Vor gut 22 Monaten dachte ich, dass die Diskushernien in meinen Halswirbeln das akuteste gesundheitliche Problem bei mir darstellen. Dass kurze Zeit danach ganz andere Probleme auftauchen würden, hätte ich mir nicht träumen lassen …
Text & Bild: Reni Bircher
Zunehmend breiteten sich permanente Schmerzen in meiner Hüfte, dem Brustkorb und den Beinen aus, manchmal bis zu den Füssen hinab. Zwischendurch fühlte es sich so an, als hätte ich einen Zweitagesmarsch hinter mir und wäre mit entsprechendem Muskelkater geschlagen. Egal, ob ich mich bewegte oder nicht, die Schmerzen waren da. Auch die Hirnhäute haben regelmässig überreagiert, und es war, als würde sich meine Kopfhaut zusammenziehen – einfach im Innern des Schädels. Nach einem MRI und dem Besuch beim Neurologen bekam ich eine Diagnose vom Rheumatologen und seinem Kollegen, einem Facharzt für Wirbelsäulenchirurgie: Meine Wirbelsäule wies eine so starke Hypertonie aus, dass sich die Facettengelenke ständig aneinander gerieben haben. Im Lendenbereich führte diese ständige Reizung und der Verschleiss zu einer Arthrose, also einem Aufbau «überflüssiger» Knochensubstanz, welche mir beidseitig die Nerven abgeklemmt hat.
Zuerst haben wir es mehrfach versucht mit Cortisonspritzen so weit zu beruhigen, dass ich dem normalen Alltagsgeschäft nachgehen kann. Leider hielt dies jeweils bloss drei, vier Tage an.
Nach über einem Jahr konnte ich nicht mehr, die permanenten Schmerzen haben mich verrückt gemacht, und so entschloss ich mich zu einer Operation. Ich suchte das Gespräch mit meinen Ärzten, denn als HS-Persönlichkeit mit einer Insomnie bereitete mir nur schon der Spitalaufenthalt an sich grosse Sorgen. Doc Aebli, wie sich der Chirurg im SMS gerne nennt, entschloss sich deshalb, mich mit ins Bündnerland zu nehmen, in ein Spital, in dem er einen Tag pro Woche operiert und wo es nur Einzelzimmer gibt. Die Entscheidung war gefallen, der Termin wurde angesetzt, alles in die Wege geleitet.
Montag
7. Februar. Verdriesslich stelle ich fest, dass hier im Bünderland ganz andere Wetterverhältnisse herrschen, der eisige Wind pfeift mir um die Ohren, die Nase des Zuges ist schneeverkrustet. Am Zielort registriere ich missmutig, dass die Strasse voller Schneemus ist, heisst: Koffer aufheben und tragen. Beim Spital zeigt mir eine Hausangestellte mein Zimmer, wo ich meine Habseligkeiten verstaue.
Schon klopft es, zwei in bordeauxrot gekleidete Damen verfrachten mich ins Bett und fragen, was ich für die Nacht brauche und erklären, dass ich über Nacht im Überwachungsraum bleiben würde … sofort schreibe ich meinem Mann eine SMS, dass er die lange Reise nicht antreten soll, weil er mich gar nicht sehen dürfe nach der OP. Necessaire und Handy werden eingesackt und angeschrieben, kommen mit aufs Bett. Die Frauen bugsieren mein Bett aus der Türe, in den Gang hinaus und in den Lift.
Im UG angekommen, schieben sie mich in einen Raum, wo ich die Anästhesieärztin entdecke, die ich bereits am Freitag zuvor kennengelernt hatte, sowie einen Kollegen, beide in blau. Er stellt mir ein paar Routinefragen, im Nebenraum höre ich die Stimme «meines» Chirurgen, Doc Aebli. Nun müht sich der Anästhesiearzt damit ab, an meiner rechten Hand einen Venenverweilkanüle für die Infusion zu legen, was sich als Herausforderung erweist. Auf Mund und Nase wird mir eine Maske gepresst, ich solle tief einatmen, damit meine Lungen voller Sauerstoff sind. Ich mags nicht, wenn man mich an der Nase berührt, wirklich nicht … aber nach wenigen Sekunden ist das nicht mehr wichtig, weil ich nichts mehr von allem mitkriege, was nun passiert.
Nach der OP muss ich lange geschlafen haben, denn als ich endlich wach werde, kommt die Pflegerin mit dem Telefon zu mir und sagte: «Ihr Mann ist dran; er ruft schon das vierte Mal an und will wissen, wie es Ihnen geht». Ich bin zu benebelt, kann keinen klaren Gedanken fassen, winke ab und höre, wie sie meinem Mann sagt, dass es mir gut gehe und dass ich mich später melden werde. Um halb neun abends verfasse ich eine eher kryptische Nachricht samt Selfie an meine Liebsten und schicke diese in den Äther. Dann lege ich das Handy wieder zur Seite, denn ich kann all die Nachrichten, welche in den Messangern aufploppen, eh nicht entziffern, geschweige denn, etwas Sinnergebendes antworten.
