Die Wädenswilerin Sabine Zgraggen ist katholische Klinikseelsorgerin. Sie leitet die Fachstelle für Spital- und Klinikseelsorge des Kantons Zürich. Gerade zum momentanen Zeitpunkt ist es interessant zu erfahren, welche Aufgaben Seelsorgerinnen und Seelsorger wahrnehmen und welche Werte bei ihrer Arbeit wegleitend sind.
Text: Ingrid Eva Liedtke, Bild: zvg
Sabine Zgraggen ist 1969 in Berlin Kreuzberg geboren und mit dem katholischen Glauben aufgewachsen. «Berlin ist, was den christlichen Glauben betrifft, eine Diaspora. Die Kirche mit ihren farbigen Fenstern, mit dem Weihrauch und den Ritualen war für mich eine andere Dimension, ein schöner, spiritueller Raum, der mir auch den Zugang zur Kunst eröffnete. Der Katholizismus ist sinnlich. In diesem Umfeld konnte ich spüren, es gibt etwas anderes, Höheres.»
Sabine Zgraggen war engagiert in Jugendgruppen. Man habe sie dort wahrgenommen und gefördert. Das habe sie von klein auf weitergebracht. Als sie dann später nach Chur kam, war sie froh, dass sie in eine Pfarrei gehen konnte, in ein vertrautes Umfeld. Sie sagt: «Ich verknüpfe mit der katholischen Kirche durchwegs positive Erlebnisse.» Nach ihrer Erstausbildung als diplomierte Krankenschwester in Berlin wechselte Sabine Zgraggen im Juni 1992 in die Schweiz nach Chur ins Kreuzspital. Ab 1999 studierte sie Theologie. Seit 2005 arbeitet sie in der Psychiatrie-Seelsorge und 2019 übernahm sie die Leitung der Spital- und Klinikseelsorge im Kanton Zürich. Das sind rund 41 Seelsorgende an 33 Standorten.
Und wie beschreibt sie sich selbst? «Ich bin ein innerlicher Mensch», sagt sie, «und ein künstlerischer Mensch.» Was bedeutet das? «Ich beo-bachte viel. Ich bin spirituell. Ich denke über vieles nach.» So geht sie an alles heran, auch im Beruf.
«15 Jahre lang war ich Psychiatrie-Seelsorgerin, jetzt bin ich im Management. Es ist herausfordernd, diese innere künstlerisch-dialogische Herangehensweise hintanzustellen. Neuerdings geht es nicht um Biographisches von Patienten, oder «innere Universen», sondern um Anträge, die Funktion richtig auszufüllen, das System Kirche zu verstehen, Techniken des Managements anzuwenden. Kurz, andere Fähigkeiten sind wichtig geworden. Ich war mir nicht sicher, ob ich das kann. Aber, wenn man eine fünfköpfige Familie lenken kann, dann hat man gute Voraussetzungen», sagt Sabine Zgraggen und lächelt selbstbewusst. «Ich kann die Übersicht gut behalten.»
Sabine Zgraggen hat drei Kinder im Alter von 20, 19 und 17. Sie lebt mit ihrer Familie seit 12 Jahren in Wädenswil und teilt sich die familiären Aufgaben mit ihrem Mann. Ihre Wohnung bezeichnet sie schon beim Eintreten als kreatives Chaos. Überall hängen selbstgemalte Bilder und Fotos. Als ihre Hobbies nennt sie zeitgenössische Kunst und Fotografie.
Kann diese neue berufliche Ausrichtung für sie befriedigend sein? «Ja», meint Zgraggen, «wenn man seine Stärken leben kann. Hat man die systemischen Abläufe verstanden, kann man gestalten. Ich kann sogar meine Kreativität einbringen. Ich habe eine Drehscheibenfunktion, ich bin sozusagen das Scharnier zwischen der Basis, der Seelsorgeentwicklung und der Kantonalkirche.» Die Seelsorge stehe allen Menschen zur Verfügung, sagt Zgraggen, egal welcher Konfession, selbst wenn jemand aus der Kirche ausgetreten ist.
