Richterswil

Begegnung auf Augenhöhe

Ende August 2023 wurde das erste Mal der «Treffpunkt für Betreuende und Pflegende» durchgeführt und findet seitdem einmal im Monat statt. Er soll Betroffenen nicht nur eine Auszeit, sondern auch Gelegenheit bieten, sich mit anderen Menschen in ähnlicher Lage auszutauschen.
Text & Bild: Reni Bircher

Als sich Richterswil als eine der ersten Gemeinde beim Projekt «Lokal vernetzt älter werden» der Prävention und Gesundheitsföderung Kanton Zürich angemeldet hat, brachten sich etliche Seniorinnen und Senioren ein, gründeten Arbeitsgruppen, schmiedeten Pläne für die Bevölkerung 60+. Die Gruppe «Betreuung/Begegnung» stellte fest, dass es in Richterswil kein Angebot gibt für Menschen, die eine Angehörige, einen Angehörigen, pflegen. So wurde das Konzept für einen Treffpunkt für betreuende Angehörige in Zusammenarbeit mit der Pro Senectute erarbeitet. Sie trifft sich monatlich in den Räumlichkeiten des Tertianums an der Gartenstrasse.
Dass uns nahestehende Personen pflegebedürftig werden, kann schleichend, aber auch ganz plötzlich passieren. In jedem Fall stellt es eine Herausforderung dar, sich der neuen Lebenssituation anzupassen und sich darin zurechtzufinden, sowohl für den Erkrankten, wie auch den Menschen, der sich um dessen Wohlbefinden im Alltag kümmert. Das kostet Kraft.
Der noch junge Treffpunkt bietet den Betreuenden die Möglichkeit, während zwei Stunden Energie zu tanken, sich mit anderen Menschen auszutauschen, Erlebnisse zu teilen oder einfach mal den «Kopf zu lüften».
Der Richterswiler Anzeiger sprach mit zwei Mitgliedern des Organisationsteams, Katharina Gubler und Hans Preisig:

Wie viele Leute umfasst Euer Organisationsteam?
Katharina Gubler: Wir sind acht Leute. Davon begleiten jeweils zwei oder drei Personen den Treffpunkt.

Wie habt Ihr Euch auf die Aufgabe
des Treffpunktes vorbereitet?
Katharina: Im Vorfeld luden wir eine recht grosse Anzahl Betroffener ein, um von ihnen direkt zu erfahren, wo sie Unterstützung wünschen, welche Bedürfnisse sie haben. An diesem Anlass wurde uns signalisiert, dass die Gründung einer monatlichen Austauschgruppe sehr willkommen ist.
Hans Preisig: Viele Geschichten waren sehr eindrücklich und für uns wertvoll. Danach trafen wir uns während eines Jahres in der Gruppe, um ein Konzept für unseren Treffpunkt zu erarbeiten.

Seid Ihr persönlich mit dem Thema Pflege konfrontiert worden?
Hans: Meine Mutter und Schwiegermutter waren dement.
Katharina: Ich habe lange Zeit in der Pflege gearbeitet.
Ihr dürft ein Stübli im Tertianum nutzen;
wie kam es dazu?
Hans: Das hat ein Gruppenmitglied in die Wege geleitet und das Tertianum stellte uns diese zur Verfügung. Die zentrale Lage ist ideal; ausserdem kommen auch Leute zum Treffpunkt, die in den Alterswohnungen des Tertianums leben.

