen sammeln und alles wird geteilt. Das Teilen ist das Erfolgsrezept, denn allein war man aufgeschmissen.
Wenn man das weiss, ist die menschliche 1. Natur ganz einfach zu verstehen: Wir haben Empathie, wir wollen einander helfen, weil das in beide Richtungen geht. Das bedingt ein grosses Gefühl für Gerechtigkeit und Gleichheit.
Wenn wir aber die letzten 5000 Jahre anschauen, dann scheint uns die Menschheitsgeschichte fremd. Trotzdem wollen die Menschen dieses «Gute» immer noch und das ist die Evidenz für unsere 1. Natur.
Damals war den Menschen ihr Ruf unheimlich wichtig. Das bedeutet, dass im Falle eines Unglücks, einer Verletzung zum Beispiel, Hilfe zu erwarten war. Die Gruppe leistete diese, wenn sie wusste, dass der Betroffene dasselbe tun würde.
In diesem System, in einer sozialen Gruppe, hat sich Mensch aufgehoben gefühlt. Wir wissen alle: Weder Macht noch alles Geld der Welt kann uns dies ersetzen.
Was sich auch zeigt ist, dass Menschen gerne zusammen etwas unternehmen, was zu einer Art Konformismus führt. Dies ist eine kleine Schattenseite der 1. Natur, weil es zum Ausschluss von Fremden führt.
Mit dieser 1. Natur werden alle Menschen geboren!
Die 2. Natur, die kulturelle Natur des Menschen
Unsere 2. Natur ist geprägt durch alles, was uns im Elternhaus, in der Schule, durch die Gesellschaft anerzogen worden ist. Wir meinen, dass sie natürlich ist, dass Dinge sich so verhalten müssen. Aber tatsächlich handelt es sich um Sitten und Gebräuche. Sie sind sehr hartnäckig und prägend, die 1. Natur im Vergleich eher wie ein Flüstern im Hintergrund, ein Bauchgefühl.
Diese Sitten sind nicht universell, führen aber zu der ganzen Aufsplitterung. Die kulturelle Vielfalt zeigt, wie plastisch menschliches Leben ist.
Die Konflikte, die wir heute in Gesellschaften und auch zwischen Ländern haben, sind alles kulturelle Konflikte. Das ist eine gute Nachricht, weil wir das ändern können, auch wenn die Kultur hartnäckig ist.
Mit dem Sesshaft werden kamen die Probleme
Mit dem Sesshaft werden kamen jede Menge Probleme in die Welt. Der Mensch brauchte Lösungen dafür. Zum Teil funktionierten diese gut, haben aber weitere Folgeprobleme aufgeworfen. Das bedeutet stetigen Wandel, der unsere Lebenswelt immer mehr beschleunigt, was auch dazu führt, dass die 1. und die 2. Natur immer weiter auseinanderdriften. Es kommt zu einer kulturellen Zerrissenheit.
Man fragt sich: Was ist richtig – was ist falsch? – Und alle wissen alles besser.
Die beiden Wissenschaftler führten Beispiele – auch aus dem Tierreich – an, um darzulegen, woher gewisse Vorstellungen kommen und weshalb sie bis heute bestehen. Ein Beispiel ist die Vorstellung über Sexualität und das Paarverhalten. Einige Tiere leben hochpromiskuitiv andere leben in Paaren – es gibt alles. Dies träfe für die Menschen auch zu, hätte es sich nicht entschieden, dass sie monogam leben müssen. Die Monogamie ist ein römisch-griechischer Import, eine christliche Koproduktion, zusammen mit der Erfindung des Eigentums: Es gab Vorräte, die beschützt werden mussten. Dies war Sache der Söhne in der Familie. Darum ging der Besitz vom Vater an den Sohn weiter. Darum wollte man sicher sein, dass es der eigene Sohn ist. Frauen holte man von ausserhalb, um Inzest zu vermeiden. Im Laufe dieser Entwicklung gerieten die Frauen ins Hintertreffen. Wir alle sind mit diesen Vorstellungen aufgewachsen. Aber es zeigt sich immer mehr, dass es nicht aufgeht.
Anhand vieler Beispiele zeigen Michel und von Schaik, warum. Diese Erkenntnisse können zu der notwendigen Veränderung führen! Doch zuerst müssen wir verstehen, dass vieles, das uns als normal erscheint, es eben gar nicht ist.
Die 3. Natur: Die Vernunftnatur
Um etwas zu ändern, brauchen wir unsere 3. Natur. Die 3. Natur des Menschen ist unsere Vernunftnatur. Sie weiss, was wir tun sollten.
