Richterswil

«Begegnungen mit Menschen – mein Lebenselixier»

Wer im Dorf unterwegs ist, trifft früher oder später auf Lui (Luigi) Biele. Er zog im Frühling 2019 mit seiner Partnerin nach Richterswil, gründete eine Tagesstätte für junge Erwachsene, eröffnete einen Kramladen und engagiert sich in und ausserhalb von Vereinen für das Dorf. Ein Portrait.

Interview: Reni Bircher
Bilder: zvg

Lui, Du bist vor zweieinhalb Jahren mit Kelly Gray hierhergezogen und hast mit dem «Heimetli mit Herz» einen Ort für Jugendliche und junge Erwachsene geschaffen, der ihnen eine pädagogisch sinnschaffende Tagesstruktur bietet. Wie kam es dazu?
Die Idee dazu hatte ich schon länger und habe das auch mit meiner Partnerin besprochen, die mich dabei voll unterstützt. So haben wir uns auf die Suche nach geeigneten Objekten gemacht. Da musste einiges stimmen, um für diese jungen Menschen eine geeignete Umgebung zu schaffen.
Ausserdem musste die Liegenschaft mit Kellys Lohn finanzierbar sein, da ich mich nach dem Umzug um den Aufbau der Tagesstätte kümmern musste. Dank einer Kollegin wurden wir auf das Haus am Richterswiler Berg aufmerksam und konnten das dann 2019 übernehmen. Ein Glücksfall!

Was war der Anlass, diese Einrichtung aufzubauen?
Zu uns kommen Jugendliche und junge Erwachsene, die aus sehr schwierigen Verhältnissen kommen, physische und psychische Gewalt erlebt haben. Einige sind seit langem in Kliniken untergebracht, sind aber auch «Abbruch-erprobt», weil die Institutionen hochschwelliger agieren. In den früheren Betreuungssystemen, wo ich gearbeitet habe, haben wir Menschen immer wieder «verloren». Das Bedürfnis nach einem Platz à la «Heimetli» ist auch durch diese schmerzliche, aber wertvolle Erfahrung entstanden.

Was meinst Du mit «hochschwellig»?
Der Mensch braucht Regeln, damit eine Gesellschaft funktionieren kann, das ist wohl jedem klar. Die Jugendlichen, die zu uns kommen, können solchen Rahmenbedingungen aber kaum gerecht werden und geraten unter starken Zwang, darum kann es nur auf ein «Versagen» ihrerseits hinauslaufen.

Welche Möglichkeiten bietet das «Heimetli» Deiner Meinung nach, was in anderen Institutionen fehlt?
Bis jetzt kenne ich nichts, wo schwer traumatisierte Jugendliche hingehen können, ohne dass ihnen schon wieder unsere Leistungsgesellschaft im Nacken sitzt.
Das «Heimetli» ist ein Ort, an dem keine Bedingungen gestellt werden, und es gibt von unserer Seite her keine Erwartungshaltung. Und diese Einstellung leben wir auch. Gerade Jugendliche stehen unter enormem Druck, sei es durch die Gesellschaft, andere Jugendliche, sich selbst oder durch die wegen der Hormone stark ausgeprägten Gefühlsregungen.
Es muss möglich sein, dass diese jungen Leute einfach mal nur mit einem unserer Hunde spielen oder rumsitzen dürfen, ohne ihnen in jeder Minute eine gesellschaftliche Verpflichtung aufzuerlegen. So agieren wir niederschwellig, schaffen Vertrauen und bringen Ruhe in deren Leben.
Vielen fällt es anfänglich schwer, diese Vorgehensweise anzunehmen, ganz einfach, weil sie es nicht gewohnt sind, dass man sie in Ruhe lässt. Man merkt, dass sie misstrauisch sind. Gerade deshalb müssen wir eine Vertrauensbasis sowie den geeigneten Rahmen schaffen, um ihnen zu vermitteln, dass das in Ordnung ist. Das erlaubt es ihnen, mal durchzuatmen und herauszufinden, wie es später weitergehen soll in ihrem Leben. Es bedeutet aber nicht, dass sie hier keine Struktur haben, die gibt es sehr wohl. Wir arbeiten
sehr partizipativ, und es ist wichtig für unsere Tagesgäste, dass sie wissen, woran sie sind und was Sache ist. Die Dinge müssen klar benannt werden, da sind sie wie Kinder: die mögen nichts Unbekanntes und keine unkonkreten Pläne, sie wollen wissen, was als nächstes kommt. Ehrlichkeit ist das Gebot der Stunde, und bei Unsicherheiten unsererseits heisst es: nachdenken und nachfragen, was von den Jugendlichen gebraucht und gewollt wird. Genau wissen, was man sagt. Wenn ich jemandem sage: «Ich bin immer für dich da», dann stimmt das so nicht. Ich bin in der Zeit, in der jemand bei uns ist, bedingungslos da. Das muss klar kommuniziert werden.

