Während eines halben Jahrhunderts wurden im Waisenhaus Kinder fremdplatziert und «erzogen». Dabei wurden die Kinder wenig gefördert und erlebten oft eine gewalttätige Pädagogik. Richterswil ist sich seiner Verantwortung bewusst und will mit einer Ausstellung einen Teil seiner Geschichte aufarbeiten und einen Beitrag leisten, indem sie den Betroffenen Gehör verschafft.
Text: Reni Bircher
Die Waisenhäuser im Kanton Zürich entstanden nicht durch zentrale Planung, sondern durch lokalen Bedarf. Entscheidend war jedoch die Initiative eines Dorfes. Als in Richterswil ein Fabrikantensohn aus der Firma ausstieg, überliess er die rote Villa für einen guten Zweck kostengünstig der Gemeinde. Diese selbst war froh über die Gelegenheit, denn der Bedarf an einem Waisenhaus war angezeigt. Solche Begebenheiten waren in ländlichen Gegenden vermutlich normal, in Städten wurden Waisenhäuser eher geplant.
In Waisenhäusern wurden aber nur wenige elternlose Kinder untergebracht, hauptsächlich waren es Kinder von verarmten oder überforderten Eltern. Dabei orientierten sich die Behörden am bürgerlichen Familienideal: genügend Geld für Nahrung, Kleidung usw. und genügend Zeit für die Kinderbetreuung. Unterschichten konnten das oftmals nicht bewältigen, etwa weil die Frau zwingend ebenfalls arbeiten musste und die daraus folgende mangelhafte Kinderbetreuung deshalb als «abnormal» galt. Bei zusätzlichen Krisensituationen (Scheidung, Alkohol, Todesfall von Elternteilen, Krankheiten) schritten oft die Behörden ein. Statt den Familien finanziell zu helfen oder die Mütter zu entlasten (über ein Kindergeld beispielsweise), wurden ihnen die Kinder weggenommen und fremdplatziert. Rechtlich war dies seit dem Zivilgesetz von 1912 möglich und klar legitimiert.
Was die Auswahl der Heimleitung dieser Häuser anging, so war es wichtig, dass ein Mann eine Frau an seiner Seite hatte, die anpacken konnte, am besten auch noch mit eigenen Kindern. Die Professionalität und menschlichen «Qualitäten» spielten dabei keine Rolle, denn es gab ja auch keine entsprechenden Ausbildungen. Die Entscheidung für die Übernahme der Heimleitung oblag der Armenpflege Richterswil und der Waisenhauskommission.
Beim dritten Leiterwechsel machten sich die Ansprüche an Professionalität schon mehr bemerkbar. Dies konnte jedoch fatalerweise nicht verhindern, dass dies die schlimmste Ära für die Kinder im Waisenhaus wurde. Laut den Experten lässt sich die Überforderung der Heimleitung – nebst generell strukturellen Problemen – häufig mit Überlastung erklären.
Ein Betroffener erzählt
Vor mir sitzt Anton Holdener*, ehemaliges Waisenhauskind, inzwischen 80 Jahre alt, mit einem Leben im Gepäck, dessen schwere Last durch Gewalt, Missstände, Unverständnis und Lieblosigkeit kaum zu tragen ist. Er kam bereits als Säugling ins Kinderheim in Schönenberg, als Siebenjähriger wurde er ins Waisenhaus Richterswil verlegt. Hier verbrachte er weitere zehn Jahre. Warum, das weiss er nicht – vermutlich weil er unehelich geboren wurde. Besucht haben ihn weder Mutter noch Vater, obwohl dieser kaum 200 Meter vom Heim entfernt mit einer anderen Frau und fünf Söhnen wohnte. Diese hatten denselben Schulweg wie er, waren aber nicht stigmatisiert durch dreckige Füsse, weil die Kinder aus dem Waisenhaus immer barfuss gehen mussten (was vor allem bei Mädchen ein Leben lang nachweislich zu Nierenschäden geführt hat). Vermutlich wurden diese fünf Burschen auch nicht in eine Sonderklasse abgeschoben, weil man ihnen wie den «Waisenhäuslern» automatisch Dummheit und Verdorbenheit nachsagte.
