Als man die ersten Bilder von Ukrainern auf der Flucht – meist Frauen und Kinder – sah, da dachte ich und viele andere: «Die sehen aus wie wir, sind gekleidet wie wir. Haben sie auch wie wir gelebt? Könnten wir das sein?» Es ist so, dass diese – meist durch Pressebilder – erzeugte Nähe dazu führte, dass wir hier in der Schweiz, wie wohl in ganz Europa, diese Flüchtenden besonders warm willkommen heissen.
Text und Bild: Ingrid Eva Liedtke
Jeden Tag erreichen uns weitere schauerliche Nachrichten vom Krieg in der Ukraine, und das Mitgefühl wächst mit diesem Gefühl des sich Erkennens.
Tetjana Antoniuk ist eine ukrainische Mutter aus Irpin. Sie ist zusammen mit zwei von ihren drei Kindern – mit Yurii, 13, und Oksana, 8, und zwei alten Ratten in die Schweiz geflüchtet. Bei Luzia und Lukas Bertschinger in Wädenswil hat sie vorläufig eine neue Bleibe gefunden. Der Vater musste zurückbleiben, weil er nur zwei minderjährige Kinder hatte. Dascha war zu dem Zeitpunkt der Flucht schon volljährig und ist mit einer Freundin nach Polen zu einer Cousine geflüchtet. Auch die vier Hunde konnten nicht mit.
An einem sonnigen Maimorgen sitzen wir in Bertschingers Garten, unter blühenden, süss duftenden Glyzinien, sprechen mit Tetjana darüber, wie es ist, wenn der Krieg kommt und verlangt, das Meiste, was ein Leben ausmacht, zurückzulassen und in eine ungewisse Zukunft zu reisen, in ein Land, das man nicht kennt. Und wir sprechen auch darüber, wie es weitergehen könnte.
Das Schwere und die Dankbarkeit
Bei allem Schweren ist da immer auch viel Freude und Dankbarkeit über die Hilfsbereitschaft. Fotos von der alten Heimat, von den Familienmitgliedern, den Hunden, von Freunden und musikalischen Auftritten der Kinder machen die Runde, es wird gelacht, die Augen strahlen. Wir verständigen uns mit einer Übersetzer-App, die leider nicht immer das sagt, was gemeint ist und noch mit ein wenig Deutsch, noch weniger Englisch und mit Händen und Füssen. Erstaunlich, wieviel Ukrainisch man doch versteht!
Natürlich weiss Luzia Bertschinger auch schon einiges von ihren WG-Mitbewohnern – WG nennt sie ihre neue Wohnform – und spricht für Tetjana, übermittelt, was sie schon weiss, bezieht sie aber auch immer wieder in das Gespräch mit ein. Wir haben eine neue Form der Interviewführung entwickelt. Sie ist anstrengender, erfordert mehr Zeit und manchmal ein paar Anläufe, bis man weiss, was gemeint ist, aber es klappt.
Wie es war in Irpin, in der schönen Stadt? Tetjana erzählt im Präsens von ihrer schönen Stadt: «… eine schöne, saubere Stadt mit viel Grünflächen. Es ist eine Stadt für Kinder. Es hat viele Spielplätze und Velowege.» Darum fährt ihr Mann nur mit dem Rad und will kein Auto anschaffen. Ein Nachbar hat sie dann in seinem Auto mitgenommen, auf die Flucht, Tetjana und ihre Kinder.
Tetjana erzählt davon, dass es in ihrer Stadt, die nur sieben Kilometer entfernt von Kiew liegt, viele junge Leute hat (oder hatte?). Es ist eine lebhafte, im Vergleich zu hier, laute Stadt, sagt sie. Ein bisschen wie in Italien? Ja, genau, sie nickt und lacht. Es gibt breite Strassen und hübsche Flaniermeilen mit Gartenrabatten und Springbrunnen. Ihre musikalischen Kinder haben ein grosses Angebot an Musikschulen. Oksana spielt Cello und nimmt Gesangsunterricht, ihr Bruder Yurii spielt Gitarre (er wünscht sich nun noch eine E-Gitarre) und spricht schon ziemlich gut Englisch.