Du selbst wirkst immer ziemlich aufgeräumt und zuversichtlich; was ist Dein Geheimnis?
Ich glaube, das liegt daran, dass ich momentan einfach das tun darf, woran mir viel liegt. Zudem begleiten mich Menschen – allen voran Kelly – die einen ganz grossen Teil zu diesem Glück beitragen. Ausserdem muss ich mich inzwischen nicht mehr hinterfragen, was und wieso ich diese Arbeit mache. Die Menschen geben mir so viel zurück, mein Umfeld, diese Jugendlichen, die zwischenmenschlichen Aktionen … das lässt mich weitermachen.
Aufgeräumt … ich weiss nicht. Natürlich habe ich auch Zweifel, möchte aber sagen, dass es «gesunde» Zweifel sind.

Soweit ich weiss, hast Du keinen Schweizer Pass? Wie kommts?
Meine Eltern kamen Ende der Sechzigerjahre aus Italien, ich bin in der Schweiz geboren und fühle mich auch als Schweizer. Tatsächlich habe ich mich nach der Volljährigkeit mal um einen Schweizer Pass bemüht, aber rein finanziell lag das gar nicht drin. Mein Zuhause ist jetzt in Richterswil, hier fühle ich mich inspiriert, und ich kann mir gut vorstellen, dass ich den Pass doch noch beantragen möchte.

Wo leben Deine Eltern?
Mein Papa ist 1990 gestorben. Meine Mutter lebt noch immer in Sachseln in Obwalden, wo ich aufgewachsen bin, ebenso wie mein Bruder mit seiner Familie.

Wie verliefen Deine Jahre als junger Erwachsener?
Ich bin bereits mit 18 nach Luzern gezogen, wo ich eine Lehre als Goldschmied absolviert habe. Mein Lehrmeister war ein sehr tyrannischer Mensch, aber ich habe die vier Jahre durchgezogen. Danach wollte ich allerdings nichts mehr von diesem Beruf wissen.
Ich habe lange temporär in diversen Bereichen gearbeitet, war am Wochenende als DJ und Partyorganisator unterwegs. Irgendwann habe ich das auch als Hauptberuf gemacht, wurde Club- und Barbesitzer, habe Musik geschrieben … Ich mochte den Kontakt mit den Leuten, habe aber gemerkt, dass ich an meinem sozialen Umfeld vorbeilebe.
Nach einer halbjährigen Pause bin ich nach Zürich gezogen und im Detailhandel tätig geworden, habe Franchising übernommen.

Heimetli

Irgendwann überkam mich die totale Krise, ich war unzufrieden, mir überhaupt nicht im Klaren darüber, wer ich eigentlich bin und was ich mit meinem Leben machen will. Mir wurde bewusst, dass ich mit jungen Menschen arbeiten möchte, dachte über eine Schule für elektronische Musik nach. Zufällig begegnete ich einem alten Bekannten, der als Betreuer in einer Suchttherapie tätig war. Dort suchten sie jemanden, der für die Patientinnen und Patienten in ihrer Freizeit anwesend ist, ohne eine therapeutische Aufgabe zu verfolgen. So bin ich als Quereinsteiger ins Soziale Netzwerk gerutscht, habe sehr spannende und tolle Ausbildungen machen dürfen, wurde später sogar Teamleiter, als das Projekt «Junges Wohnen» ins Leben gerufen wurde. So lernte ich das Arbeiten mit Jugendlichen kennen, und das hat mir wirklich «den Ärmel reingezogen», wie man so schön sagt.

Hast Du selbst Kinder?
Kelly und ich haben uns bewusst dagegen entschieden. Dafür haben wir 2014 eine zweieinhalbjährige Ausbildung zur qualifizierten Pflegefamilie gemacht.
Vor vier Jahren haben wir ein Pflegekind aufgenommen und seither lebt Rafi bei uns. Letzthin hat er einen Lehrvertrag unterzeichnen können, darüber freuen wir uns alle sehr.
Diesen Frühling habt Ihr im Dorf Euren Laden mit Café eröffnet; wie läuft er?
Es durfte einfach entstehen, wie das «Heimetli» am Berg oben. Wir hatten glücklicherweise keinen Druck, dass er in den ersten drei Monaten schon viel abwirft. Aber es hat wirklich alles übertroffen, was wir uns erhoffen konnten. Wir sind sehr zufrieden damit, wie es im Laden läuft. Was den Wunsch nach einem Begegnungsraum betrifft, so ist das definitiv in Erfüllung gegangen. Wir wurden generell offen empfangen im Dorf, sei es von den umliegenden Ladenbesitzern, Nachbarn oder von der Bevölkerung.