«In der spirituellen Seelsorge arbeiten wir nicht einfach religiös. Wir versuchen nicht Menschen vom Glauben zu überzeugen, sondern stellen uns zur Verfügung als Zuhörer und versuchen die Ressourcen der Patienten zu erfassen und zu stärken. Wir gehen mit ihnen ihren individuellen Weg. Im weitesten Sinne bringen wir Trost und Hoffnung – aus dieser Begegnung heraus.»
«Seelsorge auf dem Weg», so will diese Dienstleistung im Auftrag der Kirche verstanden werden. Unterstützung im Bereich der Krisenintervention, der Sinnfindung, Begleitung bei Wertekonflikten oder Identitätsfragen.
Wie wichtig ist die Seelsorge im Kontext von Krankheit und Heilung oder Sterben und Tod?
«Wenn man krank wird, erhalten die existenziellen Fragen nach Sinn und Hilfe eine zentrale Bedeutung», sagt Sabine Zgraggen. «Die Bereitschaft, sich vermehrt auseinanderzusetzen ist da. Wir sind ein niederschwelliges Angebot. Bis eine Psychologin ans Bett kommt, braucht es eine ärztliche Verordnung. Aber wir sind nicht Psychologen, unser Hauptthema ist die Spiritua-lität. Viele Menschen sind noch christlich verwurzelt. Mit uns können sie ins Gespräch kommen, über Dinge sprechen, die sie beschäftigen. Dafür sind wir sehr gut ausgebildet.»
Einer der grössten Ängste des Menschen ist die vor dem Tod. Dazu kommt die Frage nach dem «Danach». Sabine Zgraggen: «Ich habe lange auf Demenzabteilungen gearbeitet, auch mit Schwerkranken, habe Menschen beim Sterben begleitet. Man muss die menschliche Freiheit grossdenken. Dann versteht man: Es kann keinen Zaubertrick für ein Leben nach dem Tod geben. Alles ist Reifung, ist prozessartig. Als Christin ist mir klar, dass die menschliche Seele ‹durchlässig› ist, dass wir miteinander verbunden sind. Ich treffe in der Psychiatrie-Seelsorge die ganze Zeit auf solche Erfahrungen von Menschen, die von Eindrücken ihrer Verstorbenen, von Engeln, berichten. Ich gehe davon aus, dass es eine geistige Welt gibt und dass sie beseelt ist.
Diese Menschen wenden sich an uns in der Hoffnung, von jemandem besser verstanden zu werden. Im christlichen Kontext heisst das: Jesus ist uns nur vorausgegangen, um für uns einen Platz vorzubereiten. Es wird also etwas Neues kommen, das je nach Seele individuell und doch mit allem verbunden ist. Vielleicht gibt es einen ‹roten Faden›. Die katholische Lehre ‹von den letzten Dingen› ist im Übrigen eine positive, die nicht durch menschliche Sünde und Schuld – wie man vielleicht annimmt – nur verdorben ist. Die Vorstellung vom Purgatorium, dem Fegefeuer, verstehe ich so, dass dies nur ein geistiger Ort des Übergangs ist, wo man nochmals innehalten und das gelebte Leben betrachten und Falsches bereuen kann. Es ist ein Ort der Einsicht und dadurch auch der Läuterung.
Immer wieder stellt sich uns die ewige Frage: Muss erst alles durch Krieg und Leid zugrunde gehen? Die katholische Lehre sagt: Nein, die Schöpfung ist gut und lässt sich deshalb in der Einheit mit Gott, mit dem Göttlichen, ‹verlängern›. Es gibt die Zusage Gottes: Ich werde wieder gute Anteile im Jenseits vorfinden, das, was echt ist und durchdrungen von Liebe. Diese Inhalte der Theologie finde ich sehr schön.»