Wir haben also drei Naturen in unserer Brust, die immer wieder unterschiedliche Dinge behaupten. Sie kommen aus unterschiedlichen Zeiten:
Die erste Natur stammt aus der Steinzeit (die untergegangene Welt), die zweite Natur hat Anteile aus verschiedenen Zeitaltern: zweitausend Jahre alt ist die religiöse Prägung, anderes stammt aus der Kindheit oder liegt weniger lang zurück. Die dritte Natur ist im Hier und Jetzt.
Im Hier und Jetzt können wir verstehen, dass der «Treuebruch» ein kulturelles Problem ist, auch dass die Männerherrschaft durch das Christentum (Herrschaftsreligion, Staatsreligion) religiös zementiert ist.
Alte Muster brechen weg
Seit etwa 70 Jahren brechen viele dieser alten Muster weg. Es scheint, dass der Mensch versucht neue Wege zu finden – solche, die passen. Es wird experimentiert, auch bei der Arbeit (Homeoffice) um auch wieder Zustände herzustellen, die unserer 1. Natur entsprechen.
Die letzte Frage, die wichtige Frage, ist: Was ist der Mensch? Wo fühlt er sich wohl?
Wir können nicht zurück. Also geht es darum neue Mittel und Wege zu finden, um Ungleichheit aufzuheben. Gibt es einen Weg zur 1. Natur?
Heute weiss man, dass soziale Ungleichheit, der Hauptfaktor für Gewalt in und zwischen Gesellschaften ist. Also ist es eine unserer ersten Hausaufgaben, die Welt gleicher zu gestalten.
Es war immer die erste Natur, das Bauchgefühl, das sagte, so ist es nicht gerecht. Darum gab es in der Geschichte immer wieder Proteste. Leider wissen wir von den Leuten, die sich aufgelehnt haben, nicht so viel, weil die Geschichtsschreibung immer denjenigen diente, die herrschten. Rebellion, Aufstände, Befreiung von der Herrschaft: Die Schweiz gilt als gutes Beispiel dafür, dass man die fremden Vögte davonjagen kann.
Diese Bewegung hin zur Demokratie der letzten 500 Jahre ist eine Bewegung hin zur 1. Natur, eine Bewegung zur Egalität, in der jede Stimme gehört werden soll.
Leider ist, so die beiden Wissenschaftler, diese Bewegung auf halbem Weg steckengeblieben, weil nur im Bereich der Herrschaft, nicht aber im Bereich des Besitzes, die Ungleichheit durchbrochen wurde. Mit der Aufklärung wurde der Besitz sogar zum Menschenrecht erklärt. Das Recht auf Besitz wurde als Recht der Bürger gesehen, um sie vor dem Zugriff des Staates und der Mächtigen zu schützen. Auch die Idee des Vererbens von Reichtum ist eine kulturelle Idee, um Männermacht zu etablieren. – Weil die Menschen es nicht besser wussten.
Michel und von Schaik stellen das Wissen zur Verfügung, um Veränderungsprozesse anzuregen
Was können wir also tun? Zurück geht es auf jeden Fall nicht mehr!
Die Antwort ist: Wir müssen die Aufklärung vollenden. Wir sollten anfangen miteinander ins Gespräch zu kommen, uns gegenseitig zu vertrauen, Ungleichheit zu bekämpfen. Dabei muss man schauen, was funktioniert und was nicht, die Welt ein bisschen umwandeln in eine, die besser zu uns passt. Weil schon einiges verändert wurde, wissen wir jetzt, dass es möglich ist. Wir können gewisse Bedingungen ändern.
Es geht darum, möglichst viel Demokratie zu haben, sodass niemand den Menschen vorschreiben kann, was sie zu denken haben. Es ist auch ein Lernprozess, einander wieder zu vertrauen, aufeinander zu hören, im Wissen, dass man eine Gemeinschaft ist und im selben Boot sitzt.
Das gilt für ein Land und für die ganze Welt. Wir müssen alle die Verantwortung übernehmen und mitmachen und nicht denken, die da oben machen sowieso, was sie wollen, denn das geht nur, wenn wir es zulassen.
Laut Michel und von Schaik ist die Schweiz dafür weltweit das beste Beispiel. n
Bücher von Kai Michel und Carel von Schaik: «Das Tagebuch der Menschheit», «Die Wahrheit über Eva» und neu «Mensch sein»
Evolutionsbiologe Carel von Schaik und der Historiker und Literaturwissenschaftler Kai Michel versuchten am 21. März durch ihren Vortrag «Endlich das Leben verstehen!» an der ZHAW Wädenswil zu erklären, wie es dazu kommen konnte, dass wir Menschen eine Existenz im Ausnahmezustand führen.
