Aktuell Politik Wädenswil

Krankenkassenprämien: ein Fass ohne Boden

Bald werden die Prämienerhöhungen in der Krankenkassen-Grundversicherung bekanntgegeben. Nachdem bereits dieses Jahr eine Erhöhung von durchschnittlich 6,6 Prozent im Vergleich zu 2022 geschluckt werden musste, gehen aktuelle Berechnungen von einem Anstieg für 2024 von gegen 8% aus. Dies müsste nicht sein, findet Dr. Andreas Wüest in seiner Beurteilung des Gesundheitswesens. Er meint, dass die Prämien um bis ein Fünftel gesenkt werden könnten.

Text: Reni Bircher & Stefan Baumgartner
Bild: Stefan Baumgartner

Wüest betreibt im Bahnhof Wädenswil ein Institut für Rheumatologie und Schmerztherapie; er ist Facharzt für Rheumatologie und für Physikalische Medizin. Nebst seiner Tätigkeit war er über 30 Jahre bei der Ärztegesellschaft des Kantons Zürich aktiv, anfänglich im Vorstand, bis Ende 2022 als Delegierter. Ebenso war er in den Vorständen der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie, Physikalische Medizin und interventionelle Schmerztherapie SSIPM, Präsident der KPK (kantonale paritätische Kommission zur Schlichtung von Streitfällen zwischen Ärzten und Krankenkassen). Momentan ist Wüest immer noch Tarifdelegierter bei der FMH, des Berufsverbands der Schweizer Ärzte.
Aufgrund seiner Erfahrung als Mediziner, aber auch durch seine Tätigkeit in den verschiedensten Gremien, zweifelt er die bisherigen und jetzt vorgesehenen Massnahmen zur Kostensenkung im Gesundheitswesen an. «Verzweifelt versucht man seit Jahren, ein defektes Fahrzeug zu reparieren und montiert immer wieder neue Räder, vergisst aber dabei, den Motor zu revidieren» sagt er, und ergänzt: «Die Politiker haben zu wenig auf die Ärzte an der Front gehört!» Er übt aber auch Kritik am Ärztestand: «Wir Ärzte standen tatenlos daneben und wehrten uns höchstens gegen neue Vorschläge der Politik, ohne Selbstkritik und ohne Eigeninitiative.» Ein solches Eingeständnis aus dem Mund eines Mediziners ist selten: «Meine Kollegen haben mich schon drauf hingewiesen, dass ich nicht zu laut werden soll. Aber wissen Sie: ich müsste ja nicht mehr arbeiten. Das erlaubt mir auch, die Dinge beim Namen zu nennen.» Ausserdem weiss er, dass er für eine Mehrheit seiner Arztkolleginnen und -kollegen spricht. Wüest sucht immer wieder das Gespräch mit Politikern, auch Bundesrat Albert Rösti (dieser präsidierte als Nationalrat auch die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit [SGK]; Anm. der Red.) konnte er seine Sicht darlegen, in der Hoffnung, dass dieser seine Vorschläge auch in den Gesamtbundesrat bringt.
Im Gespräch mit dem Wädenswiler/Richterswiler Anzeiger verrät der 73-Jährige Beispiele aus seiner täglichen Arbeit und deren Auswirkungen auf die Kosten. Das Gespräch soll ausserdem auch ein Denkanstoss für Gesundheitspolitiker sein.

Herr Wüest, was ist Ihr ­Antrieb?
Immer wieder sprechen mich Patientinnen und Patienten an, die frustriert sind, dass die Qualität sinkt und die Prämien steigen. Sie fragen mich, warum wir die Politiker nicht besser orientieren. Und von der Politik kommen immer wieder die alten, ausgeleierten Vorschläge: Generika, Vertragszwang abschaffen, Pauschalen und Digitalisierung.