Es ist Zeit, dass sich etwas ändert
Trotz all dieser schönen Konzepte, die katholische Kirche ist einmal mehr ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Wieder sind Meldungen über Gewalt und Missbrauch von Kindern und Jugendlichen an die Öffentlichkeit gelangt. Es sind Tatbestände, die auch Sabine Zgraggen als Katholikin erschüttern. «Es ist Zeit, dass sich etwas ändert, schon lange!» – das findet auch sie.
Gibt es einen systemischen Zusammenhang? Das sagt Sabine Zgraggen zu den neusten Missbrauchs-Enthüllungen: «Man weiss aus Untersuchungen (Zgraggen verweist auf einen Artikel: www.katholisch.de/artikel/14744-studie-zoelibat-beguenstigt-sexuellen-missbrauch), dass etwa die Hälfte der Priester, die bei der Weihe das Zölibat versprechen, es halten können und gut damit leben. Die andere Hälfte schafft es nicht. Das Thema ist sehr tabubehaftet. Wenn das Bedürfnis nach Partnerschaft und gelebter Sexualität unterdrückt oder seelisch abgespalten werden muss, entsteht eine grosse Not, die unterschiedlich bewältigt wird. Da liegen dann Heimlichkeiten, und bei pathologischen Veranlagungen auch Übergriffigkeit, nahe. Missbrauch an Minderjährigen ist immer eine schwere Straftat.
Ich war kürzlich an der Veranstaltung ‹So nicht!› in St. Gallen. Es kamen 500 Leute, hauptsächlich Seelsorgende, zu dieser Aktion. Ein Gefängnisseelsorger sprach. Er habe einen Freund, der jahrelang als Priester mit Kindern gearbeitet habe. Er wurde von seinen Vorgesetzten faktisch dazu gezwungen. Man habe ihm nicht zugehört, als er sich nicht dafür geeignet sah und um einen anderen Posten bat. Solches ist tragisch für alle Beteiligten. Die Kirche schaut nicht gut genug, welche Fähigkeiten ihre Priester haben, sondern schicken diese an eine Arbeitsstelle, verteilen Aufgaben, die zu erfüllen sind, ohne zu schauen, wie es ihnen wirklich geht damit. Das ist ein grosses Versagen der Führung, ein Missbrauch an den Fähigkeiten der Leute.»
Wie kann man mit diesem Wissen weiterarbeiten? «Wir sind in der Seelsorge, in gewisser Hinsicht, die ‹Avantgarde›. Wir arbeiten sehr transparent mittels Strategien und Konzepten, die wir vor Ort überprüfen und indem wir uns an den Spitälern interdisziplinär integrieren und Feedbacks einholen. Wir sind verlässliche Ansprechpersonen. Wir haben somit den Realitätscheck von Aussenstehenden, sind professionalisiert.»
Warum wird das Zölibat nicht endlich abgeschafft? «Ich weiss es nicht», sagt Zgraggen und zieht die Augenbrauen hoch. «Das ist kirchengeschichtlich entstanden. Was mich aber nachdenklich stimmt, ist, dass wir in den katholischen Ost-Kirchen schon längstens verheiratete Priester haben. Warum lernt man nicht von dem, was schon da ist? Ich kenne auch einen Priester, der geheiratet hat.» Sie lacht. «Er ist sogar schon wieder geschieden. Er darf wieder praktizieren. Ich weiss nicht, wie das teilweise gedreht wird.»
So nicht!
Sabine Zgraggen ist eine kraftvolle Erscheinung, eine moderne emanzipierte Frau. Sie möchte sich am liebsten nicht mit diesen Zölibats-Fragen befassen müssen – als Frau, die sowieso von Amtes wegen davon ausgeschlossen wurde. Da sie aber in der Reformbewegung «reformjetzt.ch» engagiert ist, drängen sie sich natürlich auf. «In einer Woche haben schon über 2000 Leute, das Anliegen unterschrieben. Die Bewegung ist erwachsen aus der Betroffenheit von Seelsorgern.» So nicht! heisst die Initiative, die sich für einen Kultur- und Strukturwandel einsetzt.