Text & Bild: Ingrid Eva Liedtke
Im gegenseitigen Gespräch und wechselseitigen Informationsaustausch zeigten die Autoren Gründe und Zusammenhänge auf, wie der Mensch in diesen Zustand, in dem er sich heute befindet, geraten konnte.
Die beiden Wissenschaftler räumten mit Missverständnissen über die Evolution und die menschliche Natur auf und zeigten auf, welche Macht die Kultur über uns besitzt.Dabei zeigt sich, dass es durchaus heikel sein kann, mit Evolutionsbiologie menschliches Verhalten zu erklären. Allzu oft wurden damit vermeintliche Unterschiede zwischen Menschengruppen (Frauen und Männer oder verschiedene Ethnien) als natürlich und unverrückbar dargestellt und oft auch Privilegien und Machtansprüche mit Rückgriff auf «die Natur des Menschen» gerechtfertigt.
Dieses Gefühl, das viele kennen
Viele Menschen haben das Gefühl, dass mit dem Leben etwas nicht stimmt. Depressionen und Angststörungen grassieren, Krisen, Kriege und Katastrophen dominieren die Nachrichten. Die längste Zeit redete die Kirche uns ein, dies alles läge an der menschlichen Sündhaftigkeit. Eine Ratgeberindustrie verordnet Selbstoptimierung. Van Schaik und Michel glauben, es sei höchste Zeit für eine evolutionäre Aufklärung: Wir sind nicht schuld! Wir müssen uns nur endlich selbst verstehen!
Zu Anfang, so zeigen van Schaik und Michel auf, ist es entscheidend, wann man mit der Betrachtung der Menschheitsgeschichte beginnt. Oft werden nur die letzten 5000 Jahre überblickt, die Zeit, aus der es schriftliche Zeugnisse gibt. Doch wie Carel von Schaik darlegt, ist diese Zeitspanne nur ein winziger Abschnitt auf dem Millionen Jahre langen Strang der Menschheitsentwicklung (8 Sekunden gemessen an einer Stunde). Allerdings scheint es, als sei in diesen 8 Sekunden, als wir von Jägern und Sammlern zu Sesshaften wurden, Entscheidendes geschehen.
Da es bis vor kurzem einige Gruppen gab, die noch als nomadische Jäger und Sammler lebten, wissen wir, dass es in der Zeit kaum Kriege und keine Ungleichheit gab. Diese Gruppen hat man in den letzten 150 Jahren eifrig studiert und es ergab sich ein einheitliches Bild: Wir haben ganz anders gelebt!
Sowohl bei Tieren wie auch beim Menschen zeigt sich, dass die Nische, in der man lebt, die Lebensweise, das Habitat, die Psychologie einer Art, ihre Präferenzen und Sozialstruktur usw. prägt. Daraus ist zu folgern, dass die Erste Natur des Menschen, das heisst die veranlagte Seite der menschlichen Natur, zu einer Zeit entstanden ist, die nichts mehr mit unserer heutigen Lebensweise zu tun hat. Das grosse Thema von Kai Michel und Carel van Schaik ist diese Erste Natur zu verstehen und aufzuzeigen, was danach passierte.
Was ist die menschliche Natur?
Wenn man die letzten tausend Jahre betrachtet und all die Kriege, Ungleichheiten, Krankheiten, Epidemien usw. sieht und sich fragt: «Was ist die menschliche Natur?», könnte man denken, es gehe um Egoismus und Konkurrenz und um Krieg.
Lange nahmen die Biologen an, dass es für alles ein Gen gebe. Man glaubte, dass wir, sozusagen, genetisch gezwungen seien, gewisse Dinge zu tun.
Neuere wissenschaftliche Methoden zeigen, dass dies nicht stimmt. Wir wissen, dass gewisse Gene schon vorhanden sind, aber dass eine ungeheure Plastizität im Verhalten da ist, und wir absolut nicht die Sklaven unserer Gene sind.
Das Ziel von Michel und von Schaik ist es, Kultur und Biologie miteinander zu verbinden. Sie haben das Modell der drei Naturen des Menschen entwickelt, eine einfache Begrifflichkeit, um zu zeigen, dass wir nicht aus einem Guss sind, sondern auch kulturelle Dimensionen haben.