Mein Mund ist total ausgetrocknet und ich bitte um etwas Wasser, was ich allerdings nicht bei mir behalten kann. Man füllt mir eine kleine Sprühflasche mit kaltem Wasser ab, damit ich die Schleimhäute feucht machen kann, dafür bin ich sehr dankbar. Hunger und Durst verspüre ich keinen, auch wenn ich inzwischen seit über 24 Stunden nichts zu mir genommen habe.
Mir wird die Nachtschwester vorgestellt, welche sich liebevoll um mich kümmert, mir mehrmals ein Coldpack unter die Naht am Rücken schiebt, um sie abzukühlen. Vor mir sehe ich den Glasverschlag, von wo aus die Schwestern auf zwei Seiten die Patienten in den Überwachungsräumen im Blick haben. Diverse Monitore leuchten dort drin, immer wieder steht jemand auf, kontrolliert etwas, spricht mit einem Arzt oder Patienten.
Schlafen kann ich nicht.
Jede volle Stunde bläht sich automatisch die Manschette an meinem linken Arm auf, um Blutdruck und Puls zu messen. Während der Nacht werden die Beutel an meinem «Christbaum» regelmässig ausgewechselt: Morphin, Antibiotika, Cortison und natürlich die dauerhafte Infusion. Wenn ich jetzt noch ein Opiumpfeifchen rauchen würde, hätte ich bald alles intus …
Irgendwann nach 4 Uhr morgens bin ich für zwei Stunden weggedöst.
Dienstag
Beim Aufwachen werde ich nach meinen Schmerzen gefragt, die sind erträglich. Ich kann die Nachrichten jetzt endlich lesen und schreibe zurück, dass es mir gut geht und dass ich später in mein Zimmer darf. Das bedeutet, dass sich mein Mann am Nachmittag auf den Weg macht, um mich zu besuchen. Darauf freue ich mich.
Nach einer kurzen Visite kommt der Physiotherapeut zu mir und zeigt mir, wie ich mich aufrichten und aus dem Bett steigen muss, ohne dass sich meine Wirbelsäule verdreht («Sie müssen im Block bleiben»). Ein Kraftakt, den man sonst täglich einfach so mal macht … An einer Hand den Infusionsständer, an der anderen den Therapeuten – mir ist schwindlig – schleiche ich den kurzen Gang auf und ab, bevor ich wieder ins Bett liege und mich dieselben Damen in bordeauxrot wie gestern wieder abholen und in mein Zimmer schieben.
Alle meine Sachen sind noch da, das Foto meiner Lieblinge hängt auf Kopfhöhe am Schrank.
Das Mittagessen muss ich leider zurückgehen lassen, behalte aber die Suppe, und es ist mir möglich, eine halbe Tasse Bouillon zu essen.
Am Nachmittag kommt mein Mann vorbei, leider hat das Restaurant wegen Corona geschlossen. Ich merke, wie unwohl ihm ist, und er tut mir etwas leid. Aber er hat mir meine Ringe gebracht, die ich jedoch nicht über meine Finger streifen kann, weil alles an mir so aufgedunsen ist – und weiss, wie ein Fisch … Ich war ja noch nie braungebrannt, aber so? Ich finde es nicht schlimm, dass sich mein Mann nach einer Stunde wieder verabschiedet, auch weil sein Heimweg so lange ist. Ich bin sowieso sehr müde.
Am Abend ruft mich Doc Aebli an, fragt nach meinem Befinden. Dann erklärt er mir, wie sie bei der OP das Arthrosematerial aus den Wirbeln gekratzt haben. Die grösste Herausforderung dabei ist es, die Nerven nicht zu verletzen, welche zu dem Zeitpunkt schon länger angeschwollen waren. Es sei alles gut gelaufen, jedoch hätten sie einen zusätzlichen Wirbel mittels der Dynamischen Stabilisation einbeziehen müssen, weil dieser zu instabil gewesen sei.
Ich muss diesen lästigen «Christbaum» ständig mit mir herumkarren und auch jedesmal den kleinen Kunststoffbehälter mitnehmen, der über einen Drainageschlauch mit meiner Wunde verbunden ist und von dort das Blutserum aus meiner Wunde fördert, damit es nicht im Körper bleibt. Bei dem Wort «Fördern» käme man auf die Idee, dass es etwas Wertvolles ist – was es an sich auch ist. Aber verwenden kann man das nicht mehr und geleistet habe ich auch nichts dafür.