Auch mit diesem Projekt versucht ihr, Menschen mit «gesellschaftlich schwierigen Ausgangspositionen» zu unterstützen …
Die meisten Produkte und Prototypen entstehen von uns Erwachsenen, die Jugendlichen im «Heimetli» dürfen etwas dazu beitragen, wenn sie mögen. Uns dient es dazu, um noch auf andere Weise Geld zu beschaffen – denn das fehlt uns an allen Ecken und Enden – damit wir unsere Hauptprojekt weiter vorantreiben können. Wir wollen den Leuten nicht einfach einen Einzahlungsschein in die Finger drücken, um unseren Verein zu unterstützen.
Zudem ist der Gedanke von Up- und Recycling allgegenwärtig, und manche Einwohnerinnen und Einwohner bringen uns Sachen vorbei, die sie nicht mehr benötigen.

Du stehst nun häufig am Nachmittag und am Samstag im Laden; bleibt da Zuhause nicht vieles liegen?
Meine Holzarbeiten und -produkte leiden tatsächlich, der Sonntag ist eigentlich der einzige freie Tag für mich. Früher, als ich noch alleine am Berg oben mit zwei Jugendlichen gearbeitet habe, da hatte ich sehr viel mehr Zeit, diesen Projekten nachzugehen. Doch vor zwei Jahren konnte ich noch nicht ahnen, dass unser Angebot so gefragt ist, und wir mussten natürlich entsprechend darauf reagieren.
Aber ich investiere gerne meine Zeit abseits meiner Werksatt, um all die anderen Dinge vorwärtszubringen.

Im Sommer hast Du für einen Freund eine Ausstellung im Preisig Keller organisiert, ausserdem bist Du seit längerem aktives Mitglied in der Pro Sagi Samstagern. Was reizt Dich an solchen Tätigkeiten?
Die Ausstellung war etwas Besonderes und entstand aus der Idee heraus, mit den Jugendlichen einen Workshop mit einem «richtigen» Künstler zu machen. Weil das coronabedingt nicht stattfinden durfte, habe ich kurz nach den Lockerungen wenigstens die Ausstellung organisiert. Es ist aber noch immer eine Vision von mir, unsere Tagesgäste mit einem Künstler zusammen einen Workshop machen zu lassen.

Zur Sagi kam ich durch den Neuzuzügeranlass der Gemeinde; das war ja richtig cool, sowas haben wir vorher noch nirgends erlebt. Damals fand ich, dass ich noch etwas ausserhalb von Arbeit und Wohnen am selben Ort brauche, damit mir nicht das Dach auf den Kopf fällt.
An diesem Anlass lernte ich den Sagi-Verein kennen, und es hat mich sofort fasziniert, denn ich liebe antike Maschinen und altes Handwerk. In diesem Zusammenhang habe ich auch bei der Renovation der «Mosti» am Chilerain gearbeitet.

Seit zwei Jahren bist Du auch noch Marktmeister bei VVRS; woher nimmst Du die Zeit und Energie, Dich so vielen Projekten zu widmen, und das immer mit vollem Einsatz?
Ich glaube, das liegt auch daran, dass ich einen Ort gefunden habe, an dem ich guten Leuten begegne, die mich inspirieren und die mich diesen Weg gehen lassen. Der Hauptantrieb in meinem Leben war schon immer etwas mit Menschen für Menschen zu machen.
Mittlerweile hat es aber schon eine Dimension angenommen, die mich oftmals an meine Grenzen bringt. Und doch ist es eben eine gute Sache…

Wie sieht denn Deine Freizeit aus, wie erholst Du Dich, machst Du auch mal Ferien?
Erholung in Sinne von Ressourcen tanken, das bietet mir mein Zuhause. Die wenige Zeit, die ich für mich habe. Etwa am Morgen, wenn ich früh aufstehe, mich um die Tiere kümmere, in eine andere Welt abtauche, während des Spaziergangs mit den Hunden. Da tanke ich Kraft.
Ich mag es, wenn das Haus voll ist, aber ich schätze die Ruhe vor der Ankunft der Jugendlichen und auch, wenn sie am Abend wieder nach Hause gehen.
Unser Zuhause ist der sichere Hafen, der ruhende Pool, und das zusammen mit Kelly und Rafi. Ich muss eigentlich nirgendwo hin, um Ruhe zu finden, denn bei uns oben ist Ruhe.
Kelly schickt mich zwischendurch schon mal für ein Wochenende zum Wellnessen, wenn sie findet, dass es «wieder mal genug ist». Dann kann ich auch sehr gut abschalten.
In diesem Jahr hatten wir zwei Wochen Ferien – und alles andere ist weitergelaufen, ein Riesenerfolg!

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