Tetjana, ist Ärztin – Neurologin und Akkupunkteurin. Sie liebt ihren Beruf und wünscht sich so sehr, dass sie wieder arbeiten kann. Aber ohne Deutsch- oder Englischkenntnisse ist das momentan nicht möglich. So lernt sie fleissig Deutsch, und es kann ihr nicht schnell genug gehen. «Wir haben ein Haus», erzählt Tetjana mit einem stolzen Lächeln im Gesicht, das sich weiter erhellt, als sie von ihrem Garten spricht. Der Garten ist ihr Hobby. Auch hier in Wädenswil, bei Bertschingers, hilft sie gerne im Garten.
Sie seien eine normale, eine gute Familie: Tetjana ist verheiratet mit Sergej. «Ein guter Mann, ein guter Vater», sagt sie. Sie liebt ihn, das spürt man. Vieles muss erfühlt werden, wenn die Sprache so wenig zur Verständigung hilft.
Sergei arbeitet bei Vetropak, als Logistiker. Darum auch die Idee mit der Flucht in die Schweiz. Vetropak sei eine gute, eine Schweizer Firma. Die Fabrik steht in Hostomel.
Es ist einer der ersten Orte, die zerbombt wurden. Darum kann Sergej nicht mehr arbeiten. Jetzt hilft er überall beim Aufräumen. Sergej ist noch nicht eingezogen worden, weil er ein Rückenproblem hat.
Doch die Angst, dass dies noch passieren kann, wirft einen Schatten auf Tetjanas Gesicht. Die Beiden haben täglich Kontakt. Luzia bestätigt, dass Sergej eigentlich immer per Mobiltelefon am Geschehen hier dabei ist.
Stimmung kurz vor dem Krieg und die Flucht
«Wir haben bis zum Schluss nicht geglaubt, dass dieser Krieg wirklich passieren wird. Wir haben die Welt nicht mehr verstanden», sagt Tetjana und fuchtelt mit den Händen durch die Luft, als könne sie so das Ungeheuerliche wegwischen. «Sergejs Schwester und ihr Mann lebten nahe an der Grenze. Sie sind Grenzwächter. Sie riefen uns an und erzählten, dass der Krieg begonnen hat. Manchmal hörten wir von fern Donnergrollen, und viele Helikopter flogen über uns. Es gab Bombardements rundherum. Wir haben unseren Nachbarn gefragt, ob wir mit ihm fliehen könnten, weil er ein Auto hat. Die letzten Nächte haben wir im Keller verbracht, sind aber immer wieder nach oben gegangen, dann wieder runter, es war ein Hin und Her», erzählt sie weiter.
«Dann wurde Hostomel angegriffen. Hostomel ist ein Militärstützpunkt in der Nähe von Butcha. Eine wichtige Brücke in unserer Nähe wurde zerstört. Nach etwa eineinhalb Tagen dachten wir, es sei wohl besser, wenn wir gehen. Ich bin mit den Kindern, mit dem Nachbarn und seiner Frau, in deren Auto in ein nahes Dorf geflohen. Eigentlich war mein Plan, zu meinen Eltern zu gehen. Sie leben im Dorf Owrutsch, an der Grenze zu Belarus. Wegen der zerstörten Brücke war es nicht möglich, zu meinen Eltern zu fahren. Sie sind immer noch da und müssen jeden Tag in den Keller. Sie haben Angst.
Mein Mann, floh mit dem Fahrrad und den zwei Ratten über die kaputte Brücke. Es war sehr gefährlich. Die Hunde mussten bei einer Nachbarin bleiben. Ich habe viel Futter auf Vorrat gekauft.» Tetjana macht ein trauriges Gesicht, zeigt mir dann aber stolz ein Bild ihrer vier Hunde.
«Wir blieben mit dem Nachbarn eine Woche in dem Dorf. Doch Sergej sah, dass es in dem Dorf, in dem wir waren, überall Militär hatte. Er meinte, wir sollten da nicht länger bleiben. Dann fuhren wir zu meiner Schwester nach Lwiw, auf schlechten Strassen, immer wieder gab es Fliegeralarm, immer wieder Kontrollen an Militärposten. Die Kinder hatten sehr grosse Angst. Zum Glück hatten wir die zwei Ratten dabei. Zwei Nächte waren wir in Lwiw. Jede Nacht gab es Alarm. Darum sagte Sergej, ich und die Kinder müssten nach Europa.»
Unterdessen kann man lesen, dass die Bevölkerung sich schon an die Bombenalarme gewöhnt hat. Sie gehören zum ukrainischen Alltag.