Als weitere Frage drängt sich folgende auf: Wäre es besser, wären mehr Frauen in den kirchlichen Ämtern? Die Antwort kommt schnell und klar: «Ja! Die Kultur des Umgangs würde sich ändern. In der Schweiz, zum Beispiel, könnte man vieles schon ohne Rom ausprobieren. Es gibt sehr gute Theologinnen, Professorinnen. Warum sind sie in gewissen Gremien nicht beratend dabei? Manchmal überfordert mich das Thema auch, und dann versuche ich mich einfach auf meinen Bereich, die Spitalseelsorge, zu konzentrieren.»
Aber das Thema der Frau in der Kirche ist auf dem Tisch, und Sabine Zgraggen sieht für Frauen dann doch einiges an Entwicklungspotenzial, schon heute. Jede Frau könne Theologie studieren. «Ich persönlich hatte in meiner Karriere keine Nachteile. In der Schweiz, in Deutschland und Österreich ist die Gleichstellung betreffend Anstellungsordnungen weitestgehend da. «Wir Theologinnen und Theologen werden gleich gut bezahlt. Frauen können eigentlich alles», sagt sie, «nur eben nicht Priesterinnen sein.»
Sie selbst habe eine bischöfliche Sendung, das heisst, dass sie auch Gottesdiensten vorstehen könne, Taufen, Abendmahl und Kommunionfeiern durchführen könne. Nur gewisse Sakramente, wie zum Beispiel die Eucharistiefeier, sind ihr verschlossen. «Im Moment!», fügt sie an und das lässt hoffen.
Tut sich etwas? «Ja, in allen Ländern kommen die Frauenfragen auf die Tagesordnung. Der Druck auf Rom wächst. Trotz allem wird dies letztlich ein Konzil entscheiden, und da sitzen bis jetzt Kardinäle. Vielleicht fällen diese Entscheidungen auch erst die Generationen nach uns.»
Was bedeutet Sabine Zgraggen der Dienst am Mitmenschen? «Meine grösste Sorge ist, dass wir keine Sprache mehr finden für diese inneren Leiden. Dieses Verstummen bereitet mir Sorgen. Mir tun die Menschen leid, die keine Worte mehr finden dafür, was sie innerlich beschäftigt und ihnen Angst macht. Das führt zu Selbstisolation, zu Einsamkeit.»
Welche Rolle spielt die Selbstliebe, oder wird der Begriff heutzutage zu inflationär genutzt? «Nein! Die Selbstliebe ist sehr zentral. In der Seelsorge wollen wir den Menschen vermitteln, dass sie wertvoll sind, um so ihre Identität zu stärken. Das ist gerade in der Psychiatrie-Seelsorge, in der Arbeit mit Menschen, die sich verloren fühlen, essenziell. Wir wollen sie beim Namen nennen, zuhören und dadurch vielleicht ein gutes Gefühl für sich selbst vermitteln, den Selbstwert stärken, dieses heilige ‹Selbst›, das unveräusserlich ist. Die Menschen wollen, nach meiner Erfahrung, gerne gesegnet werden. Diese Sehnsucht ist unendlich gross. Es braucht diese Rituale. Wir haben so viel Erfolg, weil wir von den Menschen, von den Kranken, gelernt haben, was sie brauchen und was sie wollen. Man muss dafür präsent sein und sich mit den Menschen befassen. Sie wollen auch von mir wissen, wer ich bin und was ich mitbringe. Da muss ich dann offenlegen, was ich zu bieten habe. Angebote sind vielfältig: Ein Spaziergang, gemeinsames Singen, Beten, Rituale, Schweigen. Manche leiden sind so schwer und so schlimm, dass man nur zusammen schweigen kann. Das ist genauso kostbar.»