Anton fällt es schwer, den Worten anderer zu folgen, denn er hatte als Kind eine Mittelohrentzündung, welche nicht behandelt wurde. «Er simuliert wieder!», hiess es. Durch diese kurzzeitige Gehörlosigkeit eignete sich Anton Holdener das Lippenlesen an. Eine Fähigkeit, derer er sich nicht gewahr wurde, bis Corona kam …
Kleine Lichtblicke
Schon als kleiner Junge litt Anton an Asthma, manchmal waren die Anfälle so heftig, dass er kaum noch Luft bekam. Die Heimleitung unterstellte dem Kind, es würde simulieren. Selbst nach einem so heftigen Anfall, der zum Zusammenbruch führte, musste Anton zu Fuss ins Dorf zum Arzt gehen. Für die Kinder im Heim war der Dorfarzt Dr. Kälin* zuständig: «An ihn erinnere ich mich gern», erzählt Anton. «Aber er war, wie alle anderen, völlig machtlos und nicht in der Lage, uns Kinder zu retten.» Der Dorfpfarrer hat es einmal versucht, bezahlt hat der Bub mit Schlägen und massiven Drohungen.
Eines jedoch konnte der Arzt: Er liess Anton für mehrere Wochen in die Reha bringen – länger als nötig – mit der Absicht, dass sich das Kind einmal etwas erholen und dem Waisenhausterror entkommen konnte. «Das habe ich erst viel später verstanden, als ich erwachsen war.»
Ein weiterer Lichtblick war, dass die Waisenkinder jeden Winter von den Betreibern des Kino Rex für eine Vorstellung mit Zeichentrickfilm eingeladen wurden. Zwei Stunden im Jahr, um das Leben, das man führen musste, zu vergessen.
Ab in die Geschlossene Abteilung
Nach Beendung der Schule hätte Anton theoretisch eine Lehre beginnen können, wäre da nicht sein grösstes Handicap gewesen: er war Bettnässer, auch im Erwachsenenalter noch. Dies machte es ihm unmöglich, auswärts ein Zimmer zu beziehen. Der ehrenamtliche Vormund war ihm keine Hilfe, «er machte für mich rein gar nichts, ausser mich zu strafen». Das einzige, was er gelernt habe, sei die Gewissheit, er sei ein «Söihund» und zu nichts zu gebrauchen. Seine Scham darüber war grenzenlos. In jüngeren Jahren hatte er noch versucht, sich mit selbst zugefügten Schmerzen vom Schlafen abzuhalten, was nicht gelingen konnte. Dafür wurde er dann nackt mit dem Schlauch mit eiskaltem Wasser abgespritzt. Oder als Mädchen verkleidet mit der verpinkelten Bettwäsche durch das Dorf gejagt. Während des Abendessens mussten «fehlbare» Kinder in einer Reihe stehen, in Sichtweite die anderen beim Essen beobachten und danach mit nur einer Scheibe Brot ins Bett. Die Verzweiflung und Ohnmacht bei dieser Erinnerung sind ihm ins Gesicht geschrieben.
Anton versucht sich als Fischer, Gärtner und ging zum Schluss zur Wümmet ins Welschland, weil er nur noch weg wollte; dahin, wo ihn niemand kennt. Beim Weinbauern bereitete sich der junge Mann ein Bett im Stroh bei den Tieren, weil es dort kaum eine Rolle spielte, dass er Bettnässer war. «Dieses ‹Arrangement› war für mich überlebenswichtig, weil ich sonst in ständiger Angst gelebt hätte, dass es wieder passiert.» Dieser kurzen Phase der Integration in ein funktionierendes Arbeitsleben und der Akzeptanz «du hast andere Menschen» wurde in einer Nacht- und Nebelaktion ein jähes Ende gesetzt.