«Zuerst wollten wir in die Slowakei, weil Sergej wusste, dass es da eine ‹Vetropak› hat. Aber dann entschlossen wir, dass es besser sei, wenn wir in die Schweiz reisen. Er sagte: «Wenn Du nichts findest, wohin du gehen kannst, dann gehe zu ‹Vetropak›. Die werden Dir sicher helfen.» So sind Tetjana und ihre zwei Kinder mit dem Zug über mehrere Stationen in die Schweiz gereist.
Bertschingers haben sich schnell entschieden
Luzia Bertschinger erzählt: «Sie hatten keinen Kontakt in Europa. So reisten sie über Polen, weil sie da jemanden kannten, aber die Frau hatte nur für eine Person Platz. Also blieben sie über Nacht und dann ging es weiter mit dem Zug nach Berlin und von da, am 10. März, nach Zürich. Sie kamen hier an und wurden für fünf Tage ins Marriott-Hotel zugeteilt. Am 14. März hat uns jemand vom Sozialamt Wädenswil angerufen. Wir hatten uns gemeldet, dass wir Flüchtlinge aufnehmen könnten. So fragte man uns, ob wir eine Mutter mit zwei Kindern und zwei Ratten aufnehmen würden. Wir haben eine halbe Stunde überlegt und uns dann dazu entschieden. Unsere Kinder sind erwachsen, sind schon ausgezogen. Am Dienstag um 15.00 Uhr haben wir sie abgeholt.
Englisch konnte Tetjana nicht, wie wir das eigentlich erwartet hatten. Nur der Junge konnte Englisch, aber die Kinder waren traumatisiert und anfangs sehr scheu. Der Junge wollte zuerst nicht übersetzen, was auch verständlich war. Die Verständigung war sehr harzig und ich dachte, das schaffen wir nie! Aber jetzt kann Tetjana schon ein paar Brocken Deutsch. Sie will es unbedingt schnell lernen, damit sie arbeiten kann. Sie ist sehr rücksichtsvoll. Sie lernt und hilft im Haushalt und wir lachen viel zusammen. Manchmal setzen wir uns abends zusammen und spielen. Wir haben es super zusammen und es ist eine sehr gute Erfahrung. Ich bin glücklich, dass sie hier wohnen. Ich habe viele Behördengänge mit Tetjana gemacht. Dieser Schutzstatus S ist nicht ein so einfaches Verfahren. Es ist kompliziert, und ich habe Verständnis dafür, dass noch nicht alles reibungslos abläuft. Aber ich hätte mir von den Behörden schon ein wenig mehr Unterstützung gewünscht, gerade am Anfang – dass mal jemand nachfragt, wie es uns allen geht.»
Man wird konfrontiert mit wildfremden Menschen, die aus einer anderen Kultur kommen und eine andere Sprache sprechen und die zudem Kriegsopfer, also traumatisiert, sind. Es ist anzunehmen, dass dies eine Herausforderung ist und nicht nur eine schöne Hilfsaktion, mit der man sein Karma verbessern kann.
Alltag – manchmal ist es schlimm
«Manchmal ist es schlimm», legt Luzia dar «und Tetjana zittert, wenn sie von ihren Erlebnissen erzählt, sich erinnert. Dann wiederum ist es so, dass das Leben weitergeht, sie spricht am Handy mit Freundinnen, mit den Eltern, Familienmitgliedern und sehr oft mit ihrem Mann über Alltägliches, erzählt auch, was hier passiert, was die Kinder erleben – und der Schrecken ist weit weg. Doch dann bekommt sie wieder ein Foto von ihrem Mann, wie er die Zerstörung aufräumt und dann ist alles wieder sehr nah. Oksana war sehr traumatisiert auf der Flucht.»
Ankommen in der Schweiz
Organisatorisch sei jetzt alles in Ordnung. Tetjana hat ein Bankkonto. Sie bekommt eine monatliche Unterstützung, und die Kinder konnten zwei Wochen vor den Frühlingsferien in die Schule gehen. Sie sind sehr glücklich darüber, weil es ihnen Struktur gibt und einen kindergerechten Alltag.
Tetjana sagt: «Die Kinder sind glücklich, seit sie in die Schule gehen können. In Irpin ist die Schule zerbombt. Auch unser Haus ist beschädigt.»