Der Gedanke kommt auf, dass die Kirche eine bessere wäre, würde sie sich vor allem auf diese Art von Seelsorge konzentrieren. Denn wäre die Welt nicht eine Bessere, wären ihre Menschen sich ihres Selbstwertes bewusst und fühlten sich dadurch gesegnet? Sagt nicht die Bibel: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst? n
Die Wädenswilerin Sabine Zgraggen ist katholische Klinikseelsorgerin. Sie leitet die Fachstelle für Spital- und Klinikseelsorge des Kantons Zürich. Gerade zum momentanen Zeitpunkt ist es interessant zu erfahren, welche Aufgaben Seelsorgerinnen und Seelsorger wahrnehmen und welche Werte bei ihrer Arbeit wegleitend sind.
Text: Ingrid Eva Liedtke, Bild: zvg
Sabine Zgraggen ist 1969 in Berlin Kreuzberg geboren und mit dem katholischen Glauben aufgewachsen. «Berlin ist, was den christlichen Glauben betrifft, eine Diaspora. Die Kirche mit ihren farbigen Fenstern, mit dem Weihrauch und den Ritualen war für mich eine andere Dimension, ein schöner, spiritueller Raum, der mir auch den Zugang zur Kunst eröffnete. Der Katholizismus ist sinnlich. In diesem Umfeld konnte ich spüren, es gibt etwas anderes, Höheres.»
Sabine Zgraggen war engagiert in Jugendgruppen. Man habe sie dort wahrgenommen und gefördert. Das habe sie von klein auf weitergebracht. Als sie dann später nach Chur kam, war sie froh, dass sie in eine Pfarrei gehen konnte, in ein vertrautes Umfeld. Sie sagt: «Ich verknüpfe mit der katholischen Kirche durchwegs positive Erlebnisse.» Nach ihrer Erstausbildung als diplomierte Krankenschwester in Berlin wechselte Sabine Zgraggen im Juni 1992 in die Schweiz nach Chur ins Kreuzspital. Ab 1999 studierte sie Theologie. Seit 2005 arbeitet sie in der Psychiatrie-Seelsorge und 2019 übernahm sie die Leitung der Spital- und Klinikseelsorge im Kanton Zürich. Das sind rund 41 Seelsorgende an 33 Standorten.
Und wie beschreibt sie sich selbst? «Ich bin ein innerlicher Mensch», sagt sie, «und ein künstlerischer Mensch.» Was bedeutet das? «Ich beo-bachte viel. Ich bin spirituell. Ich denke über vieles nach.» So geht sie an alles heran, auch im Beruf.
«15 Jahre lang war ich Psychiatrie-Seelsorgerin, jetzt bin ich im Management. Es ist herausfordernd, diese innere künstlerisch-dialogische Herangehensweise hintanzustellen. Neuerdings geht es nicht um Biographisches von Patienten, oder «innere Universen», sondern um Anträge, die Funktion richtig auszufüllen, das System Kirche zu verstehen, Techniken des Managements anzuwenden. Kurz, andere Fähigkeiten sind wichtig geworden. Ich war mir nicht sicher, ob ich das kann. Aber, wenn man eine fünfköpfige Familie lenken kann, dann hat man gute Voraussetzungen», sagt Sabine Zgraggen und lächelt selbstbewusst. «Ich kann die Übersicht gut behalten.»
Sabine Zgraggen hat drei Kinder im Alter von 20, 19 und 17. Sie lebt mit ihrer Familie seit 12 Jahren in Wädenswil und teilt sich die familiären Aufgaben mit ihrem Mann. Ihre Wohnung bezeichnet sie schon beim Eintreten als kreatives Chaos. Überall hängen selbstgemalte Bilder und Fotos. Als ihre Hobbies nennt sie zeitgenössische Kunst und Fotografie.
Kann diese neue berufliche Ausrichtung für sie befriedigend sein? «Ja», meint Zgraggen, «wenn man seine Stärken leben kann. Hat man die systemischen Abläufe verstanden, kann man gestalten. Ich kann sogar meine Kreativität einbringen. Ich habe eine Drehscheibenfunktion, ich bin sozusagen das Scharnier zwischen der Basis, der Seelsorgeentwicklung und der Kantonalkirche.» Die Seelsorge stehe allen Menschen zur Verfügung, sagt Zgraggen, egal welcher Konfession, selbst wenn jemand aus der Kirche ausgetreten ist.
