Feuilleton Wädenswil

Kirchenmusikerin Esther Lenherr will Neues wagen

Am Sonntag, 19. März, wird die Organistin Esther Lenherr im sonntäglichen Gottesdienst verabschiedet. Während 20 Jahren war sie als Kirchenmusikerin bei der reformierten Kirche Wädenswil tätig. Nun will sie nochmals etwas ganz Neues wagen.

Text: Ingrid Eva Liedtke; Bilder: zvg

Begriffe wie Organistin, Kantorin, Kirchenmusikerin repräsentieren die Arbeit von Esther Lenherr. Ich treffe die Kirchenmusikerin in der reformierten Kirche in Wädenswil, oben auf der Empore, wo die mächtige Orgel steht, ihr Instrument. Daneben, auf einer Kirchenbank, liegt ein Stoffsack mit Orgelpfeifen. Eben hat Esther Lenherr eine Orgelführung mit Schulkindern durchgeführt. Auch mich packt sofort das Interesse für dieses gewaltige Instrument – die Führung geht also noch ein wenig weiter. Die studierte Organistin zeigt mir die verschiedenen Register der Orgel, erklärt mir, wofür die vielene Pedale sind und dass eine so grosse Orgel einen Motor hat, der die Luft zupumpt, die es für das Spiel braucht. Früher wurden der Blasebalg von einem «Calanten» getreten.

Esther Lenherr spielt mir ein paar Passagen vor, um zu veranschaulichen, wie gewisse Stücke gespielt werden und welche Register wann gezogen werden. Das ist natürlich immer auch davon abhängig, wie der Komponist sein Stück gemeint hat. Ist da auch ein interpretatorischer Spielraum? Im kirchlichen Umfeld wohl eher weniger.
Es ist aber sofort spürbar, wie viel Lenherr die Musik bedeutet, auch die lange Geschichte und Tradition.

Musik, die Räume schafft und Menschen berührt

«Musik ist eines meiner grössten Anliegen. Durch sie und mit ihr konnte ich Räume schaffen, um Menschen zu berühren, den Weg in ihre Herzen zu finden. Die Musik ist eine Art Brücke zum Inneren, ermöglicht sich selber zu spüren und sich selber zu sein. Beim gemeinsamen Musizieren ist so vieles möglich.»

Glaube

Doch wieso die Orgel und das kirchliche Umfeld? Ist der Glauben eine Bedingung?
Der Glaube ist ein Aspekt, aber es ist das Instrument!
«Mich hat zuerst das Instrument, die Orgel, interessiert, die Ästhetik der Musik stand am Anfang. Die Kirche kam dazu. Die Orgel bedingt sie irgendwie. Die grossen Orgeln finden sich überwiegend in den Kirchen, also sind sie der einzige Arbeitsort, wenn man nicht Cameron Carpenter ist und in den Konzertsälen der Welt spielen kann.»
Was den Glauben betrifft: Man darf sich auch aus dem Kulturchristentum nähren. Das hat für mich viel mit Tradition zu tun. Was mich motiviert ist das Umbrechen von der Tradition, sodass sie in eine Lebendigkeit und Zeitlichkeit kommt. Mit meinem Herzen und meinem Können reproduziere ich die Musik, sodass sie zeitgenössisch wird. In dieser Verbindung fühle ich mich stark getragen von der Tradition, von der Geschichte und der Gemeinschaft, von den Menschen, die mit mir daran arbeiten, aber auch von allen, die vorausgegangen sind. In diesem Sinne fühle ich mich auch mit Gott und mit dem Christentum verbunden.»
Esther Lenherr war ursprünglich als Organistin eingestellt worden. Da arbeitet man, wie sie sagt, «im Dienst» bei Gottesdiensten, Hochzeiten oder Trauerfeiern, gemäss der Jahresplanung der Kirche. Ein paar Jahre später hat sich ihr Aufgabenfeld erweitert, kantorale Aufgaben kamen dazu.

Die Organistin und der Pfarrer

Die Kantorin hat einen Masterstudiengang in Chorleitung geistlich an der ZHDK absolviert. Als Chorleiterin sind die musikalischen Möglichkeiten vielfältig. Die Kantorin konzipiert Musikprojekte, bei denen Leute mitwirken können.
Esther Lenherr hat verschiedenste Chorprojekte in zahlreichen Musikstilen geleitet. Sie zählt Volksmusik, russische Musik, Rock und Pop, gregorianische Gesänge neben der klassischen Musik auf. «Es gab jeweils sechs Proben und dann hat der Chor im Gottesdienst mitgewirkt.» erzählt sie.
All dies bedingt eine enge Zusammenarbeit mit dem Pfarrer. «Ja», antwortet Esther Lenherr, «im Idealfall. Der Ablauf, zum Beispiel eines Gottesdienstes, ist gegeben. Da muss daher nicht viel gemacht werden. Bei speziellen Anlässen war es mir immer ein Anliegen die Wahl der Musik mit dem Thematischen und dem Dramaturgischen zu verknüpfen, so dass sich ein schöner Ablauf ergibt.»