Sie konnten Ihre ­Anliegen schon ­verschiedenen ­Politikern darlegen.
Was waren die Reaktionen?
Alle Politiker waren erstaunt, was wir Ärzte an der Front erleben. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Bundesbern nur hören will, was gerade passt, aber keine Ahnung hat, was an der Front tatsächlich passiert. Es gibt zu viele Unsachverständige!
Zwei Beispiele: Das eine handelt von der 30-jährigen Tochter eines bekannten Zürcher Professors. Sie hatte seit Jahren eine entzündliche Wirbelsäulenerkrankung, welche mit einfachen Medikamenten behandelt wurde. Vor einem Jahr traten plötzlich akute Schmerzen auf. Daraufhin wollte man ihr nun teure Immunologika verordnen, ohne die Patientin genau zu untersuchen und befragen. Zu erwartende Kosten: Fr. 150 000.– pro Jahr! In unserer Praxis stellten wir bei ihr einen Ischias-Schmerz fest und führten eine Injektion am Rücken durch. Kosten: Fr. 490.–. Seit einem Jahr hat die Patientin keine Schmerzen mehr.
Im anderen Fall war ein Patient elf Tage im Spital. Er konnte nicht mehr selbstständig essen, weil er die Arme nicht mehr heben konnte. Man hat 13 Neben-Diagnosen gestellt, damit konnte das Spital einen höheren DRG (Diagnosis Related Groups, diagnosebezogene Fallgruppen) verrechnen. Kostenpunkt: über Fr. 15 000.–.
Der Patient wurde als untherapierbar entlassen, es seien Lähmungen. Somit wäre nur noch das teure Pflegeheim übrig geblieben.
Dieser Mann wurde nie richtig untersucht. Man hat deswegen die Diagnose einer Schultersteife verpasst. Bei unserer Untersuchung stellten wir die Schultergelenksproblematik fest. Nach einer Injektion in das Gelenk konnte er nach 30 Sekunden den Arm wieder heben. Kosten für Untersuchung und Behandlung: Fr. 350.–.

Sind das nicht Einzelfälle?
Nein! Ich sehe solche Beispiele tagtäglich. Meine Kollegen stellen dieselbe Problematik auch in anderen Kantonen fest. Wenn ich nur schon die Erkrankungen des Bewegungsapparates betrachte und auf die 500 Rheumatologen der Schweiz umrechne, komme ich auf Fehlbehandlungen im Betrag von 3,5 Milliarden Franken. Ich vermute, dass dadurch (oder: auf diese Weise) im ganzen medizinischen Bereich so gegen 20 Milliarden Franken verloren gehen. Kommen noch die von H+ (der nationale Verband der öffentlichen und privaten Schweizer Spitäler, Kliniken und Pflegeinstitutionen; Anm. der Red.) auf das Jahr 2025 geplanten überhöhten, ambulanten, undurchsichtigen Pauschalen hinzu, werden es noch höhere Summen sein.

Was aber ist der Ursprung der stetigen Kostensteigerungen?
Es beginnt bereits bei der ungenügenden Ausbildung der Studenten und Assistenten: zu wissenschaftlich, zu wenig praktisch. Die Ärzte haben es verlernt auf die Patienten zu hören und sie von Hand zu untersuchen. Das Handwerk fehlt! Meiner Meinung nach sollte weniger Theorie und mehr Praxis gelehrt werden. Ich würde sogar propagieren, dass ein angehender Mediziner beim Staatsexamen eine manualmedizinische Prüfung ablegen muss.
Wir glauben immer noch, dass wir ein Gesundheitswesen von super Qualität hätten – mitnichten!
Ein weiterer Punkt ist die unmöglich hohen Preise für Geräte – die inzwischen nicht mehr 15, sondern nur noch 2 Jahre halten! – und Einrichtung einer Praxis. Aus dem einfachen Grund, dass es an Konkurrenz fehlt. Der Bund nimmt uns und nicht die Hersteller in die Pflicht und schaut dann einfach weg. Die schlechten Geräte und deren ständige Neubeschaffung verteuern das Gesundheitssystem zusätzlich.

Generika, Vertragszwang abschaffen, Pauschalen und ­Digitalisierung sind die Schlagworte der Politiker. Was ist daran falsch?
Man spricht im Parlament oft über die hohen Preise der Generika – im Vergleich zum Ausland. Vor einigen Wochen musste Deutschland die Preise für Generika um 50% erhöhen, da es sich nicht mehr lohnt, diese Medikamente im eigenen Land herzustellen.
Swissmedic (das Schweizerische Heilmittelinstitut ist die Zulassungs- und Kontrollbehörde für Heilmittel in der Schweiz; Anm. der Red.) hat laut Aussage eines Lieferanten derart übertriebene Auflagen veranlasst, dass sich beispielsweise die Firma Streuli in Uznach gezwungen sah, die Produktion günstiger Medikamente einzustellen. Gleichzeitig übersieht die Politik, dass hohe Medikamentenkosten mit neuen Produkten einen viel höheren Kostenschub veranlassen werden. Allein in unserer Gruppenpraxis ist der Medikamentenumsatz innerhalb von fünf Jahren um das Dreifache gestiegen.
Die Abschaffung des Vertragszwanges ist bei zunehmendem Ärztemangel sehr problematisch. Ich kenne die Situation als ehemaliger Präsident der kantonalen paritätischen Kommission. Es würde die falschen Ärztinnen und Ärzte treffen. Wer sollte dann noch den Mut aufbringen, selbstständig eine Praxis zu eröffnen?
Bei den Spitälern habe ich eher Verständnis, weil ich der Meinung bin, dass wir uns zu viele Kleinspitäler leisten. Wir Ärzte müssen gemeinsam mit den Politikern und den Krankenkassen der Bevölkerung erklären, warum ein Gross-Spital überkantonal mehr Qualität liefert und weniger Kosten verursacht.

