Hedy Langendorf ist 100 Jahre alt. Am 5. Mai 1920 ist sie geboren, als Tochter einer Bündnerin aus Rueras und eines deutschen Vaters, ein Papakind wie sie mit einem Leuchten in den Augen sagt.
Text & Bilder: Ingrid Eva Liedtke
Hedy hat viel erlebt und ich freue mich auf ihre Geschichten, die sie mir hoffentlich erzählen wird. Zuerst suchen wir in ihrer grossen Wohnung nach ihrem Hörgerät, bis sie sich erinnert, dass sie eigentlich den Telefonhörer sucht, der ja am Telefon hängt, weil er noch ein Kabel hat. Doch schliesslich rechnet frau heutzutage mit drahtloser Verbindung! Sie schüttelt den Kopf, ärgert sich über ihre Vergesslichkeit, um schliesslich darüber zu lachen. Die Frau hat Humor und Humor ist auch, wenn man trotzdem lacht. Denn auch, wenn man 100 Jahre alt wird, gesund und munter bleibt, so hat das Leben doch einige Herausforderungen bereitgestellt. Die Vergesslichkeit ist nur eine kleine, ärgerliche Angelegenheit. Hedy Langendorf hat im vergangenen Jahrhundert so einiges Schweres erlebt, wie ich von ihr erfahren werde.
Sie erzählt davon in einer fröhlichen Leichtigkeit. Sie lacht überhaupt sehr viel. Hedy Langendorf hatte zwei Töchter. Eine davon ist mit 8 Jahren an Leukämie gestorben. Wie sie vermutet, hat ihr Arzt zu viel geröntgt und die Strahlenbelastung habe die Leukämie ausgelöst. «Der Arzt wollte unbedingt nochmals röntgen, obwohl auch die Schwester davon abgeraten hat», erzählt sie mir.
Wie so vieles in ihrem Frauenleben musste die tapfere Frau diesen Schicksalsschlag hinnehmen, ebenso wie den frühen Tod ihres Mannes. «Er war immer krank. Eigentlich ist er nie gesund gewesen, TB und Polio und noch einiges mehr. Aber ich habe halt gedacht, den bringe ich schon hin. Immerhin waren wir 27 Jahre verheiratet!»
Die starke Frau ist es gewohnt die Fäden in die Hand zu nehmen, doch auch sie stiess an Grenzen. «Jahrelang musste er zur Kur. Als unsere Tochter – ein so liebes Kind – dann gestorben ist, hat er nicht mehr lange gelebt. Zum Glück hatte ich dieses Haus und war abgesichert. Ich habe meinem Mann gesagt: Um mich musst Du Dir keine Sorgen machen.»
Hedy Langendorf bewohnt eine 51/2-Zimmer-Wohnung in ihrem Mehrfamilienhaus. «Ursprünglich stand hier ein altes Haus, das meinem Mann gehörte. Er wollte es verkaufen, aber ich wollte lieber selber ein neues Haus bauen. Er meinte, wir hätten nicht das Geld dazu. Da sagte ich: Lass mich nur machen!» Sie lacht wieder ihr verschmitztes Lachen, selbstbewusst und triumphierend. «Das Grundstück diente als Eigenkapital und die noch zu leistende Anzahlung war klein. So hat das alles geklappt. Mein Mann blieb skeptisch und fürchtete, die Hypothekarzinsen würden zu hoch werden. Aber ich habe ihn immer wieder beruhigt. Ich habe alles genau durchgerechnet. Nach seinem Tod musste ich keine Angst haben. Mit dem Haus war ich versorgt. Die Wohnungen sind sehr schön. Unten ist Denner, und schon immer waren auch Ärzte eingemietet. Meinen Mann hatte ich noch die Inserate machen lassen. Etwas sollte er auch dazu beitragen. Sofort war alles vermietet. Schliesslich hat uns sein altes Haus reich gemacht.»
Und dieses schwere, traurige Schicksal? Wie hat sie es getragen? Hedy Langendorf hat weitergemacht, akzeptiert und weitergemacht. Manchmal ging es nur darum, es einfach irgendwie zu schaffen. Dabei lerne man auch zufrieden zu sein mit dem, was man hat und zu schätzen, wenn es gut läuft. «Ich bin sehr glücklich, dass es meiner anderen Tochter gut geht», sagt sie. Diese lebt im Welschland. «Als Jugendliche habe ich sie hingeschickt, um die Sprache zu lernen. Sie wollte nicht mehr zurückkommen.»
