Liebe Leserinnen, liebe Leser
«… und die von der Krankheit bisher verschont Gebliebenen lebten in ständiger Angst vor ihr; sie gingen vorsichtig und verschlossen, mit gemessenen Schritten und argwöhnischen Blicken, eilig und zögernd zugleich … Der Bäcker bedeutete ihm, nicht einzutreten, hielt ihm auf einer kleinen Schaufel einen Napf Essigwasser hin und sagte, er solle das Geld dort hineinwerfen; als dies geschehen war, reichte er ihm mit einer Zange die beiden Brote, eins nach dem anderen …»
Kommt Ihnen – ausser vielleicht das mit dem Essigwasser – bekannt vor? Die im Buch «Die Brautleute» (1827) von Alessandro Manzoni beschriebene Situation spielt um 1630 in der Lombardei. Die sehr gut recherchierten Umstände sind der Pest geschuldet. Und weiter: «Nach langer Debatte und gemeinsamer Suche kamen (die Überlebenden) dann überein, dass Unglück und Nöte zwar häufig vorkommen, weil man ihnen Grund zum Kommen gegeben hat, aber auch, dass die vorsichtigste und unschuldigste Lebensführung nicht genügt, um sie sich fernzuhalten…». Es ist der heutigen weltweit herrschenden Situation beängstigend ähnlich und zeigt einmal mehr auf, dass sich die Geschichten wiederholen. Leider.
Wie sich die letzten Wochen präsentiert haben, seitdem Covid-19 die Bildschirme, Zeitungen, Alltage, Gespräche, Gedanken und Träume in Beschlag genommen hat, definieren sie den Ausnahmezustand. Mir fällt auf, dass ich von der Frau im Film automatisch erwarte, dass sie sich nach dem Nachhausekommen sofort die Hände wäscht und verfalle unwillkürlich in Verwunderung, wenn sie es nicht tut. Die momentan dringend notwendigen Massnahmen haben sich in fast allen Lebensbereichen festgesetzt, so dass ich mich dabei ertappe, dass mich gewisse Sachen ärgern, die mir vorher egal waren. Etwa das betagte Paar, welches mit Wanderschuhen und -stöcken den Zug Richtung Einsiedeln besteigt, während andere – permanent dazu ermahnt, die gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu schützen – versuchen, ihre vier Wände möglichst nicht zu verlassen, um diesen Massnahmen Folge zu leisten.
Die Stimmung in der Bevölkerung verändert sich fast wöchentlich. Das hängt häufig auch mit den Mitteilungen von Bund und BAG zusammen, wie mir auffällt. Gerade in der ersten Woche nach dem Lockdown wurden die Lebensmittelläden zur humorfreien Zone erklärt, und die Vorstellung, zu was die Menschen mutieren, wenn es zum Beispiel Krieg wäre, macht mehr Angst vor der eigenen Rasse denn vor einem Virus.
Und wenn ich gerade beim Thema bin: bei gewissen Meldungen bekommt man eine Vorstellung davon, wie es den Leuten inmitten von Spitzeln und Verrätern in Nazideutschland ergangen sein muss … Das ist sehr beunruhigend.
Eine weitere Spezies bilden diejenigen, welche sich auch nach zwei, drei Jahrzehnten nicht aus dem Zustand pubertären Grössenwahns und Egoismus lösen konnten und extrem grosszügig mit dem Leben anderer umgehen: «Wär’s trifft, trifft’s halt …». Ja, gut. Wenns den dann «trifft», der eine solche Aussage macht – und er keine Symptome hat, so hat er hoffentlich keine Eltern oder Grosseltern, die er ansteckt. Ob dann auch ein Schulterzucken die Antwort liefert? Wohl kaum.
Die Pandemie hat aber auch eine ganz andere Seite, nämlich die absoluter Hilfsbereitschaft und Grosszügigkeit. Vereine, Nachbarn, Läden, Freunde und Verwandte (ich kann hier gar nicht alle aufzählen), die sich mächtig ins Zeug legen, Mittel und Wege finden, um kranken und gefährdeten Menschen den Alltag so einfach und sicher wie möglich zu gestalten.
Das Krankenhaus- und Spitexpersonal genauso wie das Verkaufspersonal in den Läden, gibt Tag für Tag alles für die Bevölkerung – und gerade letztere erfahren ganz mühsame und unschöne Szenen, weil die Menschen jeden Anstand zu vergessen scheinen. Das hat das Personal schlicht nicht verdient. Angst ist ein schlechter Berater.
Viele Geschäftsbesitzer entpuppen sich als sehr innovativ und stellen so einiges auf die Beine, um wenigstens etwas an Einnahmen zu generieren. Allen ist das leider nicht möglich.