Wie läuft ein solches Treffen ab?
Hans: Alle tragen ein Namensschildchen. Jemand der Organisierenden macht die Einführung und es gibt eine kurze Befindlichkeitsrunde. Möglich ist ein Input, doch meiner Meinung nach sind die Gespräche am wertvollsten, wenn wir möglichst wenig eingreifen. Es entsteht eine eigene Dynamik durch die Teilnehmenden, in dem sie ihre Sorgen, Probleme und Erfahrungen teilen, aber auch preisgeben, wie sie in bestimmten Situationen reagieren oder welche Strategien sie im Umgang mit den Pflegebedürftigen entwickelt haben.
Zwischendurch machen wir eine Kaffeepause, dann kommt es zu zweit oder dritt zu Gesprächen diverser Natur, bevor alle wieder in der Runde zusammenfinden. Manchmal ergibt sich in der Pause das Thema, auf das man anschliessend eingehen will.
Möglicherweise entwickeln sich in der Gruppe Kontakte, die dann ausserhalb gepflegt werden, das wäre schön. Einen Gesprächspartner zu haben ist ungemein wichtig.
Katharina: Anfangs war ich tatsächlich etwas unsicher und wollte viel moderieren, merkte aber schnell, dass das nicht nötig ist. Die Teilnehmenden sind einfach froh, dass ihnen eine Plattform geboten wird.
Hans: Genau. Man kann vielleicht eine Anekdote erzählen, aber dann ist die Gesprächsrunde mehr oder weniger ein Selbstläufer.
Ich persönlich mag es, an einem Tisch zu sitzen, aber andere Organisierende bilden einen Stuhlkreis. Das ist jedem selber überlassen.
Katharina: Am 20. März besucht eine Spitex-Fachfrau, die sich auf Demenz spezialisiert hat, unseren Treff zu einer Fragestunde und gibt Antworten auf offene Fragen, sowohl an die Betreuenden als auch an die Organisierenden. Sollte spezifisch ein Referat gewünscht werden, würde die Dame das gerne machen.
Einmal brachte ich Bücher mit, von denen jemand welche nach Hause nahm, sie durchlas und Notizen einiger Passagen machte. Diese trug sie bei einem nächsten Treffen vor. Das war faszinierend und sehr bewegend.

Wie viele besuchen den Treffpunkt?
Katharina: Momentan sind es fünf Leute, die das Angebot in Anspruch nehmen. Wir würden uns sehr freuen, wenn noch weitere zu uns stossen und die Gespräche durch neue Erfahrungen bereichern und erweitern würden.
Hans: Dabei sprechen wir nicht nur Pflegende von Demenzkranken an, denn es gibt Erkrankungen und Behinderungen vielerlei Art, die eine Betreuung nötig machen. Da sind wir für alle offen.

Abgesehen von der psychischen und manchmal auch physischen Belastung, was bedrückt die Pflegenden in ihrem Alltag?
Hans: Im Laufe einer Erkrankung kann sich ein Mensch sehr verändern, ist nicht mehr der, den man gekannt hat. Es kommt vor, dass dieser Schuldzuweisungen macht den Angehörigen gegenüber, dass dieser sich nicht um ihn kümmere, ihn allein lasse, solche Sachen. Auch wenn sich die oder der Beschimpfte bewusst ist, dass ihn keine Schuld trifft, nagen diese Vorwürfe am Selbstwertgefühl und kostet weitere Kraft, um diese negativen Gefühle von sich zu weisen.
Die Frage ist doch, wie belastend die Aufgabe auf den Einzelnen wirkt, wie sehr sie ihn «auffrisst».
Katharina: Schuldgefühle sind wirklich ein grosses Thema. Von einem Betreuenden wird automatisch verlangt, dass er «funktioniert». Das ist aber keineswegs einfach.
Hans: Manche Angehörigen fürchten sich davor, dass beispielsweise eine demente Person weglaufen könnte und dann von der Polizei aufgegriffen wird. Erfahrungen haben jedoch gezeigt, dass die Polizei in solchen Fällen immer sehr freundlich und hilfsbereit war.

Den ersten Schritt zu wagen und sich Hilfe zu suchen, ist oftmals schwer. Welche Empfehlung habt Ihr für Leute, die unsicher sind, ob sie sich einem Treffpunkt anschliessen wollen?
Katharina: Jede und jeder darf am Treffpunkt teilnehmen. Für einen ersten Kontakt sollte man uns anrufen oder schreiben, um einen ersten Eindruck eines solchen Nachmittags zu bekommen. Wer sich dann anmeldest, muss nicht zwangsläufig jedes Mal dabei sein.
Hans: Eine Anmeldung ist von Vorteil, vor allem beim ersten Mal. Im Gespräch entsteht eine Vertrauensbasis. An dem Treffen können wir speziell auf die Neuankommenden eingehen.
Wir weisen niemanden ab, der sich ganz spontan für eine Teilnahme entscheidet.