Auf ihr Ankommen in der Schweiz angesprochen sagt oder deutet Tetjana auf ihr Glück hin, dass sie alle noch leben. Sie freut sich und ist sehr dankbar, dass sie so gut aufgenommen wurden. Das ist ihr das Allerwichtigste.
Aber wenn man weiter nachfragt, wird auch klar, dass sie das «Ihre» vermisst, zuerst ihren Mann, aber auch ihren Beruf, ihre Familie, ihre Freunde, ihr Haus, ihre Hunde, ihre Sachen, alles, was ein Leben so ausmacht. Dies alles musste sie und alle anderen Flüchtlinge zurücklassen. Was das bedeutet, kann jede für sich selbst ermessen.
Darum ist das Leben in einer Gastfamilie wohl nicht nur immer einfach, denn es ist eben nicht das eigene Haus, nicht das «Eigene». Es herrschen andere Gepflogenheiten, man muss Rücksicht nehmen, sich anpassen, kennt vielleicht nicht alle Gebräuche, weder dieses Haushaltes, noch dieses Landes und oft nicht einmal die Sprache, die ein so wichtiges Verbindungsglied ist.
Wie geht es weiter?
Wie es weitergeht, weiss eigentlich noch niemand. Die Kinder seien das Wichtigste, sagt Tetjana. Solange man in der Ukraine in Angst leben müsse, möchte sie hierbleiben. Für die Kinder sind das Leben und auch die Zukunftsaussichten in der Schweiz gut. Sollte die Ukraine den Krieg verlieren, hat Tetjana Angst davor, zurückzumüssen, Angst davor, was sie unter russischer Herrschaft erwarten könnte.
Für die Bertschingers sieht die nahe Zukunft so aus: «Wir mussten uns für drei Monate verpflichten, aber wir geben Tetjana und ihren Kindern diesen Platz, solange sie ihn brauchen. Wir sind eine WG, die super funktioniert. Eben waren wir in den Ferien. In der Zwischenzeit hat Tetjana das Haus und den Garten gehütet. Sie hat meinen Garten super gepflegt – besser als ich es tue.»
Tetjana zeigt ein Bild von Kartoffeln, die sie gesetzt hat und lacht sich krumm, weil es so wenige sind. Zuhause hatte sie viel mehr in ihrem Garten.
Humor ist international
Luzia Bertschinger nimmt an, dass es für Tetjana und ihre Kinder irgendwann wichtig sein könnte, wieder ein eigenes Zuhause zu haben. «Jetzt aber will sie noch nichts davon wissen und ist froh hier zu sein und das kann sie, solange sie will», sagt sie.
Tetjana sagt: «Mein Herz ist in der Ukraine. Der Kopf sagt, in der Schweiz ist es gut für die Kinder. Sie können in die Schule gehen und haben hier eine Zukunft, können hier Kind sein. Es ist schwierig klar, zu sagen, was ich mir wünsche. Täglich schaue ich aus dem Fenster und finde es hier so schön. Aber ich vermisse auch mein Land und meine Leute.»
Eine Zukunft, ein eigenes Leben, wieder arbeiten
Irgendwie hofft Tetjana, wieder zurückgehen zu können, ihr Leben zurückzubekommen. Aber auf einen Einstieg in ein «eigenes» Leben hofft sie auch hier. Am Anfang war der Krieg, die Angst, das Trauma und die Flucht so präsent, dass es für Tetjana manchmal schwierig war, einen zukunftsgerichteten Gedanken zu fassen oder gar deutsch zu lernen. Doch jetzt ist sie fleissig dabei und wartet auf ihre Diplome, die ihr Mann ihr schicken soll. Sie würde auch mit Hunden spazieren gehen – einfach etwas tun, das ihr Freude bereitet.
Derweil wünschen sich die Kinder wieder zu musizieren und in den Musikunterricht gehen zu können. Yurii wünscht sich eine E-Gitarre. Er war sehr traurig, als er erfahren hat, dass sein Musiklehrer erschossen wurde.
Dies ist eine von vielen Flüchtlingsgeschichten und auch die Erfolgsgeschichte der Aufnahme von Flüchtlingen durch eine Wädenswiler Gastfamilie. n
Tetjana würde gerne Hunde spazieren führen. Bei Bedarf kann man Luzia Bertschinger unter
079 616 97 92 kontaktieren; auch, wenn jemand per Zufall noch eine E-Gitarre zu verschenken hat.