Der Vormund hatte veranlasst, dass Anton von der Vormundschaftsbehörde nach Rheinau in die Klinik gebracht wurde. Der Winzerfamilie wurde erzählt, dass der Erntehelfer in eine Klinik für Bettnässer gebracht werde – nur deshalb liessen diese zu, dass er abgeholt wurde. Eingesperrt in die geschlossene Abteilung, klebte der junge Mann Tüten wie im Gefängnis. Ein halbes Jahr verging, bis er einen Termin beim Chefarzt bekam. Dieser habe ihm ein paar Fragen gestellt, dann zum Telefon gegriffen und nach der Telefonnummer des Vormundes verlangt. «Herr Kuster*, ich gebe Ihnen anderthalb Stunden, um diesen Burschen hier abzuholen, der hat hier nichts zu suchen!» Nach diesen sechs Monaten mit Tütenkleben kam er im Bürgerheim für mehrere Wochen in die Gefängniszelle. Warum habe man ihm nie gesagt.
Erste Schritte ins Leben
Zu jener Zeit lebte nahe dem Bürgerheim die Familie Gerber*. Mutter und Tochter mochten nicht mitansehen, wie der junge Mann zusammen mit alten Männern in diesem Heim festgehalten wurde. Sie empfahlen ihm, sich bei einer Familie Holdener* weiter oberhalb vorzustellen, denn die hätten schon mal an einen Untermieter ein Zimmer vermietet. Das Wohlwollen dieser beiden Menschen war für Anton eine neue Erfahrung. Noch am gleichen Abend wurde er bei Holdeners vorstellig, erklärte seine Situation. Vorsichtig geworden durch die Trinkerei des Vorgängers, wollte die Familie keinen Untermieter mehr im Haus. Verständnisvoll, aber enttäuscht, zog er von dannen; sicher, dass es mit seinem Leben so weitergehen würde wie bisher.
Am nächsten Vormittag überbrachte Mutter Gerber* dem gebeutelten Mann eine Nachricht: Holdeners hätten angerufen und liessen ausrichten, dass sie es gerne mit ihm versuchen würden. «Ab diesem Zeitpunkt lief mein Leben in andere Bahnen», erklärt das ehemalige Waisenhauskind mit belegter Stimme. Es gab Nächte, aus denen er mit trockenen Leintüchern erwachte. Die Dame des Hauses hielt durch, trotz der vielen Wascherei, trotz des Geschwätzes der Nachbarn. Das Bettnässen wurde immer seltener, irgendwann hatte Anton es ganz überwunden. «Das Leben schien plötzlich Sinn zu machen.»
Bei der SSG hat er einen Job bekommen und die Minibar durch die Züge geschoben. In Zürich besuchte er die Abendschule im touristischen Institut als Reiseleiter und hat sie auch bestanden. Noch während der Schulzeit wäre er dank seiner Leistungen engagiert worden, habe ganz klein mit Stadtrundfahrten begonnen, es aber schliesslich bis nach Südamerika und in den fernen Osten geschafft. «Früher habe ich mich im Schuhputzraum – für mich ein Ort der Geborgenheit – mit dem Weltatlas eingeschlossen und habe mit dem Finger auf der Karte Reisen in alle Herren Länder gemacht. Eine Flucht vor der Realität. Nun konnte ich diese Länder tatsächlich besuchen.»
Goldschätze
Wer nie gelernt hat zu vertrauen, kann nur schwer Beziehungen eingehen. «Man hat mir immer wieder gesagt, dass mich niemand will – und ich habe das geglaubt.» Aber Anton Holdener hatte lange Jahre eine Freundin, welche aus ähnlichen Verhältnissen kam wie er. Eine Heirat kam für ihn nie in Frage, es wäre eine neue Art von Gefangenschaft für ihn gewesen. «Ich wollte nie wieder das Gefühl haben, dass jemand über mich bestimmt.» Jedoch blieb ihm auch beziehungsmässig nichts erspart, denn seine Freundin verstarb mit 34 Jahren an Lymphdrüsenkrebs.
Das vermutlich schönste Erlebnis war wohl, als die Familie Holdener den 22-jährigen Anton offiziell adoptiert hat. Die Erinnerung, wie er in Wädenswil auf dem Standesamt «Ja» sagen musste, treibt ihm die Tränen in die Augen. «Ich habe sie bis zu ihrem Tod begleitet und bin ihnen auf ewig dankbar, dass sie mir das Leben gerettet haben mit ihrer Güte und Liebe, die sie mir entgegengebracht haben. Sie waren meine Goldschätze, und ohne sie hätte ich nie meinen Weg gefunden.»