Einen neuen Mann an ihrer Seite wollte Hedy Langendorf nie. Die Verbundenheit mit ihrem Mann war nicht zu ersetzen, und ihre Selbstständigkeit wollte sie auch nicht mehr aufgeben. Als ihr Mann zu krank war, um sein Fotogeschäft in Zürich zu führen, hat sie kurzerhand übernommen. «Ich habe ziemlich gut verkauft – obwohl ich eigentlich nicht so gut andere Sprachen sprechen konnte wie mein Mann. Aber verkaufen, das lag mir irgendwie im Blut.» Sie kichert, wenn sie sich daran erinnert, dass ihr Mann ein wenig neidisch reagierte, als sie ihm von ihren Erfolgen im Geschäft erzählte. «Schliesslich haben wir das Geschäft dann doch verkauft, und ich hatte wieder Zeit für ihn.»
An Daten und Jahreszahlen erinnert sich die alte Dame nicht mehr so genau und ihre Erzählungen sind zeitlich nicht immer so gut einzuordnen, aber das ist eigentlich auch nicht wichtig. Wirklich wichtig und beeindruckend ist die grosse Lebenskraft, die diese Frau weiter vorantreibt. Hedy Langendorf scheint keineswegs müde zu sein. Sie hat noch lange nicht genug vom Leben. Der Gedanke, dass «das Chrättli mal voll ist», sei ihr wirklich noch gar nie gekommen.
All dies verdanke sie dem Sport und ihrer Selbstdisziplin. Bewegung sei sehr wichtig. Der Körper müsse gefordert sein. Man bleibe in Bewegung und das sei gesund, auch für den Kopf! «Zuerst war ich im Turnverein bei den Frauen. Doch das war mir dann zu blöd. Und so ging ich zum Schmucki ins Fitness.» Da war die sportliche Dame immerhin schon 71 Jahre alt. Sie ging meistens zu Fuss ins Studio – versteht sich!
«Zum Schluss musste ich keine Mitgliederbeiträge mehr bezahlen, denn ich war ja die beste Werbung für den Fitnessclub», lacht sie. Wie weit geht ihre Disziplin? frage ich mich und sie. Im Alter darf man es doch auch mal gut sein lassen, sich doch auch etwas gönnen! «Nein!» – Sie wehrt ab – «da bin ich hart mit mir. Letzthin habe ich beschlossen, keine Schokolade mehr zu essen. Ich habe zu meinem Geburtstag so viel geschenkt bekommen und plötzlich wurden meine Hosen ziemlich eng. Da sagte ich mir: Hedy, jetzt ist Schluss! Seither guck ich keine Schokolade mehr an. Mir kam auch schon mal die Idee, ich könnte mit dem Fitness aufhören, doch das kam gar nicht in Frage. Eine Stimme in mir war da sehr streng. Jetzt habe ich gerade seit ein paar Tagen nichts gemacht, weil das Knie weh tat, aber nun ist Schluss damit. Ich will unbedingt wieder anfangen, auch wenn meine Tochter findet, ich dürfe es doch jetzt lassen.»
Die Frau ist entschlossen, und ihr Hometrainer steht im Wohnzimmer am Fenster und scheint nur darauf zu warten, dass sich Hedy wieder in den Sattel schwingt. Corona ist kein Thema. Nur, dass sie ihren täglichen Spaziergang nicht machen konnte, war wirklich ärgerlich. Auf dem Balkon immer hin- und her zu tigern geht, ist aber nicht besonders spannend. Jetzt ist sie froh, kann sie wieder spazieren gehen kann, auch wenn sie dazu jetzt einen «Gehbock» braucht. «Das Teil hat Räder und man kann sich sogar draufsetzen, um auszuruhen.»
Um ihre Gesundheit macht sich Hedy Langendorf aber nicht gross Gedanken, denn sie hat einfach eine gute Konstitution – schon immer. Ach ja, der Blutdruck sei viel zu hoch, sagte der Arzt – und staunt, dass sie gar nichts davon merkt. Und wieder einmal kugelt sie sich vor Lachen.
Emilia, ihre Haushaltshilfe aus Slowenien, bringt mir ein Glas Mineralwasser und Hedy Langendorf einen Kaffee. «Meine Tochter fand, ich könne nicht mehr alleine in meiner Wohnung sein. Sie hat wohl Recht. Jetzt bleibt Emilia einen Monat hier und dann kommt eine andere Frau. Die zwei wechseln sich ab. Emilia ist eine ganz liebe und sie kocht wunderbar. Ich bin sehr froh, denn beim Gedanken ans Altersheim schüttelt es mich.» Für die Frau, die seit dem Tod ihres Mannes, also schon rund 50 Jahre, alleine lebt, ist es schon eine Umstellung, dass plötzlich jemand bei ihr wohnt.