Mittwoch
Die Nacht war recht dürftig von Schlaf gekrönt. Ich fühle mich heute so schwer, dass es mir kaum möglich scheint, mich zu bewegen. Wenn ich auf der Seite liege, ist es, als wären Bleigewichte an meiner Wirbelsäule aufgehängt. Draussen quitscht das Reinigungswägelchen auf dem Gang hin und her.
Mit dem Physiotherapeuten drehe ich zweimal die kleine Runde, wegen dem Christbaum ist das Treppensteigen nicht möglich. Im Gang neben dem Lift hängen Porträtfotos von den Angestellten, welche die Station Tag und Nacht am Laufen halten. Für diese 40 Zimmer sind das eine ganze Menge Leute. Die Ärzte und Chirurgen am Spital nicht mit eingerechnet. Heute bin ich zum Glück nicht mehr ganz so aufgeschwemmt, aber meine Ringe passen noch immer nicht über die Finger. Nach dem «Ausflug» werden die Schmerzen stärker und ich bin müde.
Vor dem Mittag bin ich den Infusionsständer losgeworden und nutze meine neu gewonnene Freiheit, um mich zu waschen und in meinen Trainer zu schlüpfen. Auf dem Weg aus dem Bad fällt mir der Blutbehälter zu Boden (einmal geschüttelt, nicht gerührt). Zum Glück kann ich ihn einfach am Schlauch wieder hochziehen. Praktisch.
Mein Mann ist wieder da, scheint etwas entspannter zu sein. Ich weiss ja, dass er sich Sorgen um mich macht. Eigentlich hätte ich noch geröntgt werden sollen, aber weil die Drainage noch immer fördert, kann sie nicht entfernt werden. Ganz im Gegenteil: ich bekomme wieder eine Infusion gelegt … Das heisst, es wird versucht. Zwei Schwestern mühen sich an meinen Armen ab, aber ich habe zu kurze und zu dünne Adern mit dicker Wand – und sie rollen. Mein Shirt ist schweissnass, bis man findet, dass ein «Experte» hermüsse. Die kurze Zeit mit meinem Besucher hätte gemütlicher verlaufen können. Nach 30 Minuten taucht ein Pfleger auf, klopft an meinen Armen rum, klemmt ab, macht wieder auf und findet dann, dass er die Kanüle zwangsläufig in der rechten Armbeuge setzen müsse, was unüblich und unpraktisch ist, weil sie dann abgeknickt wird, wenn ich den Arm benutze.
Ich habe also wieder einen «Christbaum» mit Antibiotika; so ein Sch…
Donnerstag
Ein Grossaufgebot an Pflegekräften, Ärzten und Assistenzärzten macht mir nach dem Frühstück seine Aufwartung. Dass ich nur zweimal die zusätzliche Morphinzufuhr gebraucht habe, wertet man als gutes Zeichen, und sie beschliessen, dass die Förderung abgeschlossen werden kann (300 ml sind es seit der OP). Ob es morgen nach Hause gehe? Ich bejahe natürlich. Sie wünschen mir alles Gute, alle gehen ab. Wie im Theater!
Nachdem eine Krankenschwester die Drainage gezogen hat, ist mir für die nächsten drei Tage schwindlig und übel, und eine seltsame Mischung aus Taubheit und Schmerz macht sich breit.
Die Wunde ist mit Folie abgedeckt, so kann ich duschen gehen. Als ich in den Spiegel schaue, komme ich mir ganz welk vor – die Kleberückstände der Pflaster, die Einstichstellen und die Jodstreifen überall unterstreichen den Eindruck noch. Ich bin erschöpft, es ist erschreckend. Doch irgendwo hinter diesem «Schrecken» verbirgt sich ein Neuanfang – hoffe ich.
Am Nachmittag besucht mich meine Freundin. Ausgerechnet dann will die Pflege meine Wunde sehen. Bei dieser Gelegenheit zählt sie 30 Klammern, mit denen der Einschnitt am Rücken verschlossen worden ist. (Die müssen auch wieder raus!). Und meine Freundin fotografiert das Ganze – ich will hier gar nicht erwähnen, wie das aussieht.
Etwas später werde ich zur Kontrolle geröntgt. Da sehe ich die acht Schrauben, wie sie sich in meine Rückenwirbel vergraben und irgendwann mal vom Knochen umschlossen werden, als wären sie ein Teil davon.
Ich bin den ganzen Nachmittag und die Nacht über unruhig, ganz wuschig, das Blut rauscht mir in den Ohren, mein Herz schlägt heftig gegen die Brust. Ich kann nicht schlafen.
Freitag
Als ich die Storen hochfahren lasse, schneit es vor dem Fenster dicke Flocken, sie fallen wie weiche Daunenfedern vom Himmel und sind wunderschön. Ich hoffe, es hat keinen Nebel auf der Strasse, wenn mich mein Mann abholen kommt mit dem Mietauto.