Gestohlene Kindheit
Ob er jemals verzeihen kann, dass ihm die Kindheit gestohlen wurde, das Recht auf eine gesunde Entwicklung des Selbstwertgefühls verwehrt? «Manchmal denke ich, es fällt mir nicht schwer, zu verzeihen und vergessen. Aber wenn ich darüber rede, merke ich, wie sehr es mich noch immer quält und mir die Brust zuschnürt.» Beim Aktenlesen auf der Gemeinde habe er weinen müssen, hat sich gefragt, warum er sich das antue. «Ich habe mit 80 Jahren erfahren, wann mein Vater gestorben ist. Die Gemeinde hat mir extra ein Foto seines Grabsteines geschickt, weil das Grab gar nicht mehr vorhanden ist.»
Das einstige Waisenhauskind möchte betonen, dass es nicht in allen Einrichtungen zur damaligen Zeit so zu und her ging wie in Richterswil. Er erinnert sich, wie er einmal nach Wädenswil ins Waisenhaus musste, weil ihn ferienhalber niemand haben wollte: Die Waisenmutter dort hat einem jeden Kind vor dem Schlafengehen ein Küsschen gegeben, und Anton kam aus dem Staunen nicht mehr heraus; solche Heimeltern gab es eben auch.
Die Ausstellung
Dank der Initiative seitens Sozialbehörde, grossem Engagement des Projektteams und der sicherlich schwierigen Zusage von ehemaligen Heimkindern, ihre Geschichte zu erzählen, ist diese Ausstellung von «Fassaden und Innenwelten» entstanden. Als der Bund 1997 beschlossen hat, an diese fremdplatzierten Kinder Solidaritätsbeiträge zu zahlen, wurde auf der Gemeinde vermehrt Einsicht in Akten verlangt. Die Gemeinderätin und Vorsteherin der Sozialbehörde, Bernadette Dubs, erklärt, wie die Begegnungen und Berichte mit ehemaligen Betroffenen sie dazu bewogen hätten, diese Geschichten öffentlich zu machen und damit diesen dunklen Teil der Richterswiler Dorfgeschichte zu verarbeiten und enttabuisieren. «Früher hatte man diesen Menschen nicht zugehört, und deshalb wurden diese Geschichten auch nie erzählt. Wir möchten diesen mit der Ausstellung den nötigen Raum geben.»
Mit den Kuratoren, der Biografikerin Lisbeth Herger und dem Historiker Heinz Looser, konnte der Gemeinderat zwei Profis zur Aufarbeitung engagieren, welche dieses ganze Thema sehr gewissenhaft und sauber aufgearbeitet haben. «Das war dringend nötig», findet Gemeindepräsident Marcel Tanner, dessen Vater ebenfalls als Kleinkind ins Waisenhaus kam und fast bis zu dessen Schliessung dort lebte.
Akten wälzen
Die Kuratoren haben Berge an Akten zur Geschichte des Heims durchforstet, und zusätzlich mit Ehemaligen Gespräche geführt. Von den 330 Mädchen und Buben, die im Waisenhaus gelebt haben, konnte mit sechs Kontakt aufgenommen werden. «Es ist nicht selbstverständlich, dass jemand einer fremden Person seine Geschichte erzählt, da sind sehr ambivalente Gefühle im Spiel. Dass die Ehemaligen sich bereit erklärt haben, in diese Schluchten einzutauchen, ist äusserst bemerkenswert», erklärt Lisbeth Herger. Viele dieser Kinder sind im Leben durch ihre Versehrtheit gestrandet, früh verstorben, haben Suizid begangen oder endeten in Drogen und Depression.
Anton Holdener empfindet Dankbarkeit für die Gelegenheit, die ihnen hier gegeben wurde: «Ich wäre sonst irgendwann gestorben und hätte nicht die Möglichkeit gehabt, im positiven Sinne an meiner Geschichte zu arbeiten. Dass sich die Menschen hier und die Gemeinde Richterswil dafür eingesetzt haben, finde ich grossartig und ist nicht selbstverständlich.»
https://www.richterswil.ch/projekterichterswil/11374
* Die Namen sind der Redaktion bekannt, wurden aber zum Schutz von Betroffenen und möglichen Nachkommen pseudonymisiert.