«In der spirituellen Seelsorge arbeiten wir nicht einfach religiös. Wir versuchen nicht Menschen vom Glauben zu überzeugen, sondern stellen uns zur Verfügung als Zuhörer und versuchen die Ressourcen der Patienten zu erfassen und zu stärken. Wir gehen mit ihnen ihren individuellen Weg. Im weitesten Sinne bringen wir Trost und Hoffnung – aus dieser Begegnung heraus.»
«Seelsorge auf dem Weg», so will diese Dienstleistung im Auftrag der Kirche verstanden werden. Unterstützung im Bereich der Krisenintervention, der Sinnfindung, Begleitung bei Wertekonflikten oder Identitätsfragen.
Wie wichtig ist die Seelsorge im Kontext von Krankheit und Heilung oder Sterben und Tod?
«Wenn man krank wird, erhalten die existenziellen Fragen nach Sinn und Hilfe eine zentrale Bedeutung», sagt Sabine Zgraggen. «Die Bereitschaft, sich vermehrt auseinanderzusetzen ist da. Wir sind ein niederschwelliges Angebot. Bis eine Psychologin ans Bett kommt, braucht es eine ärztliche Verordnung. Aber wir sind nicht Psychologen, unser Hauptthema ist die Spiritua-lität. Viele Menschen sind noch christlich verwurzelt. Mit uns können sie ins Gespräch kommen, über Dinge sprechen, die sie beschäftigen. Dafür sind wir sehr gut ausgebildet.»
Einer der grössten Ängste des Menschen ist die vor dem Tod. Dazu kommt die Frage nach dem «Danach». Sabine Zgraggen: «Ich habe lange auf Demenzabteilungen gearbeitet, auch mit Schwerkranken, habe Menschen beim Sterben begleitet. Man muss die menschliche Freiheit grossdenken. Dann versteht man: Es kann keinen Zaubertrick für ein Leben nach dem Tod geben. Alles ist Reifung, ist prozessartig. Als Christin ist mir klar, dass die menschliche Seele ‹durchlässig› ist, dass wir miteinander verbunden sind. Ich treffe in der Psychiatrie-Seelsorge die ganze Zeit auf solche Erfahrungen von Menschen, die von Eindrücken ihrer Verstorbenen, von Engeln, berichten. Ich gehe davon aus, dass es eine geistige Welt gibt und dass sie beseelt ist.
Diese Menschen wenden sich an uns in der Hoffnung, von jemandem besser verstanden zu werden. Im christlichen Kontext heisst das: Jesus ist uns nur vorausgegangen, um für uns einen Platz vorzubereiten. Es wird also etwas Neues kommen, das je nach Seele individuell und doch mit allem verbunden ist. Vielleicht gibt es einen ‹roten Faden›. Die katholische Lehre ‹von den letzten Dingen› ist im Übrigen eine positive, die nicht durch menschliche Sünde und Schuld – wie man vielleicht annimmt – nur verdorben ist. Die Vorstellung vom Purgatorium, dem Fegefeuer, verstehe ich so, dass dies nur ein geistiger Ort des Übergangs ist, wo man nochmals innehalten und das gelebte Leben betrachten und Falsches bereuen kann. Es ist ein Ort der Einsicht und dadurch auch der Läuterung.
Immer wieder stellt sich uns die ewige Frage: Muss erst alles durch Krieg und Leid zugrunde gehen? Die katholische Lehre sagt: Nein, die Schöpfung ist gut und lässt sich deshalb in der Einheit mit Gott, mit dem Göttlichen, ‹verlängern›. Es gibt die Zusage Gottes: Ich werde wieder gute Anteile im Jenseits vorfinden, das, was echt ist und durchdrungen von Liebe. Diese Inhalte der Theologie finde ich sehr schön.»