Als man die ersten Bilder von Ukrainern auf der Flucht – meist Frauen und Kinder – sah, da dachte ich und viele andere: «Die sehen aus wie wir, sind gekleidet wie wir. Haben sie auch wie wir gelebt? Könnten wir das sein?» Es ist so, dass diese – meist durch Pressebilder – erzeugte Nähe dazu führte, dass wir hier in der Schweiz, wie wohl in ganz Europa, diese Flüchtenden besonders warm willkommen heissen.
Text und Bild: Ingrid Eva Liedtke
Jeden Tag erreichen uns weitere schauerliche Nachrichten vom Krieg in der Ukraine, und das Mitgefühl wächst mit diesem Gefühl des sich Erkennens.
Tetjana Antoniuk ist eine ukrainische Mutter aus Irpin. Sie ist zusammen mit zwei von ihren drei Kindern – mit Yurii, 13, und Oksana, 8, und zwei alten Ratten in die Schweiz geflüchtet. Bei Luzia und Lukas Bertschinger in Wädenswil hat sie vorläufig eine neue Bleibe gefunden. Der Vater musste zurückbleiben, weil er nur zwei minderjährige Kinder hatte. Dascha war zu dem Zeitpunkt der Flucht schon volljährig und ist mit einer Freundin nach Polen zu einer Cousine geflüchtet. Auch die vier Hunde konnten nicht mit.
An einem sonnigen Maimorgen sitzen wir in Bertschingers Garten, unter blühenden, süss duftenden Glyzinien, sprechen mit Tetjana darüber, wie es ist, wenn der Krieg kommt und verlangt, das Meiste, was ein Leben ausmacht, zurückzulassen und in eine ungewisse Zukunft zu reisen, in ein Land, das man nicht kennt. Und wir sprechen auch darüber, wie es weitergehen könnte.
Das Schwere und die Dankbarkeit
Bei allem Schweren ist da immer auch viel Freude und Dankbarkeit über die Hilfsbereitschaft. Fotos von der alten Heimat, von den Familienmitgliedern, den Hunden, von Freunden und musikalischen Auftritten der Kinder machen die Runde, es wird gelacht, die Augen strahlen. Wir verständigen uns mit einer Übersetzer-App, die leider nicht immer das sagt, was gemeint ist und noch mit ein wenig Deutsch, noch weniger Englisch und mit Händen und Füssen. Erstaunlich, wieviel Ukrainisch man doch versteht!
Natürlich weiss Luzia Bertschinger auch schon einiges von ihren WG-Mitbewohnern – WG nennt sie ihre neue Wohnform – und spricht für Tetjana, übermittelt, was sie schon weiss, bezieht sie aber auch immer wieder in das Gespräch mit ein. Wir haben eine neue Form der Interviewführung entwickelt. Sie ist anstrengender, erfordert mehr Zeit und manchmal ein paar Anläufe, bis man weiss, was gemeint ist, aber es klappt.
Wie es war in Irpin, in der schönen Stadt? Tetjana erzählt im Präsens von ihrer schönen Stadt: «… eine schöne, saubere Stadt mit viel Grünflächen. Es ist eine Stadt für Kinder. Es hat viele Spielplätze und Velowege.» Darum fährt ihr Mann nur mit dem Rad und will kein Auto anschaffen. Ein Nachbar hat sie dann in seinem Auto mitgenommen, auf die Flucht, Tetjana und ihre Kinder.
Tetjana erzählt davon, dass es in ihrer Stadt, die nur sieben Kilometer entfernt von Kiew liegt, viele junge Leute hat (oder hatte?). Es ist eine lebhafte, im Vergleich zu hier, laute Stadt, sagt sie. Ein bisschen wie in Italien? Ja, genau, sie nickt und lacht. Es gibt breite Strassen und hübsche Flaniermeilen mit Gartenrabatten und Springbrunnen. Ihre musikalischen Kinder haben ein grosses Angebot an Musikschulen. Oksana spielt Cello und nimmt Gesangsunterricht, ihr Bruder Yurii spielt Gitarre (er wünscht sich nun noch eine E-Gitarre) und spricht schon ziemlich gut Englisch.