Während eines halben Jahrhunderts wurden im Waisenhaus Kinder fremdplatziert und «erzogen». Dabei wurden die Kinder wenig gefördert und erlebten oft eine gewalttätige Pädagogik. Richterswil ist sich seiner Verantwortung bewusst und will mit einer Ausstellung einen Teil seiner Geschichte aufarbeiten und einen Beitrag leisten, indem sie den Betroffenen Gehör verschafft.
Text: Reni Bircher
Die Waisenhäuser im Kanton Zürich entstanden nicht durch zentrale Planung, sondern durch lokalen Bedarf. Entscheidend war jedoch die Initiative eines Dorfes. Als in Richterswil ein Fabrikantensohn aus der Firma ausstieg, überliess er die rote Villa für einen guten Zweck kostengünstig der Gemeinde. Diese selbst war froh über die Gelegenheit, denn der Bedarf an einem Waisenhaus war angezeigt. Solche Begebenheiten waren in ländlichen Gegenden vermutlich normal, in Städten wurden Waisenhäuser eher geplant.
In Waisenhäusern wurden aber nur wenige elternlose Kinder untergebracht, hauptsächlich waren es Kinder von verarmten oder überforderten Eltern. Dabei orientierten sich die Behörden am bürgerlichen Familienideal: genügend Geld für Nahrung, Kleidung usw. und genügend Zeit für die Kinderbetreuung. Unterschichten konnten das oftmals nicht bewältigen, etwa weil die Frau zwingend ebenfalls arbeiten musste und die daraus folgende mangelhafte Kinderbetreuung deshalb als «abnormal» galt. Bei zusätzlichen Krisensituationen (Scheidung, Alkohol, Todesfall von Elternteilen, Krankheiten) schritten oft die Behörden ein. Statt den Familien finanziell zu helfen oder die Mütter zu entlasten (über ein Kindergeld beispielsweise), wurden ihnen die Kinder weggenommen und fremdplatziert. Rechtlich war dies seit dem Zivilgesetz von 1912 möglich und klar legitimiert.
Was die Auswahl der Heimleitung dieser Häuser anging, so war es wichtig, dass ein Mann eine Frau an seiner Seite hatte, die anpacken konnte, am besten auch noch mit eigenen Kindern. Die Professionalität und menschlichen «Qualitäten» spielten dabei keine Rolle, denn es gab ja auch keine entsprechenden Ausbildungen. Die Entscheidung für die Übernahme der Heimleitung oblag der Armenpflege Richterswil und der Waisenhauskommission.
Beim dritten Leiterwechsel machten sich die Ansprüche an Professionalität schon mehr bemerkbar. Dies konnte jedoch fatalerweise nicht verhindern, dass dies die schlimmste Ära für die Kinder im Waisenhaus wurde. Laut den Experten lässt sich die Überforderung der Heimleitung – nebst generell strukturellen Problemen – häufig mit Überlastung erklären.
Ein Betroffener erzählt
Vor mir sitzt Anton Holdener*, ehemaliges Waisenhauskind, inzwischen 80 Jahre alt, mit einem Leben im Gepäck, dessen schwere Last durch Gewalt, Missstände, Unverständnis und Lieblosigkeit kaum zu tragen ist. Er kam bereits als Säugling ins Kinderheim in Schönenberg, als Siebenjähriger wurde er ins Waisenhaus Richterswil verlegt. Hier verbrachte er weitere zehn Jahre. Warum, das weiss er nicht – vermutlich weil er unehelich geboren wurde. Besucht haben ihn weder Mutter noch Vater, obwohl dieser kaum 200 Meter vom Heim entfernt mit einer anderen Frau und fünf Söhnen wohnte. Diese hatten denselben Schulweg wie er, waren aber nicht stigmatisiert durch dreckige Füsse, weil die Kinder aus dem Waisenhaus immer barfuss gehen mussten (was vor allem bei Mädchen ein Leben lang nachweislich zu Nierenschäden geführt hat). Vermutlich wurden diese fünf Burschen auch nicht in eine Sonderklasse abgeschoben, weil man ihnen wie den «Waisenhäuslern» automatisch Dummheit und Verdorbenheit nachsagte.