Die Digitalisierung wäre an sich eine gute Idee und würde zum Beispiel bei den Medikamentenkosten Einsparungen bringen und bei den digitalisierten Krankengeschichten vielleicht sogar Leben retten. Leider verhindern die vielen unterschiedlichen IT-Systeme und der Datenschutz eine rasche Entwicklung. Frau Claudia Brenn, Direktionspräsidentin der Ärztekasse, sowie IT-Fachspezialisten haben mir bestätigt, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen in der Schweiz sehr schwierig einzuführen ist, enorme Investitionen verlangt und kurzfristig unmöglich zu bewältigen ist. Die Entwicklung und Einführung eines praxisübergreifenden Programmes wäre hier entscheidend.

Wie ein jüngst vorgefallener Fall zeigt, happert es allerdings auch beim Datenschutz: Da wurde ein Kind reanimiert und befand sich im Schockraum. Der Versuch der Ärztin, auf die Krankengeschichte des Kindes zuzugreifen, wurde durch den Datenschutz verhindert, da sie einen Antrag auf Einsicht hätte stellen müssen. Bis das durch ist, dauert es zwei Tage. Also zählt der Datenschutz mehr als ein Menschenleben.

Nicht einmal bei den einfachen Krankenkassen-Ausweisen bringt man es fertig ein einheitliches System einzuführen, weshalb wir diese in der Praxis oft nicht verwenden können und alle Patientendaten neu erfassen müssen. Auch bei Röntgen-Bildbetrachtung der MRI- und CT-Untersuchung verlieren wir in der Praxis oft Stunden, bis wir endlich in die 50 verschiedenen Systeme eingehen und die Bilder abrufen können. Wenn nicht einmal diese einfachen Dinge funktionieren, wie soll man dann die komplexen Krankengeschichten digitalisieren?

Abschliessend: Was könnten die ­verschiedenen «Player» tun?
Wichtig wäre eine bessere Zusammenarbeit zwischen Politik und Ärzteschaft in den Spitälern, aber auch den peripheren Arztpraxen. Allein schon der Wille zuzuhören wäre ein bedeutender Schritt in die richtige Richtung. Ich bedaure es darum sehr, dass Gespräche zwischen praktizierenden Ärzten und Politikern nicht stattfinden. Gemeinsam könnte man viel rascher Lösungen finden, doch für eine solche Zusammenarbeit braucht es gegenseitigen Respekt und Ehrlichkeit und keine Eigendarsteller. Das Unvermögen, eigene Fehler einzugestehen, verhindert ein Weiterkommen.
Der FMH werfe ich heute noch vor, dass sie es verpasst hat, rechtzeitig dutzende von delegierten Arztkollegen zu beauftragen, inoffiziell mit den Politikern Kontakt aufzunehmen, wie ich es von mir aus gemacht habe, um Aufklärungsarbeit zu leisten. Es wäre höchste Zeit, eine Art Weisenrat mit erfahrenen Politikern und den Akteuren zu gründen, welche dem Parlament ein neues, «gesundes» Gesundheitswesen vorschlagen. Das aktuelle Flickwerk ist schon so vermodert, dass es nicht mehr zu retten ist. Diese Meinung teilt sogar Thomas Christen, Vorsteher des Bundesamtes für Gesundheit (BAG).

Und die Patientinnen und Patienten?
Sie sind insofern gefragt, als dass sie sich bezüglich der anstehenden Wahlen politisch engagieren und ihre Stimme entsprechend verteilen. Ein bekannter Journalist sagte mir, eigentlich müssten die Ärzte Wahlempfehlungen abgeben.

Haben Sie diesbezüglich konkrete ­Vorschläge?
Das wäre wohl ziemlich vermessen *schmunzelt*.

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