Es ist Zeit, dass sich etwas ändert
Trotz all dieser schönen Konzepte, die katholische Kirche ist einmal mehr ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Wieder sind Meldungen über Gewalt und Missbrauch von Kindern und Jugendlichen an die Öffentlichkeit gelangt. Es sind Tatbestände, die auch Sabine Zgraggen als Katholikin erschüttern. «Es ist Zeit, dass sich etwas ändert, schon lange!» – das findet auch sie.
Gibt es einen systemischen Zusammenhang? Das sagt Sabine Zgraggen zu den neusten Missbrauchs-Enthüllungen: «Man weiss aus Untersuchungen (Zgraggen verweist auf einen Artikel: www.katholisch.de/artikel/14744-studie-zoelibat-beguenstigt-sexuellen-missbrauch), dass etwa die Hälfte der Priester, die bei der Weihe das Zölibat versprechen, es halten können und gut damit leben. Die andere Hälfte schafft es nicht. Das Thema ist sehr tabubehaftet. Wenn das Bedürfnis nach Partnerschaft und gelebter Sexualität unterdrückt oder seelisch abgespalten werden muss, entsteht eine grosse Not, die unterschiedlich bewältigt wird. Da liegen dann Heimlichkeiten, und bei pathologischen Veranlagungen auch Übergriffigkeit, nahe. Missbrauch an Minderjährigen ist immer eine schwere Straftat.
Ich war kürzlich an der Veranstaltung ‹So nicht!› in St. Gallen. Es kamen 500 Leute, hauptsächlich Seelsorgende, zu dieser Aktion. Ein Gefängnisseelsorger sprach. Er habe einen Freund, der jahrelang als Priester mit Kindern gearbeitet habe. Er wurde von seinen Vorgesetzten faktisch dazu gezwungen. Man habe ihm nicht zugehört, als er sich nicht dafür geeignet sah und um einen anderen Posten bat. Solches ist tragisch für alle Beteiligten. Die Kirche schaut nicht gut genug, welche Fähigkeiten ihre Priester haben, sondern schicken diese an eine Arbeitsstelle, verteilen Aufgaben, die zu erfüllen sind, ohne zu schauen, wie es ihnen wirklich geht damit. Das ist ein grosses Versagen der Führung, ein Missbrauch an den Fähigkeiten der Leute.»
Wie kann man mit diesem Wissen weiterarbeiten? «Wir sind in der Seelsorge, in gewisser Hinsicht, die ‹Avantgarde›. Wir arbeiten sehr transparent mittels Strategien und Konzepten, die wir vor Ort überprüfen und indem wir uns an den Spitälern interdisziplinär integrieren und Feedbacks einholen. Wir sind verlässliche Ansprechpersonen. Wir haben somit den Realitätscheck von Aussenstehenden, sind professionalisiert.»
Warum wird das Zölibat nicht endlich abgeschafft? «Ich weiss es nicht», sagt Zgraggen und zieht die Augenbrauen hoch. «Das ist kirchengeschichtlich entstanden. Was mich aber nachdenklich stimmt, ist, dass wir in den katholischen Ost-Kirchen schon längstens verheiratete Priester haben. Warum lernt man nicht von dem, was schon da ist? Ich kenne auch einen Priester, der geheiratet hat.» Sie lacht. «Er ist sogar schon wieder geschieden. Er darf wieder praktizieren. Ich weiss nicht, wie das teilweise gedreht wird.»
So nicht!
Sabine Zgraggen ist eine kraftvolle Erscheinung, eine moderne emanzipierte Frau. Sie möchte sich am liebsten nicht mit diesen Zölibats-Fragen befassen müssen – als Frau, die sowieso von Amtes wegen davon ausgeschlossen wurde. Da sie aber in der Reformbewegung «reformjetzt.ch» engagiert ist, drängen sie sich natürlich auf. «In einer Woche haben schon über 2000 Leute, das Anliegen unterschrieben. Die Bewegung ist erwachsen aus der Betroffenheit von Seelsorgern.» So nicht! heisst die Initiative, die sich für einen Kultur- und Strukturwandel einsetzt.