Tetjana, ist Ärztin – Neurologin und Akkupunkteurin. Sie liebt ihren Beruf und wünscht sich so sehr, dass sie wieder arbeiten kann. Aber ohne Deutsch- oder Englischkenntnisse ist das momentan nicht möglich. So lernt sie fleissig Deutsch, und es kann ihr nicht schnell genug gehen. «Wir haben ein Haus», erzählt Tetjana mit einem stolzen Lächeln im Gesicht, das sich weiter erhellt, als sie von ihrem Garten spricht. Der Garten ist ihr Hobby. Auch hier in Wädenswil, bei Bertschingers, hilft sie gerne im Garten.
Sie seien eine normale, eine gute Familie: Tetjana ist verheiratet mit Sergej. «Ein guter Mann, ein guter Vater», sagt sie. Sie liebt ihn, das spürt man. Vieles muss erfühlt werden, wenn die Sprache so wenig zur Verständigung hilft.
Sergei arbeitet bei Vetropak, als Logistiker. Darum auch die Idee mit der Flucht in die Schweiz. Vetropak sei eine gute, eine Schweizer Firma. Die Fabrik steht in Hostomel.
Es ist einer der ersten Orte, die zerbombt wurden. Darum kann Sergej nicht mehr arbeiten. Jetzt hilft er überall beim Aufräumen. Sergej ist noch nicht eingezogen worden, weil er ein Rückenproblem hat.
Doch die Angst, dass dies noch passieren kann, wirft einen Schatten auf Tetjanas Gesicht. Die Beiden haben täglich Kontakt. Luzia bestätigt, dass Sergej eigentlich immer per Mobiltelefon am Geschehen hier dabei ist.
Stimmung kurz vor dem Krieg und die Flucht
«Wir haben bis zum Schluss nicht geglaubt, dass dieser Krieg wirklich passieren wird. Wir haben die Welt nicht mehr verstanden», sagt Tetjana und fuchtelt mit den Händen durch die Luft, als könne sie so das Ungeheuerliche wegwischen. «Sergejs Schwester und ihr Mann lebten nahe an der Grenze. Sie sind Grenzwächter. Sie riefen uns an und erzählten, dass der Krieg begonnen hat. Manchmal hörten wir von fern Donnergrollen, und viele Helikopter flogen über uns. Es gab Bombardements rundherum. Wir haben unseren Nachbarn gefragt, ob wir mit ihm fliehen könnten, weil er ein Auto hat. Die letzten Nächte haben wir im Keller verbracht, sind aber immer wieder nach oben gegangen, dann wieder runter, es war ein Hin und Her», erzählt sie weiter.
«Dann wurde Hostomel angegriffen. Hostomel ist ein Militärstützpunkt in der Nähe von Butcha. Eine wichtige Brücke in unserer Nähe wurde zerstört. Nach etwa eineinhalb Tagen dachten wir, es sei wohl besser, wenn wir gehen. Ich bin mit den Kindern, mit dem Nachbarn und seiner Frau, in deren Auto in ein nahes Dorf geflohen. Eigentlich war mein Plan, zu meinen Eltern zu gehen. Sie leben im Dorf Owrutsch, an der Grenze zu Belarus. Wegen der zerstörten Brücke war es nicht möglich, zu meinen Eltern zu fahren. Sie sind immer noch da und müssen jeden Tag in den Keller. Sie haben Angst.
Mein Mann, floh mit dem Fahrrad und den zwei Ratten über die kaputte Brücke. Es war sehr gefährlich. Die Hunde mussten bei einer Nachbarin bleiben. Ich habe viel Futter auf Vorrat gekauft.» Tetjana macht ein trauriges Gesicht, zeigt mir dann aber stolz ein Bild ihrer vier Hunde.
«Wir blieben mit dem Nachbarn eine Woche in dem Dorf. Doch Sergej sah, dass es in dem Dorf, in dem wir waren, überall Militär hatte. Er meinte, wir sollten da nicht länger bleiben. Dann fuhren wir zu meiner Schwester nach Lwiw, auf schlechten Strassen, immer wieder gab es Fliegeralarm, immer wieder Kontrollen an Militärposten. Die Kinder hatten sehr grosse Angst. Zum Glück hatten wir die zwei Ratten dabei. Zwei Nächte waren wir in Lwiw. Jede Nacht gab es Alarm. Darum sagte Sergej, ich und die Kinder müssten nach Europa.»
Unterdessen kann man lesen, dass die Bevölkerung sich schon an die Bombenalarme gewöhnt hat. Sie gehören zum ukrainischen Alltag.