Kinos, Theater, Museen zeigen sich grosszügig, machen virtuelle Rundgänge oder streamen die neusten Kinofilme, zeigen Aufführungen, die man sonst nie gesehen hätte. Und das aus aller Welt.
Wie es unserem Land auf wirtschaftlicher Basis ergeht, das wird sich in ein paar Monaten zeigen. Wahrscheinlich nicht sehr gut, und ich bin sicher, es stehen den meisten Menschen schwere Zeiten bevor.
Selbst der Normalzustand, so wie wir ihn gemeinhin bezeichnen und bisher gekannt haben, wird erst in vielen Wochen, wenn nicht Monaten, Einzug halten.
Fragen, die mich bei der ganzen Geschichte umtreiben, ist etwa die, warum weder WHO noch China noch ein anderer Staat gegen den nicht seltenen Verzehr von Wildtieren in China interveniert hat, als 2002 die eben dadurch ausgelöste SARS-Epidemie ausgebrochen ist. Hat das mit Wirtschaft zu tun? Oder die Tatsache, dass die Herstellung von Paracetamol bei all den hier ansässigen Pharmariesen nicht möglich ist und nicht einmal die Zutaten dafür in der Schweiz vorhanden sind, versetzt mich in grösstes Erstaunen. Vielleicht bin ich da zu blauäugig.
Ich hoffe sehr, dass in einigen Bereichen ein Umdenken stattfindet bei denen, die unsere Gesundheit und die Stabilität (nicht nur) unseres Landes in Händen halten.
Es sind seltsame Zeiten: umtreibend, unsicher, beängstigend, aber auch angenehm verlangsamend. Kein Fluglärm beim Aufwachen, Weltenflucht in die Bücher, sitzen, beobachten, was da kreucht und fleucht, des Frühlings Duft- und Farbenpracht bewundern.
Ganz ehrlich? Wären die Umstände nicht so dramatisch und bedrohlich in so vielerlei Hinsicht, ich würde die Ruhe und Gemächlichkeit des Tages total geniessen.
Bleiben Sie gesund! Und nicht vergessen: ein Lächeln und ein nettes Wort gehen immer – trotz Abstand. Oder gerade deswegen.
Aus dem Homeoffice grüsst Sie Reni Bircher
Liebe Leserinnen, liebe Leser
«… und die von der Krankheit bisher verschont Gebliebenen lebten in ständiger Angst vor ihr; sie gingen vorsichtig und verschlossen, mit gemessenen Schritten und argwöhnischen Blicken, eilig und zögernd zugleich … Der Bäcker bedeutete ihm, nicht einzutreten, hielt ihm auf einer kleinen Schaufel einen Napf Essigwasser hin und sagte, er solle das Geld dort hineinwerfen; als dies geschehen war, reichte er ihm mit einer Zange die beiden Brote, eins nach dem anderen …»
Kommt Ihnen – ausser vielleicht das mit dem Essigwasser – bekannt vor? Die im Buch «Die Brautleute» (1827) von Alessandro Manzoni beschriebene Situation spielt um 1630 in der Lombardei. Die sehr gut recherchierten Umstände sind der Pest geschuldet. Und weiter: «Nach langer Debatte und gemeinsamer Suche kamen (die Überlebenden) dann überein, dass Unglück und Nöte zwar häufig vorkommen, weil man ihnen Grund zum Kommen gegeben hat, aber auch, dass die vorsichtigste und unschuldigste Lebensführung nicht genügt, um sie sich fernzuhalten…». Es ist der heutigen weltweit herrschenden Situation beängstigend ähnlich und zeigt einmal mehr auf, dass sich die Geschichten wiederholen. Leider.
Wie sich die letzten Wochen präsentiert haben, seitdem Covid-19 die Bildschirme, Zeitungen, Alltage, Gespräche, Gedanken und Träume in Beschlag genommen hat, definieren sie den Ausnahmezustand. Mir fällt auf, dass ich von der Frau im Film automatisch erwarte, dass sie sich nach dem Nachhausekommen sofort die Hände wäscht und verfalle unwillkürlich in Verwunderung, wenn sie es nicht tut. Die momentan dringend notwendigen Massnahmen haben sich in fast allen Lebensbereichen festgesetzt, so dass ich mich dabei ertappe, dass mich gewisse Sachen ärgern, die mir vorher egal waren. Etwa das betagte Paar, welches mit Wanderschuhen und -stöcken den Zug Richtung Einsiedeln besteigt, während andere – permanent dazu ermahnt, die gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu schützen – versuchen, ihre vier Wände möglichst nicht zu verlassen, um diesen Massnahmen Folge zu leisten.