Die Kinder, Taizé-Andachten, Klang – viele Tätigkeiten

Auch die Kinder hat Kirchenmusikerin musikalisch nicht aussen vorgelassen. Sie hat für sie Lager durchgeführt mit Singen und Theaterspielen.
Eine weitere Aktivität waren die Taizé-Andachten, in denen einfache Lieder mehrstimmig gesungen und vielfach wiederholt werden. Das Lied wird zum Gebet und schafft einen Raum für die Begegnung mit Gott. Kurze, meditative Texte und eine Zeit der Stille ergänzen die Andacht. Die Communauté de Taizé (Gemeinschaft von Taizé) ist ein internationaler ökumenischer Männerorden in Taizé, nördlich von Cluny im Département Saône-et-Loire, Frankreich.
Vor zehn Jahren wurde in einer «Musiknacht» das Jubiläum der Orgel gefeiert. Aus dieser Organisation heraus ergab sich eine Initiative, woraus die «Klang» entstanden ist. Esther Lenherr ist im Organisationskomitee.

«Dieses Jahr im Juni findet die ‹Klang› endlich wieder statt», freut sie sich. Doch das Publikum sei seit Corona noch nicht wieder ganz zurück. Ein Drittel sei weggeblieben.
Die «Klang» ist ein Musikfestival, das in der Kirche und um die Kirche herum stattfindet. Alle 30 Minuten findet ein Konzert statt.

All diese Tätigkeiten erfordern Planung, das Suchen passender Noten, eine passende Arbeitsteilung für alle Beteiligten, organisieren und üben. Kirchenmusikerin zu sein ist eine sehr vielseitige und kreative Tätigkeit. Das Schaffen eines ästhetischen Wertes ist für Esther Lenherr immer das antreibende und grosse Anliegen.

Lenherr will etwas Neues

Esther Lenherr verlässt nun, nach 20 Jahren als Kirchenmusikerin, die reformierte Kirche Wädenswil. Warum?
«Dies alles ist meine berufliche Existenz. Ich bin 47 Jahre alt, habe also noch weitere 20 Jahre Berufsleben vor mir. Die Vorstellung, noch weitere 20 Jahre hier zu bleiben und dasselbe zu tun, hat mich irgendwie aufgerüttelt. Plötzlich war da die Erkenntnis, dass noch etwas Anderes kommen muss, dass ich noch etwas Neues wagen möchte.»
Esther Lenherr, die im St. Galler Rheintal aufgewachsen ist, lebt mit ihrem Partner in der Au, und da wird sie auch weiterhin bleiben. Aber beruflich wird sie sich aufmachen zu ganz neuen Ufern.

«Ich werde als administrative Assistentin eines medizinal-technischen Startups arbeiten. Die Firma gibt es schon seit fünf Jahren. Sie wurde gegründet von drei jungen ETH-Absolventen. Sie finanzieren sich mit Investorengeldern. Das braucht sehr viel Vision und Commitment. Das finde ich sehr spannend. Ich kann viel Neues lernen und freue mich sehr auf diese Herausforderung. Von einer 2000-jährigen Institution zu einem Startup, von historischen Bauten in ein Industriegebiet, von Stuckaturen und Holz zu Beton und Stahl; ich werde das Leben aus einer anderen Perspektive sehen!»

Und die Musik, wird sie die Musik vermissen? «Ich werde weiterhin den Männerchor in Wald leiten. Andererseits bin ich kreativ ein wenig ausgepowert. Meine Kreativität ist ein wenig zum Erliegen gekommen. Es tut gut ein wenig zu pausieren.»

Auf den Einwand hin, dass Kreativität eine Gabe ist, die nicht verschwindet, meint sie, ihre Kreativität sei wie eine Tulpenzwiebel. Die verdorrten Blätter würden abgeschnitten und die Zwiebel nun im Keller zur Ruhe gelegt.

«Ich habe ein Klavier und Noten zuhause und ich kann auch singen.» Also kann die Tulpe jederzeit wieder erblühen. Das Verbindende der Musik ist ihr dann doch unverzichtbar, und so ist da noch ein Appell, den die Musikerin Esther Lenherr an die Menschen richten möchte: «Kultur und Begegnung sind nur möglich mit Publikum, darum: Geht an die Konzerte und an Festivals. Es ist wichtig für die Stadt Wädenswil, für Menschen, für die Gesellschaft, für die Verbindung miteinander!»

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