Doch altern ist eine Herausforderung. Das lässt sich nicht weglachen. Es ist auch für Hedy Langendorf nicht nur leicht. Erinnerungen an die Jahre, als man jung war, sind lebendig und wach. Es scheint, als ob vieles erst gestern war und doch ist alles schon so lange her. Im Kopf ist man immer wach, fit und zu neuen Taten bereit, aber der Körper mag nicht mehr so und das Gedächtnis wird schlecht. «Seit neustem schaffe ich es nicht mehr, meine Kreuzworträtsel zu machen. Die Worte fallen mir einfach nicht mehr ein. Das kann einem schon depressiv werden lassen», sagt Hedy Langendorf. Die Freunde und Menschen um sie herum werden immer weniger. Die meisten sind schon gegangen. Es wird einsam. Das ist traurig.
Sie will jetzt auch ihre Angelegenheiten ordnen und die Verwaltung ihres Hauses an die Tochter übergeben. Genug hat sie aber noch lange nicht. Es gibt doch noch einiges zu erleben. Da war letzthin dieser Ausflug im Motorrad-Seitenwagen: fantastisch! «Ich bin Fan von Motorrädern. Steht irgendwo ein schönes Modell, dann muss ich es mir anschauen. Diese Leidenschaft habe ich von meinem Vater.» Die alte Dame, die sich selber als schon uralt bezeichnet, erstrahlt, während sie mit schelmischem Blick von ihrem letzten Abenteuer erzählt.
Es gäbe noch so viele Geschichten aus diesem hundertjährigen Leben zu berichten, und ich frage mich, ob man durch das Erzählen diesem langen Leben gerecht wird. Es sind nur kurze Momentaufnahmen, die niemals die Fülle all dieser Jahre, Erlebnisse und Begegnungen, des Schmerzes, der Trauer und auch der vielen Freuden aufzeigen können. Aber sie geben einen Einblick und ein Gefühl für eine tapfere, starke Frau, die immer noch neugierig in die Welt blickt und noch etwas erleben möchte, die beweglich geblieben ist und dabei doch gelernt hat anzunehmen, was unausweichlich ist mit einem grossen Lachen.
Hedy Langendorf ist 100 Jahre alt. Am 5. Mai 1920 ist sie geboren, als Tochter einer Bündnerin aus Rueras und eines deutschen Vaters, ein Papakind wie sie mit einem Leuchten in den Augen sagt.
Text & Bilder: Ingrid Eva Liedtke
Hedy hat viel erlebt und ich freue mich auf ihre Geschichten, die sie mir hoffentlich erzählen wird. Zuerst suchen wir in ihrer grossen Wohnung nach ihrem Hörgerät, bis sie sich erinnert, dass sie eigentlich den Telefonhörer sucht, der ja am Telefon hängt, weil er noch ein Kabel hat. Doch schliesslich rechnet frau heutzutage mit drahtloser Verbindung! Sie schüttelt den Kopf, ärgert sich über ihre Vergesslichkeit, um schliesslich darüber zu lachen. Die Frau hat Humor und Humor ist auch, wenn man trotzdem lacht. Denn auch, wenn man 100 Jahre alt wird, gesund und munter bleibt, so hat das Leben doch einige Herausforderungen bereitgestellt. Die Vergesslichkeit ist nur eine kleine, ärgerliche Angelegenheit. Hedy Langendorf hat im vergangenen Jahrhundert so einiges Schweres erlebt, wie ich von ihr erfahren werde.
Sie erzählt davon in einer fröhlichen Leichtigkeit. Sie lacht überhaupt sehr viel. Hedy Langendorf hatte zwei Töchter. Eine davon ist mit 8 Jahren an Leukämie gestorben. Wie sie vermutet, hat ihr Arzt zu viel geröntgt und die Strahlenbelastung habe die Leukämie ausgelöst. «Der Arzt wollte unbedingt nochmals röntgen, obwohl auch die Schwester davon abgeraten hat», erzählt sie mir.
Wie so vieles in ihrem Frauenleben musste die tapfere Frau diesen Schicksalsschlag hinnehmen, ebenso wie den frühen Tod ihres Mannes. «Er war immer krank. Eigentlich ist er nie gesund gewesen, TB und Polio und noch einiges mehr. Aber ich habe halt gedacht, den bringe ich schon hin. Immerhin waren wir 27 Jahre verheiratet!»