Die 1. Natur des Menschen (Jäger und Sammler)
Die 1., veranlagte Natur, das Jagen und Sammeln, hat sich vor 2,5 Mio. Jahren etabliert. Sie ist teilweise biologisch veranlagt und bedeutete Teamarbeit, Komplementarität, die einen jagen und die anderen sammeln und alles wird geteilt. Das Teilen ist das Erfolgsrezept, denn allein war man aufgeschmissen.
Wenn man das weiss, ist die menschliche 1. Natur ganz einfach zu verstehen: Wir haben Empathie, wir wollen einander helfen, weil das in beide Richtungen geht. Das bedingt ein grosses Gefühl für Gerechtigkeit und Gleichheit.
Wenn wir aber die letzten 5000 Jahre anschauen, dann scheint uns die Menschheitsgeschichte fremd. Trotzdem wollen die Menschen dieses «Gute» immer noch und das ist die Evidenz für unsere 1. Natur.
Damals war den Menschen ihr Ruf unheimlich wichtig. Das bedeutet, dass im Falle eines Unglücks, einer Verletzung zum Beispiel, Hilfe zu erwarten war. Die Gruppe leistete diese, wenn sie wusste, dass der Betroffene dasselbe tun würde.
In diesem System, in einer sozialen Gruppe, hat sich Mensch aufgehoben gefühlt. Wir wissen alle: Weder Macht noch alles Geld der Welt kann uns dies ersetzen.
Was sich auch zeigt ist, dass Menschen gerne zusammen etwas unternehmen, was zu einer Art Konformismus führt. Dies ist eine kleine Schattenseite der 1. Natur, weil es zum Ausschluss von Fremden führt.
Mit dieser 1. Natur werden alle Menschen geboren!
Die 2. Natur, die kulturelle Natur des Menschen
Unsere 2. Natur ist geprägt durch alles, was uns im Elternhaus, in der Schule, durch die Gesellschaft anerzogen worden ist. Wir meinen, dass sie natürlich ist, dass Dinge sich so verhalten müssen. Aber tatsächlich handelt es sich um Sitten und Gebräuche. Sie sind sehr hartnäckig und prägend, die 1. Natur im Vergleich eher wie ein Flüstern im Hintergrund, ein Bauchgefühl.
Diese Sitten sind nicht universell, führen aber zu der ganzen Aufsplitterung. Die kulturelle Vielfalt zeigt, wie plastisch menschliches Leben ist.
Die Konflikte, die wir heute in Gesellschaften und auch zwischen Ländern haben, sind alles kulturelle Konflikte. Das ist eine gute Nachricht, weil wir das ändern können, auch wenn die Kultur hartnäckig ist.
Mit dem Sesshaft werden kamen die Probleme
Mit dem Sesshaft werden kamen jede Menge Probleme in die Welt. Der Mensch brauchte Lösungen dafür. Zum Teil funktionierten diese gut, haben aber weitere Folgeprobleme aufgeworfen. Das bedeutet stetigen Wandel, der unsere Lebenswelt immer mehr beschleunigt, was auch dazu führt, dass die 1. und die 2. Natur immer weiter auseinanderdriften. Es kommt zu einer kulturellen Zerrissenheit.
Man fragt sich: Was ist richtig – was ist falsch? – Und alle wissen alles besser.
Die beiden Wissenschaftler führten Beispiele – auch aus dem Tierreich – an, um darzulegen, woher gewisse Vorstellungen kommen und weshalb sie bis heute bestehen. Ein Beispiel ist die Vorstellung über Sexualität und das Paarverhalten. Einige Tiere leben hochpromiskuitiv andere leben in Paaren – es gibt alles. Dies träfe für die Menschen auch zu, hätte es sich nicht entschieden, dass sie monogam leben müssen. Die Monogamie ist ein römisch-griechischer Import, eine christliche Koproduktion, zusammen mit der Erfindung des Eigentums: Es gab Vorräte, die beschützt werden mussten. Dies war Sache der Söhne in der Familie. Darum ging der Besitz vom Vater an den Sohn weiter. Darum wollte man sicher sein, dass es der eigene Sohn ist. Frauen holte man von ausserhalb, um Inzest zu vermeiden. Im Laufe dieser Entwicklung gerieten die Frauen ins Hintertreffen. Wir alle sind mit diesen Vorstellungen aufgewachsen. Aber es zeigt sich immer mehr, dass es nicht aufgeht.
Anhand vieler Beispiele zeigen Michel und von Schaik, warum. Diese Erkenntnisse können zu der notwendigen Veränderung führen! Doch zuerst müssen wir verstehen, dass vieles, das uns als normal erscheint, es eben gar nicht ist.