Anton fällt es schwer, den Worten anderer zu folgen, denn er hatte als Kind eine Mittelohrentzündung, welche nicht behandelt wurde. «Er simuliert wieder!», hiess es. Durch diese kurzzeitige Gehörlosigkeit eignete sich Anton Holdener das Lippenlesen an. Eine Fähigkeit, derer er sich nicht gewahr wurde, bis Corona kam …
Kleine Lichtblicke
Schon als kleiner Junge litt Anton an Asthma, manchmal waren die Anfälle so heftig, dass er kaum noch Luft bekam. Die Heimleitung unterstellte dem Kind, es würde simulieren. Selbst nach einem so heftigen Anfall, der zum Zusammenbruch führte, musste Anton zu Fuss ins Dorf zum Arzt gehen. Für die Kinder im Heim war der Dorfarzt Dr. Kälin* zuständig: «An ihn erinnere ich mich gern», erzählt Anton. «Aber er war, wie alle anderen, völlig machtlos und nicht in der Lage, uns Kinder zu retten.» Der Dorfpfarrer hat es einmal versucht, bezahlt hat der Bub mit Schlägen und massiven Drohungen.
Eines jedoch konnte der Arzt: Er liess Anton für mehrere Wochen in die Reha bringen – länger als nötig – mit der Absicht, dass sich das Kind einmal etwas erholen und dem Waisenhausterror entkommen konnte. «Das habe ich erst viel später verstanden, als ich erwachsen war.»
Ein weiterer Lichtblick war, dass die Waisenkinder jeden Winter von den Betreibern des Kino Rex für eine Vorstellung mit Zeichentrickfilm eingeladen wurden. Zwei Stunden im Jahr, um das Leben, das man führen musste, zu vergessen.
Ab in die Geschlossene Abteilung
Nach Beendung der Schule hätte Anton theoretisch eine Lehre beginnen können, wäre da nicht sein grösstes Handicap gewesen: er war Bettnässer, auch im Erwachsenenalter noch. Dies machte es ihm unmöglich, auswärts ein Zimmer zu beziehen. Der ehrenamtliche Vormund war ihm keine Hilfe, «er machte für mich rein gar nichts, ausser mich zu strafen». Das einzige, was er gelernt habe, sei die Gewissheit, er sei ein «Söihund» und zu nichts zu gebrauchen. Seine Scham darüber war grenzenlos. In jüngeren Jahren hatte er noch versucht, sich mit selbst zugefügten Schmerzen vom Schlafen abzuhalten, was nicht gelingen konnte. Dafür wurde er dann nackt mit dem Schlauch mit eiskaltem Wasser abgespritzt. Oder als Mädchen verkleidet mit der verpinkelten Bettwäsche durch das Dorf gejagt. Während des Abendessens mussten «fehlbare» Kinder in einer Reihe stehen, in Sichtweite die anderen beim Essen beobachten und danach mit nur einer Scheibe Brot ins Bett. Die Verzweiflung und Ohnmacht bei dieser Erinnerung sind ihm ins Gesicht geschrieben.
Anton versucht sich als Fischer, Gärtner und ging zum Schluss zur Wümmet ins Welschland, weil er nur noch weg wollte; dahin, wo ihn niemand kennt. Beim Weinbauern bereitete sich der junge Mann ein Bett im Stroh bei den Tieren, weil es dort kaum eine Rolle spielte, dass er Bettnässer war. «Dieses ‹Arrangement› war für mich überlebenswichtig, weil ich sonst in ständiger Angst gelebt hätte, dass es wieder passiert.» Dieser kurzen Phase der Integration in ein funktionierendes Arbeitsleben und der Akzeptanz «du hast andere Menschen» wurde in einer Nacht- und Nebelaktion ein jähes Ende gesetzt.