Die starke Frau ist es gewohnt die Fäden in die Hand zu nehmen, doch auch sie stiess an Grenzen. «Jahrelang musste er zur Kur. Als unsere Tochter – ein so liebes Kind – dann gestorben ist, hat er nicht mehr lange gelebt. Zum Glück hatte ich dieses Haus und war abgesichert. Ich habe meinem Mann gesagt: Um mich musst Du Dir keine Sorgen machen.»
Hedy Langendorf bewohnt eine 51/2-Zimmer-Wohnung in ihrem Mehrfamilienhaus. «Ursprünglich stand hier ein altes Haus, das meinem Mann gehörte. Er wollte es verkaufen, aber ich wollte lieber selber ein neues Haus bauen. Er meinte, wir hätten nicht das Geld dazu. Da sagte ich: Lass mich nur machen!» Sie lacht wieder ihr verschmitztes Lachen, selbstbewusst und triumphierend. «Das Grundstück diente als Eigenkapital und die noch zu leistende Anzahlung war klein. So hat das alles geklappt. Mein Mann blieb skeptisch und fürchtete, die Hypothekarzinsen würden zu hoch werden. Aber ich habe ihn immer wieder beruhigt. Ich habe alles genau durchgerechnet. Nach seinem Tod musste ich keine Angst haben. Mit dem Haus war ich versorgt. Die Wohnungen sind sehr schön. Unten ist Denner, und schon immer waren auch Ärzte eingemietet. Meinen Mann hatte ich noch die Inserate machen lassen. Etwas sollte er auch dazu beitragen. Sofort war alles vermietet. Schliesslich hat uns sein altes Haus reich gemacht.»
Und dieses schwere, traurige Schicksal? Wie hat sie es getragen? Hedy Langendorf hat weitergemacht, akzeptiert und weitergemacht. Manchmal ging es nur darum, es einfach irgendwie zu schaffen. Dabei lerne man auch zufrieden zu sein mit dem, was man hat und zu schätzen, wenn es gut läuft. «Ich bin sehr glücklich, dass es meiner anderen Tochter gut geht», sagt sie. Diese lebt im Welschland. «Als Jugendliche habe ich sie hingeschickt, um die Sprache zu lernen. Sie wollte nicht mehr zurückkommen.»
Einen neuen Mann an ihrer Seite wollte Hedy Langendorf nie. Die Verbundenheit mit ihrem Mann war nicht zu ersetzen, und ihre Selbstständigkeit wollte sie auch nicht mehr aufgeben. Als ihr Mann zu krank war, um sein Fotogeschäft in Zürich zu führen, hat sie kurzerhand übernommen. «Ich habe ziemlich gut verkauft – obwohl ich eigentlich nicht so gut andere Sprachen sprechen konnte wie mein Mann. Aber verkaufen, das lag mir irgendwie im Blut.» Sie kichert, wenn sie sich daran erinnert, dass ihr Mann ein wenig neidisch reagierte, als sie ihm von ihren Erfolgen im Geschäft erzählte. «Schliesslich haben wir das Geschäft dann doch verkauft, und ich hatte wieder Zeit für ihn.»
An Daten und Jahreszahlen erinnert sich die alte Dame nicht mehr so genau und ihre Erzählungen sind zeitlich nicht immer so gut einzuordnen, aber das ist eigentlich auch nicht wichtig. Wirklich wichtig und beeindruckend ist die grosse Lebenskraft, die diese Frau weiter vorantreibt. Hedy Langendorf scheint keineswegs müde zu sein. Sie hat noch lange nicht genug vom Leben. Der Gedanke, dass «das Chrättli mal voll ist», sei ihr wirklich noch gar nie gekommen.
All dies verdanke sie dem Sport und ihrer Selbstdisziplin. Bewegung sei sehr wichtig. Der Körper müsse gefordert sein. Man bleibe in Bewegung und das sei gesund, auch für den Kopf! «Zuerst war ich im Turnverein bei den Frauen. Doch das war mir dann zu blöd. Und so ging ich zum Schmucki ins Fitness.» Da war die sportliche Dame immerhin schon 71 Jahre alt. Sie ging meistens zu Fuss ins Studio – versteht sich!