«Zuerst wollten wir in die Slowakei, weil Sergej wusste, dass es da eine ‹Vetropak› hat. Aber dann entschlossen wir, dass es besser sei, wenn wir in die Schweiz reisen. Er sagte: «Wenn Du nichts findest, wohin du gehen kannst, dann gehe zu ‹Vetropak›. Die werden Dir sicher helfen.» So sind Tetjana und ihre zwei Kinder mit dem Zug über mehrere Stationen in die Schweiz gereist.
Bertschingers haben sich schnell entschieden
Luzia Bertschinger erzählt: «Sie hatten keinen Kontakt in Europa. So reisten sie über Polen, weil sie da jemanden kannten, aber die Frau hatte nur für eine Person Platz. Also blieben sie über Nacht und dann ging es weiter mit dem Zug nach Berlin und von da, am 10. März, nach Zürich. Sie kamen hier an und wurden für fünf Tage ins Marriott-Hotel zugeteilt. Am 14. März hat uns jemand vom Sozialamt Wädenswil angerufen. Wir hatten uns gemeldet, dass wir Flüchtlinge aufnehmen könnten. So fragte man uns, ob wir eine Mutter mit zwei Kindern und zwei Ratten aufnehmen würden. Wir haben eine halbe Stunde überlegt und uns dann dazu entschieden. Unsere Kinder sind erwachsen, sind schon ausgezogen. Am Dienstag um 15.00 Uhr haben wir sie abgeholt.
Englisch konnte Tetjana nicht, wie wir das eigentlich erwartet hatten. Nur der Junge konnte Englisch, aber die Kinder waren traumatisiert und anfangs sehr scheu. Der Junge wollte zuerst nicht übersetzen, was auch verständlich war. Die Verständigung war sehr harzig und ich dachte, das schaffen wir nie! Aber jetzt kann Tetjana schon ein paar Brocken Deutsch. Sie will es unbedingt schnell lernen, damit sie arbeiten kann. Sie ist sehr rücksichtsvoll. Sie lernt und hilft im Haushalt und wir lachen viel zusammen. Manchmal setzen wir uns abends zusammen und spielen. Wir haben es super zusammen und es ist eine sehr gute Erfahrung. Ich bin glücklich, dass sie hier wohnen. Ich habe viele Behördengänge mit Tetjana gemacht. Dieser Schutzstatus S ist nicht ein so einfaches Verfahren. Es ist kompliziert, und ich habe Verständnis dafür, dass noch nicht alles reibungslos abläuft. Aber ich hätte mir von den Behörden schon ein wenig mehr Unterstützung gewünscht, gerade am Anfang – dass mal jemand nachfragt, wie es uns allen geht.»
Man wird konfrontiert mit wildfremden Menschen, die aus einer anderen Kultur kommen und eine andere Sprache sprechen und die zudem Kriegsopfer, also traumatisiert, sind. Es ist anzunehmen, dass dies eine Herausforderung ist und nicht nur eine schöne Hilfsaktion, mit der man sein Karma verbessern kann.
Alltag – manchmal ist es schlimm
«Manchmal ist es schlimm», legt Luzia dar «und Tetjana zittert, wenn sie von ihren Erlebnissen erzählt, sich erinnert. Dann wiederum ist es so, dass das Leben weitergeht, sie spricht am Handy mit Freundinnen, mit den Eltern, Familienmitgliedern und sehr oft mit ihrem Mann über Alltägliches, erzählt auch, was hier passiert, was die Kinder erleben – und der Schrecken ist weit weg. Doch dann bekommt sie wieder ein Foto von ihrem Mann, wie er die Zerstörung aufräumt und dann ist alles wieder sehr nah. Oksana war sehr traumatisiert auf der Flucht.»
Ankommen in der Schweiz
Organisatorisch sei jetzt alles in Ordnung. Tetjana hat ein Bankkonto. Sie bekommt eine monatliche Unterstützung, und die Kinder konnten zwei Wochen vor den Frühlingsferien in die Schule gehen. Sie sind sehr glücklich darüber, weil es ihnen Struktur gibt und einen kindergerechten Alltag.
Tetjana sagt: «Die Kinder sind glücklich, seit sie in die Schule gehen können. In Irpin ist die Schule zerbombt. Auch unser Haus ist beschädigt.»