Der Vormund hatte veranlasst, dass Anton von der Vormundschaftsbehörde nach Rheinau in die Klinik gebracht wurde. Der Winzerfamilie wurde erzählt, dass der Erntehelfer in eine Klinik für Bettnässer gebracht werde – nur deshalb liessen diese zu, dass er abgeholt wurde. Eingesperrt in die geschlossene Abteilung, klebte der junge Mann Tüten wie im Gefängnis. Ein halbes Jahr verging, bis er einen Termin beim Chefarzt bekam. Dieser habe ihm ein paar Fragen gestellt, dann zum Telefon gegriffen und nach der Telefonnummer des Vormundes verlangt. «Herr Kuster*, ich gebe Ihnen anderthalb Stunden, um diesen Burschen hier abzuholen, der hat hier nichts zu suchen!» Nach diesen sechs Monaten mit Tütenkleben kam er im Bürgerheim für mehrere Wochen in die Gefängniszelle. Warum habe man ihm nie gesagt.
Erste Schritte ins Leben
Zu jener Zeit lebte nahe dem Bürgerheim die Familie Gerber*. Mutter und Tochter mochten nicht mitansehen, wie der junge Mann zusammen mit alten Männern in diesem Heim festgehalten wurde. Sie empfahlen ihm, sich bei einer Familie Holdener* weiter oberhalb vorzustellen, denn die hätten schon mal an einen Untermieter ein Zimmer vermietet. Das Wohlwollen dieser beiden Menschen war für Anton eine neue Erfahrung. Noch am gleichen Abend wurde er bei Holdeners vorstellig, erklärte seine Situation. Vorsichtig geworden durch die Trinkerei des Vorgängers, wollte die Familie keinen Untermieter mehr im Haus. Verständnisvoll, aber enttäuscht, zog er von dannen; sicher, dass es mit seinem Leben so weitergehen würde wie bisher.
Am nächsten Vormittag überbrachte Mutter Gerber* dem gebeutelten Mann eine Nachricht: Holdeners hätten angerufen und liessen ausrichten, dass sie es gerne mit ihm versuchen würden. «Ab diesem Zeitpunkt lief mein Leben in andere Bahnen», erklärt das ehemalige Waisenhauskind mit belegter Stimme. Es gab Nächte, aus denen er mit trockenen Leintüchern erwachte. Die Dame des Hauses hielt durch, trotz der vielen Wascherei, trotz des Geschwätzes der Nachbarn. Das Bettnässen wurde immer seltener, irgendwann hatte Anton es ganz überwunden. «Das Leben schien plötzlich Sinn zu machen.»
Bei der SSG hat er einen Job bekommen und die Minibar durch die Züge geschoben. In Zürich besuchte er die Abendschule im touristischen Institut als Reiseleiter und hat sie auch bestanden. Noch während der Schulzeit wäre er dank seiner Leistungen engagiert worden, habe ganz klein mit Stadtrundfahrten begonnen, es aber schliesslich bis nach Südamerika und in den fernen Osten geschafft. «Früher habe ich mich im Schuhputzraum – für mich ein Ort der Geborgenheit – mit dem Weltatlas eingeschlossen und habe mit dem Finger auf der Karte Reisen in alle Herren Länder gemacht. Eine Flucht vor der Realität. Nun konnte ich diese Länder tatsächlich besuchen.»
Goldschätze
Wer nie gelernt hat zu vertrauen, kann nur schwer Beziehungen eingehen. «Man hat mir immer wieder gesagt, dass mich niemand will – und ich habe das geglaubt.» Aber Anton Holdener hatte lange Jahre eine Freundin, welche aus ähnlichen Verhältnissen kam wie er. Eine Heirat kam für ihn nie in Frage, es wäre eine neue Art von Gefangenschaft für ihn gewesen. «Ich wollte nie wieder das Gefühl haben, dass jemand über mich bestimmt.» Jedoch blieb ihm auch beziehungsmässig nichts erspart, denn seine Freundin verstarb mit 34 Jahren an Lymphdrüsenkrebs.
Das vermutlich schönste Erlebnis war wohl, als die Familie Holdener den 22-jährigen Anton offiziell adoptiert hat. Die Erinnerung, wie er in Wädenswil auf dem Standesamt «Ja» sagen musste, treibt ihm die Tränen in die Augen. «Ich habe sie bis zu ihrem Tod begleitet und bin ihnen auf ewig dankbar, dass sie mir das Leben gerettet haben mit ihrer Güte und Liebe, die sie mir entgegengebracht haben. Sie waren meine Goldschätze, und ohne sie hätte ich nie meinen Weg gefunden.»