Als weitere Frage drängt sich folgende auf: Wäre es besser, wären mehr Frauen in den kirchlichen Ämtern? Die Antwort kommt schnell und klar: «Ja! Die Kultur des Umgangs würde sich ändern. In der Schweiz, zum Beispiel, könnte man vieles schon ohne Rom ausprobieren. Es gibt sehr gute Theologinnen, Professorinnen. Warum sind sie in gewissen Gremien nicht beratend dabei? Manchmal überfordert mich das Thema auch, und dann versuche ich mich einfach auf meinen Bereich, die Spitalseelsorge, zu konzentrieren.»
Aber das Thema der Frau in der Kirche ist auf dem Tisch, und Sabine Zgraggen sieht für Frauen dann doch einiges an Entwicklungspotenzial, schon heute. Jede Frau könne Theologie studieren. «Ich persönlich hatte in meiner Karriere keine Nachteile. In der Schweiz, in Deutschland und Österreich ist die Gleichstellung betreffend Anstellungsordnungen weitestgehend da. «Wir Theologinnen und Theologen werden gleich gut bezahlt. Frauen können eigentlich alles», sagt sie, «nur eben nicht Priesterinnen sein.»
Sie selbst habe eine bischöfliche Sendung, das heisst, dass sie auch Gottesdiensten vorstehen könne, Taufen, Abendmahl und Kommunionfeiern durchführen könne. Nur gewisse Sakramente, wie zum Beispiel die Eucharistiefeier, sind ihr verschlossen. «Im Moment!», fügt sie an und das lässt hoffen.
Tut sich etwas? «Ja, in allen Ländern kommen die Frauenfragen auf die Tagesordnung. Der Druck auf Rom wächst. Trotz allem wird dies letztlich ein Konzil entscheiden, und da sitzen bis jetzt Kardinäle. Vielleicht fällen diese Entscheidungen auch erst die Generationen nach uns.»
Was bedeutet Sabine Zgraggen der Dienst am Mitmenschen? «Meine grösste Sorge ist, dass wir keine Sprache mehr finden für diese inneren Leiden. Dieses Verstummen bereitet mir Sorgen. Mir tun die Menschen leid, die keine Worte mehr finden dafür, was sie innerlich beschäftigt und ihnen Angst macht. Das führt zu Selbstisolation, zu Einsamkeit.»
Welche Rolle spielt die Selbstliebe, oder wird der Begriff heutzutage zu inflationär genutzt? «Nein! Die Selbstliebe ist sehr zentral. In der Seelsorge wollen wir den Menschen vermitteln, dass sie wertvoll sind, um so ihre Identität zu stärken. Das ist gerade in der Psychiatrie-Seelsorge, in der Arbeit mit Menschen, die sich verloren fühlen, essenziell. Wir wollen sie beim Namen nennen, zuhören und dadurch vielleicht ein gutes Gefühl für sich selbst vermitteln, den Selbstwert stärken, dieses heilige ‹Selbst›, das unveräusserlich ist. Die Menschen wollen, nach meiner Erfahrung, gerne gesegnet werden. Diese Sehnsucht ist unendlich gross. Es braucht diese Rituale. Wir haben so viel Erfolg, weil wir von den Menschen, von den Kranken, gelernt haben, was sie brauchen und was sie wollen. Man muss dafür präsent sein und sich mit den Menschen befassen. Sie wollen auch von mir wissen, wer ich bin und was ich mitbringe. Da muss ich dann offenlegen, was ich zu bieten habe. Angebote sind vielfältig: Ein Spaziergang, gemeinsames Singen, Beten, Rituale, Schweigen. Manche leiden sind so schwer und so schlimm, dass man nur zusammen schweigen kann. Das ist genauso kostbar.»
Der Gedanke kommt auf, dass die Kirche eine bessere wäre, würde sie sich vor allem auf diese Art von Seelsorge konzentrieren. Denn wäre die Welt nicht eine Bessere, wären ihre Menschen sich ihres Selbstwertes bewusst und fühlten sich dadurch gesegnet? Sagt nicht die Bibel: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst? n