Die Stimmung in der Bevölkerung verändert sich fast wöchentlich. Das hängt häufig auch mit den Mitteilungen von Bund und BAG zusammen, wie mir auffällt. Gerade in der ersten Woche nach dem Lockdown wurden die Lebensmittelläden zur humorfreien Zone erklärt, und die Vorstellung, zu was die Menschen mutieren, wenn es zum Beispiel Krieg wäre, macht mehr Angst vor der eigenen Rasse denn vor einem Virus.
Und wenn ich gerade beim Thema bin: bei gewissen Meldungen bekommt man eine Vorstellung davon, wie es den Leuten inmitten von Spitzeln und Verrätern in Nazideutschland ergangen sein muss … Das ist sehr beunruhigend.
Eine weitere Spezies bilden diejenigen, welche sich auch nach zwei, drei Jahrzehnten nicht aus dem Zustand pubertären Grössenwahns und Egoismus lösen konnten und extrem grosszügig mit dem Leben anderer umgehen: «Wär’s trifft, trifft’s halt …». Ja, gut. Wenns den dann «trifft», der eine solche Aussage macht – und er keine Symptome hat, so hat er hoffentlich keine Eltern oder Grosseltern, die er ansteckt. Ob dann auch ein Schulterzucken die Antwort liefert? Wohl kaum.
Die Pandemie hat aber auch eine ganz andere Seite, nämlich die absoluter Hilfsbereitschaft und Grosszügigkeit. Vereine, Nachbarn, Läden, Freunde und Verwandte (ich kann hier gar nicht alle aufzählen), die sich mächtig ins Zeug legen, Mittel und Wege finden, um kranken und gefährdeten Menschen den Alltag so einfach und sicher wie möglich zu gestalten.
Das Krankenhaus- und Spitexpersonal genauso wie das Verkaufspersonal in den Läden, gibt Tag für Tag alles für die Bevölkerung – und gerade letztere erfahren ganz mühsame und unschöne Szenen, weil die Menschen jeden Anstand zu vergessen scheinen. Das hat das Personal schlicht nicht verdient. Angst ist ein schlechter Berater.
Viele Geschäftsbesitzer entpuppen sich als sehr innovativ und stellen so einiges auf die Beine, um wenigstens etwas an Einnahmen zu generieren. Allen ist das leider nicht möglich.
Kinos, Theater, Museen zeigen sich grosszügig, machen virtuelle Rundgänge oder streamen die neusten Kinofilme, zeigen Aufführungen, die man sonst nie gesehen hätte. Und das aus aller Welt.
Wie es unserem Land auf wirtschaftlicher Basis ergeht, das wird sich in ein paar Monaten zeigen. Wahrscheinlich nicht sehr gut, und ich bin sicher, es stehen den meisten Menschen schwere Zeiten bevor.
Selbst der Normalzustand, so wie wir ihn gemeinhin bezeichnen und bisher gekannt haben, wird erst in vielen Wochen, wenn nicht Monaten, Einzug halten.
Fragen, die mich bei der ganzen Geschichte umtreiben, ist etwa die, warum weder WHO noch China noch ein anderer Staat gegen den nicht seltenen Verzehr von Wildtieren in China interveniert hat, als 2002 die eben dadurch ausgelöste SARS-Epidemie ausgebrochen ist. Hat das mit Wirtschaft zu tun? Oder die Tatsache, dass die Herstellung von Paracetamol bei all den hier ansässigen Pharmariesen nicht möglich ist und nicht einmal die Zutaten dafür in der Schweiz vorhanden sind, versetzt mich in grösstes Erstaunen. Vielleicht bin ich da zu blauäugig.
Ich hoffe sehr, dass in einigen Bereichen ein Umdenken stattfindet bei denen, die unsere Gesundheit und die Stabilität (nicht nur) unseres Landes in Händen halten.
Es sind seltsame Zeiten: umtreibend, unsicher, beängstigend, aber auch angenehm verlangsamend. Kein Fluglärm beim Aufwachen, Weltenflucht in die Bücher, sitzen, beobachten, was da kreucht und fleucht, des Frühlings Duft- und Farbenpracht bewundern.
Ganz ehrlich? Wären die Umstände nicht so dramatisch und bedrohlich in so vielerlei Hinsicht, ich würde die Ruhe und Gemächlichkeit des Tages total geniessen.
Bleiben Sie gesund! Und nicht vergessen: ein Lächeln und ein nettes Wort gehen immer – trotz Abstand. Oder gerade deswegen.
Aus dem Homeoffice grüsst Sie Reni Bircher