Ich mag nicht essen, mir ist immer noch schwindlig und schlecht. So fange ich an, meine Sachen zusammenzuklauben und im Koffer zu verstauen. Der Physiotherapeut kommt nochmals vorbei, ermahnt, mich nicht zu verausgaben: «Nur Zehn-Minuten-Spaziergänge», sagt er mit schiefem Kopf unter seinen Augenbrauen hindurch, und schwenkt den Finger bedeutsam. (Da komme ich gerade mal ins Dorf … und dann?)
Endlich kommt die Visite, die Wunde wird nochmals kontrolliert, sie drückt nicht durch, ist trocken, reizlos (ja klar, so wie das aussieht …).
Da trudelt schon mein Mann ein, endlich, wir warten auf die diversen Rezepte für die Medikamente. Ich will nach Hause, die Fahrt ist lang und ich will endlich mein Kind wieder sehen, das am Telefon plötzlich mehr nach junger Frau klingt, als nach Teenager. Ich weiss nicht, ob mir das gefällt …
In der Nacht liege ich innerlich vibrierend im Bett, in meinem Kopf formen sich pausenlos Gedanken. Es ist 6.30 Uhr, als ich das letzte Mal auf die Uhr blicke. Dann bin ich weg.
Samstag
Bis um 7.42 Uhr. Dann torkle ich aus dem Bett, mein Mann hat bereits Frühstück gemacht (Mmm … Brot vom Beck). Danach rufe ich im Spital an, sie müssen mir ein Schlafmittel verordnen, sonst kann ich mich nicht erholen, bekomme garantiert Fieber. Ich werde mit dem Tagesarzt verbunden, stutze kurz, sage, was Sache ist. Er will mir das Rezept mailen. Wenig später, beim Öffnen der Mail, weiss ich, warum ich am Telefon kurzzeitig verwirrt war: der Herr unterschreibt das mir zugestellte Mail mit A. Corona – bei gewissen Dingen kann man schlicht nicht neidisch sein.
Heute
Inzwischen sind fast zwei Monate vergangen, und trotz Physiotherapie und täglichen Übungen sind es noch über 1 Kilogramm Muskelmasse, die mir fehlen. Das merke ich vor allem beim Spazieren, das Bergaufgehen ist immer schwierig, je nach Steigung muss ich mich dann «unterhängen». Ich werde schnell müde und bin entsprechend langsam. Manchmal, wenn ich lange gesessen oder unterwegs war, spüre ich, dass da ein Fremdkörper ist; ein unangenehmes Gefühl, als wäre etwas «verrutscht». Ich darf noch länger nichts heben oder tragen, darf mich nicht «verdrehen» im Rücken, und mein Gleichgewicht ist immer noch nicht ganz hergestellt.
Die 15 cm lange Narbe am Rücken verheilt gut. Was mir besonders anhängt ist, dass ich noch immer die Nachwirkungen der Vollnarkose spüre, was sich zusätzlich durch schnelle Ermüdung bemerkbar macht, und dass sich meine Insomnie wieder stark verschlimmert hat. Das zerrt nicht nur am vegetativen Nervensystem, sondern auch am Gemüt. Aber das sind Dinge, die man leider weder vor noch nach einer OP anspricht …
Liebe Frau Bircher,
Ich bin überwältigt über Ihren Bericht zum „Krankenhausbett“, über Ihre Offenheit und das erlittene
Leiden. Mit Ihrer Klarheit geben Sie auch anderen leidgeprüften Patienten und Patientinnen die Möglichkeit, sich „versöhnlicher“ auf das Unveränderliche einzustellen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute in einer schmerzlosen Zeit!
Mit freundlichen Grüssen
Margarita Castillo
Liebe Frau Castillo
Vielen Dank für Ihre Worte und Ihre guten Wünsche.
Tatsächlich stellt uns der eigenen Körper manchmal vor ziemliche Herausforderungen, die man sich so kaum selbst gewünscht hat. Dann fehlt es zwischendurch an Geduld und Zuversicht, so erlebe ich es zumindest.
In solchen Fällen ist jedem Betroffenen zu wünschen, dass sie/er sich bei den Fachpersonen gut aufgehoben fühlt, sich privat auf Unterstützung verlassen kann und persönlich genug Kraft aufbringen kann, um die gegebene Situation zu meistern. Mir selbst hilft immer noch eine Prise Galgenhumor und Selbstironie, aber immer lässt sich das auch nicht aufrecht erhalten…
Es freut mich aufrichtig, wenn es Menschen gibt, denen mein Artikel ein bisschen auf ihrem Weg weitergeholfen hat.
Alles Liebe und Gute wünscht Ihnen
Reni Bircher