Gestohlene Kindheit
Ob er jemals verzeihen kann, dass ihm die Kindheit gestohlen wurde, das Recht auf eine gesunde Entwicklung des Selbstwertgefühls verwehrt? «Manchmal denke ich, es fällt mir nicht schwer, zu verzeihen und vergessen. Aber wenn ich darüber rede, merke ich, wie sehr es mich noch immer quält und mir die Brust zuschnürt.» Beim Aktenlesen auf der Gemeinde habe er weinen müssen, hat sich gefragt, warum er sich das antue. «Ich habe mit 80 Jahren erfahren, wann mein Vater gestorben ist. Die Gemeinde hat mir extra ein Foto seines Grabsteines geschickt, weil das Grab gar nicht mehr vorhanden ist.»
Das einstige Waisenhauskind möchte betonen, dass es nicht in allen Einrichtungen zur damaligen Zeit so zu und her ging wie in Richterswil. Er erinnert sich, wie er einmal nach Wädenswil ins Waisenhaus musste, weil ihn ferienhalber niemand haben wollte: Die Waisenmutter dort hat einem jeden Kind vor dem Schlafengehen ein Küsschen gegeben, und Anton kam aus dem Staunen nicht mehr heraus; solche Heimeltern gab es eben auch.
Die Ausstellung
Dank der Initiative seitens Sozialbehörde, grossem Engagement des Projektteams und der sicherlich schwierigen Zusage von ehemaligen Heimkindern, ihre Geschichte zu erzählen, ist diese Ausstellung von «Fassaden und Innenwelten» entstanden. Als der Bund 1997 beschlossen hat, an diese fremdplatzierten Kinder Solidaritätsbeiträge zu zahlen, wurde auf der Gemeinde vermehrt Einsicht in Akten verlangt. Die Gemeinderätin und Vorsteherin der Sozialbehörde, Bernadette Dubs, erklärt, wie die Begegnungen und Berichte mit ehemaligen Betroffenen sie dazu bewogen hätten, diese Geschichten öffentlich zu machen und damit diesen dunklen Teil der Richterswiler Dorfgeschichte zu verarbeiten und enttabuisieren. «Früher hatte man diesen Menschen nicht zugehört, und deshalb wurden diese Geschichten auch nie erzählt. Wir möchten diesen mit der Ausstellung den nötigen Raum geben.»
Mit den Kuratoren, der Biografikerin Lisbeth Herger und dem Historiker Heinz Looser, konnte der Gemeinderat zwei Profis zur Aufarbeitung engagieren, welche dieses ganze Thema sehr gewissenhaft und sauber aufgearbeitet haben. «Das war dringend nötig», findet Gemeindepräsident Marcel Tanner, dessen Vater ebenfalls als Kleinkind ins Waisenhaus kam und fast bis zu dessen Schliessung dort lebte.
Akten wälzen
Die Kuratoren haben Berge an Akten zur Geschichte des Heims durchforstet, und zusätzlich mit Ehemaligen Gespräche geführt. Von den 330 Mädchen und Buben, die im Waisenhaus gelebt haben, konnte mit sechs Kontakt aufgenommen werden. «Es ist nicht selbstverständlich, dass jemand einer fremden Person seine Geschichte erzählt, da sind sehr ambivalente Gefühle im Spiel. Dass die Ehemaligen sich bereit erklärt haben, in diese Schluchten einzutauchen, ist äusserst bemerkenswert», erklärt Lisbeth Herger. Viele dieser Kinder sind im Leben durch ihre Versehrtheit gestrandet, früh verstorben, haben Suizid begangen oder endeten in Drogen und Depression.
Anton Holdener empfindet Dankbarkeit für die Gelegenheit, die ihnen hier gegeben wurde: «Ich wäre sonst irgendwann gestorben und hätte nicht die Möglichkeit gehabt, im positiven Sinne an meiner Geschichte zu arbeiten. Dass sich die Menschen hier und die Gemeinde Richterswil dafür eingesetzt haben, finde ich grossartig und ist nicht selbstverständlich.»
https://www.richterswil.ch/projekterichterswil/11374
* Die Namen sind der Redaktion bekannt, wurden aber zum Schutz von Betroffenen und möglichen Nachkommen pseudonymisiert.