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Die Suche nach den Verstummten

23. November 2013-André Springer

So viele Menschen vermissen seit Monaten die Live-Orchesterklänge und -Chorstimmen. Das Publikum kann zumindest auf Radio oder Streaming-Angebote zurückgreifen, doch was bedeutet diese stumme Zeit für die Orchester-, Chormitglieder und Dirigenten? Und wie mag es weitergehen? Wir haben den Dirigenten Felix Schudel gefragt, er ist vorsichtig-zuversichtlich.

Text: Susi Klausner, Bild: zvg

Wie ein Blitz hat es alle Musikschaffenden getroffen, als im März abrupt alle Instrumente und alle Singstimmen schweigen mussten. Nach zaghaft erfreulichen Meldungen kam das zweite Aus, und immer noch ist fast jeder Klang verstummt.

«War es das?» Diese Frage hat sich Felix Schudel seit März oft gestellt, seit Singen und Musizieren als Gesundheitsrisiko gelten. Ein Leben ohne Musik? Unvorstellbar, denn: «Gemeinsames Musizieren und Singen, in jedem Alter, zuhause, in der Schule oder in einer Gruppe, zusammen auf ein Konzert hin üben, sich mit Werken auseinandersetzen, und dann das Publikum Musik erleben lassen, das ist Lebenskraft, das gibt Mut – das darf nicht verlorengehen!»

Singen ist Lebenselixier

Felix Schudel weiss, wovon er spricht. Er ist in einer musikalischen Lehrersfamilie aufgewachsen. Schon von klein auf waren Singen, Geigen- und Klavierunterricht selbstverständlich und eine Freude. Neben der Arbeit als Primarlehrer in Wädenswil studierte er zunächst berufsbegleitend Violine (privat in Winterthur und Zürich, dipl. Schweiz. Musikpädagogischer Verband), dann Schulmusik II am Konservatorium Zürich.
Von dieser kombinierten pädagogischen und musikalischen Erfahrung konnten die Schülerinnen und Schüler des Seminars Küsnacht profitieren, die ihre Matura absolvierten. Felix Schudel war dort während 30 Jahren Hauptlehrer für Musik, und er erzählt voller Freude davon: «Damals hatten die Fächer Kunst und Musik einen hohen Stellenwert. Sie gehörten zum obligatorischen Schulplan und waren den reinen Wissensfächern gleichgestellt. Es war für mich immer beeindruckend, wie empfänglich die Herzen der Schülerinnen und Schüler – es waren oft bis 150 täglich – für die Musik waren und wie begeistert sie mitmachten. Ich habe in jeder Stunde mit ihnen gesungen. Es tat ihnen und ihren mit immens viel Theorie gefüllten Köpfen wohl. Singen ist in jedem Alter die beste Art, Musik zu erleben, es macht Freude, beruhigt, befreit den Kopf und gibt Raum zum Durchatmen.»
Mit Bedauern fügt er an, dass das Singen, dieser urmenschliche Ausdruck mit heilender Wirkung, in der Hektik und Kopflastigkeit unserer Welt immer mehr an den Rand gedrängt wird.

Der grosse Schritt

Felix Schudel hat schon während der Ausbildung immer in Chören gesungen, hat in namhaften Orchestern als Violinist gespielt, das Vocalino-Ensemble mitgegründet und dieses bis im Frühling 2020 auch dirigiert.
Viele wertvolle, entscheidende Tipps zum Dirigieren von Orchestern empfing er in Beratung durch Abraham Comfort (Konzertmeister des Stadtorchesters Winterthur) und zur Interpretation im Verlauf seiner Solo-Gesangs-Ausbildung bei Helene Häfeli in Zürich.

1978 wurde Felix Schudel, der, wie sein Vater, seit Jahren im bekannten Kirchen- und Oratorienchor Wädenswil mitsang, angefragt, das Dirigat zu übernehmen. Diese Aufgabe bedeutete für ihn als Familienvater den grossen Schritt in die berufliche Selbstständigkeit. Doch er stellte sich mit zwölf anderen namhaften Dirigenten, teils aus dem Ausland, dem anspruchsvollen Auswahlverfahren und wurde von seinen, nun ehemaligen, Sängerkolleginnen und -kollegen als neuer Dirigent willkommen geheissen.
Seit mehr als 40 Jahren erfreuen nun der Konzert- und Oratorienchor, das Vocalino, das Kammerorchester Wädenswil und das Neue Glarner Musikkollegium unter seiner Leitung ein dankbares Publikum mit ihren weit über die Region hinaus geschätzten Konzerten … bis im März 2020 …
Mit seinem grossen musikalischen Wissen, seinem Einfühlungsvermögen und seiner liebenswerten Persönlichkeit hat Felix Schudel auch hinter der Bühne unzähligen Chorsängerinnen und -sängern und Orchester-Mitgliedern bereichernde Proben und gemeinschaftliche Musik-Erlebnisse geschenkt … bis im März 2020 …

«Ich habe noch viel vor!»

… bis im März 2020 die Musik verstummen musste. Felix Schudel stellt sich dazu viele Fragen: «Was sage ich meinen vielen Chor- und Orchestermitgliedern, wann und wie es weitergeht? Es ist seit Monaten unmöglich, irgendetwas zu planen, da wir nicht wissen, ob wir proben können. Laien-Musiker können nicht husch-husch ein Konzert auf die Beine stellen. Es braucht viel Zeit, Musse, Geduld und regelmässige Probenarbeit, um Werk-Einstudierungen zum überzeugenden Konzert-Erlebnis zu führen. Ich hoffe sehr, dass die Chor- und Orchester-Mitglieder nach einer so langen erzwungenen Pause wieder die Kraft finden, sich für ein nächstes Konzert zu motivieren, die Proben auf sich zu nehmen und sich auf ein gemeinsames Musik-Erlebnis zu freuen.»
Dann blitzen Felix Schudels Augen wieder auf, und er sagt voller Überzeugung, dass er noch viele musikalische Ideen und Projekte umsetzen möchte: «Es muss und es wird wieder Konzerte geben, ohne Abstände, die das Aufeinander-Hören verunmöglichen, ohne ton- und atemraubende Masken und ohne Streaming. Wir werden unser Publikum und die verstummten Klänge wieder finden, die Musik hat schon ganz andere Krisen überstanden.»
Als erster Schritt ist geplant, dass ein Kammerorchester unter der Leitung von Felix Schudel den Weihnachts-Gottesdienst vom 25. Dezember, 10 Uhr, in der reformierten Kirche Wädenswil, musikalisch umrahmt. Wie schön! 

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