«Zum Schluss musste ich keine Mitgliederbeiträge mehr bezahlen, denn ich war ja die beste Werbung für den Fitnessclub», lacht sie. Wie weit geht ihre Disziplin? frage ich mich und sie. Im Alter darf man es doch auch mal gut sein lassen, sich doch auch etwas gönnen! «Nein!» – Sie wehrt ab – «da bin ich hart mit mir. Letzthin habe ich beschlossen, keine Schokolade mehr zu essen. Ich habe zu meinem Geburtstag so viel geschenkt bekommen und plötzlich wurden meine Hosen ziemlich eng. Da sagte ich mir: Hedy, jetzt ist Schluss! Seither guck ich keine Schokolade mehr an. Mir kam auch schon mal die Idee, ich könnte mit dem Fitness aufhören, doch das kam gar nicht in Frage. Eine Stimme in mir war da sehr streng. Jetzt habe ich gerade seit ein paar Tagen nichts gemacht, weil das Knie weh tat, aber nun ist Schluss damit. Ich will unbedingt wieder anfangen, auch wenn meine Tochter findet, ich dürfe es doch jetzt lassen.»
Die Frau ist entschlossen, und ihr Hometrainer steht im Wohnzimmer am Fenster und scheint nur darauf zu warten, dass sich Hedy wieder in den Sattel schwingt. Corona ist kein Thema. Nur, dass sie ihren täglichen Spaziergang nicht machen konnte, war wirklich ärgerlich. Auf dem Balkon immer hin- und her zu tigern geht, ist aber nicht besonders spannend. Jetzt ist sie froh, kann sie wieder spazieren gehen kann, auch wenn sie dazu jetzt einen «Gehbock» braucht. «Das Teil hat Räder und man kann sich sogar draufsetzen, um auszuruhen.»
Um ihre Gesundheit macht sich Hedy Langendorf aber nicht gross Gedanken, denn sie hat einfach eine gute Konstitution – schon immer. Ach ja, der Blutdruck sei viel zu hoch, sagte der Arzt – und staunt, dass sie gar nichts davon merkt. Und wieder einmal kugelt sie sich vor Lachen.
Emilia, ihre Haushaltshilfe aus Slowenien, bringt mir ein Glas Mineralwasser und Hedy Langendorf einen Kaffee. «Meine Tochter fand, ich könne nicht mehr alleine in meiner Wohnung sein. Sie hat wohl Recht. Jetzt bleibt Emilia einen Monat hier und dann kommt eine andere Frau. Die zwei wechseln sich ab. Emilia ist eine ganz liebe und sie kocht wunderbar. Ich bin sehr froh, denn beim Gedanken ans Altersheim schüttelt es mich.» Für die Frau, die seit dem Tod ihres Mannes, also schon rund 50 Jahre, alleine lebt, ist es schon eine Umstellung, dass plötzlich jemand bei ihr wohnt.
Doch altern ist eine Herausforderung. Das lässt sich nicht weglachen. Es ist auch für Hedy Langendorf nicht nur leicht. Erinnerungen an die Jahre, als man jung war, sind lebendig und wach. Es scheint, als ob vieles erst gestern war und doch ist alles schon so lange her. Im Kopf ist man immer wach, fit und zu neuen Taten bereit, aber der Körper mag nicht mehr so und das Gedächtnis wird schlecht. «Seit neustem schaffe ich es nicht mehr, meine Kreuzworträtsel zu machen. Die Worte fallen mir einfach nicht mehr ein. Das kann einem schon depressiv werden lassen», sagt Hedy Langendorf. Die Freunde und Menschen um sie herum werden immer weniger. Die meisten sind schon gegangen. Es wird einsam. Das ist traurig.
Sie will jetzt auch ihre Angelegenheiten ordnen und die Verwaltung ihres Hauses an die Tochter übergeben. Genug hat sie aber noch lange nicht. Es gibt doch noch einiges zu erleben. Da war letzthin dieser Ausflug im Motorrad-Seitenwagen: fantastisch! «Ich bin Fan von Motorrädern. Steht irgendwo ein schönes Modell, dann muss ich es mir anschauen. Diese Leidenschaft habe ich von meinem Vater.» Die alte Dame, die sich selber als schon uralt bezeichnet, erstrahlt, während sie mit schelmischem Blick von ihrem letzten Abenteuer erzählt.
Es gäbe noch so viele Geschichten aus diesem hundertjährigen Leben zu berichten, und ich frage mich, ob man durch das Erzählen diesem langen Leben gerecht wird. Es sind nur kurze Momentaufnahmen, die niemals die Fülle all dieser Jahre, Erlebnisse und Begegnungen, des Schmerzes, der Trauer und auch der vielen Freuden aufzeigen können. Aber sie geben einen Einblick und ein Gefühl für eine tapfere, starke Frau, die immer noch neugierig in die Welt blickt und noch etwas erleben möchte, die beweglich geblieben ist und dabei doch gelernt hat anzunehmen, was unausweichlich ist mit einem grossen Lachen.