Auf ihr Ankommen in der Schweiz angesprochen sagt oder deutet Tetjana auf ihr Glück hin, dass sie alle noch leben. Sie freut sich und ist sehr dankbar, dass sie so gut aufgenommen wurden. Das ist ihr das Allerwichtigste.
Aber wenn man weiter nachfragt, wird auch klar, dass sie das «Ihre» vermisst, zuerst ihren Mann, aber auch ihren Beruf, ihre Familie, ihre Freunde, ihr Haus, ihre Hunde, ihre Sachen, alles, was ein Leben so ausmacht. Dies alles musste sie und alle anderen Flüchtlinge zurücklassen. Was das bedeutet, kann jede für sich selbst ermessen.
Darum ist das Leben in einer Gastfamilie wohl nicht nur immer einfach, denn es ist eben nicht das eigene Haus, nicht das «Eigene». Es herrschen andere Gepflogenheiten, man muss Rücksicht nehmen, sich anpassen, kennt vielleicht nicht alle Gebräuche, weder dieses Haushaltes, noch dieses Landes und oft nicht einmal die Sprache, die ein so wichtiges Verbindungsglied ist.
Wie geht es weiter?
Wie es weitergeht, weiss eigentlich noch niemand. Die Kinder seien das Wichtigste, sagt Tetjana. Solange man in der Ukraine in Angst leben müsse, möchte sie hierbleiben. Für die Kinder sind das Leben und auch die Zukunftsaussichten in der Schweiz gut. Sollte die Ukraine den Krieg verlieren, hat Tetjana Angst davor, zurückzumüssen, Angst davor, was sie unter russischer Herrschaft erwarten könnte.
Für die Bertschingers sieht die nahe Zukunft so aus: «Wir mussten uns für drei Monate verpflichten, aber wir geben Tetjana und ihren Kindern diesen Platz, solange sie ihn brauchen. Wir sind eine WG, die super funktioniert. Eben waren wir in den Ferien. In der Zwischenzeit hat Tetjana das Haus und den Garten gehütet. Sie hat meinen Garten super gepflegt – besser als ich es tue.»
Tetjana zeigt ein Bild von Kartoffeln, die sie gesetzt hat und lacht sich krumm, weil es so wenige sind. Zuhause hatte sie viel mehr in ihrem Garten.
Humor ist international
Luzia Bertschinger nimmt an, dass es für Tetjana und ihre Kinder irgendwann wichtig sein könnte, wieder ein eigenes Zuhause zu haben. «Jetzt aber will sie noch nichts davon wissen und ist froh hier zu sein und das kann sie, solange sie will», sagt sie.
Tetjana sagt: «Mein Herz ist in der Ukraine. Der Kopf sagt, in der Schweiz ist es gut für die Kinder. Sie können in die Schule gehen und haben hier eine Zukunft, können hier Kind sein. Es ist schwierig klar, zu sagen, was ich mir wünsche. Täglich schaue ich aus dem Fenster und finde es hier so schön. Aber ich vermisse auch mein Land und meine Leute.»
Eine Zukunft, ein eigenes Leben, wieder arbeiten
Irgendwie hofft Tetjana, wieder zurückgehen zu können, ihr Leben zurückzubekommen. Aber auf einen Einstieg in ein «eigenes» Leben hofft sie auch hier. Am Anfang war der Krieg, die Angst, das Trauma und die Flucht so präsent, dass es für Tetjana manchmal schwierig war, einen zukunftsgerichteten Gedanken zu fassen oder gar deutsch zu lernen. Doch jetzt ist sie fleissig dabei und wartet auf ihre Diplome, die ihr Mann ihr schicken soll. Sie würde auch mit Hunden spazieren gehen – einfach etwas tun, das ihr Freude bereitet.
Derweil wünschen sich die Kinder wieder zu musizieren und in den Musikunterricht gehen zu können. Yurii wünscht sich eine E-Gitarre. Er war sehr traurig, als er erfahren hat, dass sein Musiklehrer erschossen wurde.
Dies ist eine von vielen Flüchtlingsgeschichten und auch die Erfolgsgeschichte der Aufnahme von Flüchtlingen durch eine Wädenswiler Gastfamilie. n
Tetjana würde gerne Hunde spazieren führen. Bei Bedarf kann man Luzia Bertschinger unter
079 616 97 92 kontaktieren; auch, wenn jemand per Zufall noch eine E-Gitarre zu verschenken hat.