Habt Ihr eine Lösung parat für Leute, die keinen Ersatz haben für die Betreuung ihrer Angehörigen in diesen zwei Stunden?
Katharina: Um sich eine Pause zu gönnen, braucht es Ersatz in der Betreuung. Im Notfall können Leute mit entsprechender fachlicher Kompetenz aus unserer Gruppe einspringen. Weitere Angebote können im Voraus in Absprache mit InfoPunkt Alter erfragt und organisiert werden.

Welche Erfahrungen habt Ihr bisher gemacht mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern?
Hans: Oftmals sind sie froh zu merken, dass sie mit ihren Ängsten und Sorgen nicht alleine sind. Der Erfahrungsaustausch ist eine Bereicherung und mag sogar jemanden darin bestärken, sich als betreuende Person eine Auszeit zu gönnen.
Katharina: Ich finde, die Leute sind sehr empfänglich für vieles.
Mir ist wichtig, dass unsere Gäste wissen, dass zwischen allen Teilnehmern eine Vertrauensbasis besteht. Ihre persönlichen Geschichten bleiben in diesem Raum, in dem sie geteilt wurden.
Gegenseitige Wertschätzung ist ein wichtiger Punkt. Die Gefühle des anderen sollen nicht negiert werden, denn jeder geht mit seinem Schicksal anders um, und das muss akzeptiert werden.
Hans: Unbedingt! Die Gruppe hat Vertrauen zu uns, und wir zu ihnen. Die Begegnung auf Augenhöhe ist von grosser Bedeutung. Manchmal braucht es zwei Anläufe, bis jemand spürt, ob aus diesen Treffen etwas Positives mitgenommen werden kann.
Als wertvoll empfinde ich, dass wir nicht in einer Geberrolle verweilen, sondern auch viel zurück bekommen. Da war beispielsweise eine Frau bei uns, die klargestellt hat, dass sie nur ein einziges Mal das Treffen besucht – möglicherweise aus reiner Neugierde, um herauszufinden, was wir hier machen. Sie berichtete, dass sie und ihr Mann ein sehr schönes Leben zusammen geführt hätten. Er wurde in späteren Jahren dement, sei aber lieb mit ihr geblieben. Besagte Frau nahm die Erkrankung als weiteren Lebensabschnitt, den sie so akzeptiert hat. Ich fand das toll, dass sie das in die Runde eingebracht hat. Das war sehr eindrücklich.
Katharina: Das war es. Solche Schicksalsschläge bringen mich zum Nachdenken, wie ich wohl in so einer Situation handeln würde …
Was wir nicht können, ist, den Betroffenen ihre Last abnehmen. Unsere Aufgabe ist es, mitzufühlen, aber nicht mitzuleiden; oder gegebenenfalls andere Hilfsangebote oder Institutionen zur Entlastung zu vermitteln. Am Treffpunkt geniesse ich es sehr, dass ich im Gegensatz zum früheren Berufsleben in der Freiwilligenarbeit mehr Raum und Zeit für die Menschen habe. Nichts ist durchgetaktet.

Führt Ihr eine Liste über die Teilnehmer?
Hans: Für die Pro Senectute ist es wichtig zu wissen, wie viele Teilnehmende wir begrüssen dürfen, denn sie bekommt entsprechend Subventionen vom Bund. Es werden aber keine Namen oder Details bekannt gegeben.
Katharina: Für uns notieren wir die Kontaktdaten aller Teilnehmenden, um sie im Notfall kontaktieren zu können.

Am 27. April seid Ihr am Frühlingsmarkt mit einem Stand vor Ort …
Hans: Ja, genau. Dort können sich alle informieren und sich ein Bild von unserem Treffpunkt machen. n

Treffpunkt für Betreuende und Pflegende
«Seestübli» im 3. Stock des Tertianum, Gartenstrasse 17, Richterswil; ein Lift ist vorhanden.
Daten sind im Veranstaltungskalender dieser Zeitung zu entnehmen.
Anmeldung & Info: Ruth Diem, Tel. 044 784 25 14, rhdiem@bluewin.ch oder
Katharina Gubler, Tel. 079 563 02 34,
k_gubler@bluewin.ch

Entlastungsangebote: InfoPunkt Alter, Gabriela Giger, Tel. 044 687 13 32, gabriela.giger@pszh.ch

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