Die 3. Natur: Die Vernunftnatur
Um etwas zu ändern, brauchen wir unsere 3. Natur. Die 3. Natur des Menschen ist unsere Vernunftnatur. Sie weiss, was wir tun sollten.
Wir haben also drei Naturen in unserer Brust, die immer wieder unterschiedliche Dinge behaupten. Sie kommen aus unterschiedlichen Zeiten:
Die erste Natur stammt aus der Steinzeit (die untergegangene Welt), die zweite Natur hat Anteile aus verschiedenen Zeitaltern: zweitausend Jahre alt ist die religiöse Prägung, anderes stammt aus der Kindheit oder liegt weniger lang zurück. Die dritte Natur ist im Hier und Jetzt.
Im Hier und Jetzt können wir verstehen, dass der «Treuebruch» ein kulturelles Problem ist, auch dass die Männerherrschaft durch das Christentum (Herrschaftsreligion, Staatsreligion) religiös zementiert ist.
Alte Muster brechen weg
Seit etwa 70 Jahren brechen viele dieser alten Muster weg. Es scheint, dass der Mensch versucht neue Wege zu finden – solche, die passen. Es wird experimentiert, auch bei der Arbeit (Homeoffice) um auch wieder Zustände herzustellen, die unserer 1. Natur entsprechen.
Die letzte Frage, die wichtige Frage, ist: Was ist der Mensch? Wo fühlt er sich wohl?
Wir können nicht zurück. Also geht es darum neue Mittel und Wege zu finden, um Ungleichheit aufzuheben. Gibt es einen Weg zur 1. Natur?
Heute weiss man, dass soziale Ungleichheit, der Hauptfaktor für Gewalt in und zwischen Gesellschaften ist. Also ist es eine unserer ersten Hausaufgaben, die Welt gleicher zu gestalten.
Es war immer die erste Natur, das Bauchgefühl, das sagte, so ist es nicht gerecht. Darum gab es in der Geschichte immer wieder Proteste. Leider wissen wir von den Leuten, die sich aufgelehnt haben, nicht so viel, weil die Geschichtsschreibung immer denjenigen diente, die herrschten. Rebellion, Aufstände, Befreiung von der Herrschaft: Die Schweiz gilt als gutes Beispiel dafür, dass man die fremden Vögte davonjagen kann.
Diese Bewegung hin zur Demokratie der letzten 500 Jahre ist eine Bewegung hin zur 1. Natur, eine Bewegung zur Egalität, in der jede Stimme gehört werden soll.
Leider ist, so die beiden Wissenschaftler, diese Bewegung auf halbem Weg steckengeblieben, weil nur im Bereich der Herrschaft, nicht aber im Bereich des Besitzes, die Ungleichheit durchbrochen wurde. Mit der Aufklärung wurde der Besitz sogar zum Menschenrecht erklärt. Das Recht auf Besitz wurde als Recht der Bürger gesehen, um sie vor dem Zugriff des Staates und der Mächtigen zu schützen. Auch die Idee des Vererbens von Reichtum ist eine kulturelle Idee, um Männermacht zu etablieren. – Weil die Menschen es nicht besser wussten.
Michel und von Schaik stellen das Wissen zur Verfügung, um Veränderungsprozesse anzuregen
Was können wir also tun? Zurück geht es auf jeden Fall nicht mehr!
Die Antwort ist: Wir müssen die Aufklärung vollenden. Wir sollten anfangen miteinander ins Gespräch zu kommen, uns gegenseitig zu vertrauen, Ungleichheit zu bekämpfen. Dabei muss man schauen, was funktioniert und was nicht, die Welt ein bisschen umwandeln in eine, die besser zu uns passt. Weil schon einiges verändert wurde, wissen wir jetzt, dass es möglich ist. Wir können gewisse Bedingungen ändern.
Es geht darum, möglichst viel Demokratie zu haben, sodass niemand den Menschen vorschreiben kann, was sie zu denken haben. Es ist auch ein Lernprozess, einander wieder zu vertrauen, aufeinander zu hören, im Wissen, dass man eine Gemeinschaft ist und im selben Boot sitzt.
Das gilt für ein Land und für die ganze Welt. Wir müssen alle die Verantwortung übernehmen und mitmachen und nicht denken, die da oben machen sowieso, was sie wollen, denn das geht nur, wenn wir es zulassen.
Laut Michel und von Schaik ist die Schweiz dafür weltweit das beste Beispiel. n
Bücher von Kai Michel und Carel von Schaik: «Das Tagebuch der Menschheit», «Die Wahrheit über Eva» und neu «Mensch sein»