Erneut zogen in der «anderletzten Werchnacht» vor Neujahr, dem 30. Dezember 2019, vier Gruppen junger Männer durch die Strassen und Weiler in Samstagern, und dies in überlauter Manier.
Text und Bild: Reni Bircher
Der «Lärm» kam von den mitgeführten Trycheln, Bissen und Glocken, die schwer im Doppelpack über den Schultern der unverheirateten Männer hingen und sie gekonnt im Rhythmus schwenkten. Hinzu kam das Knallen der durch die Luft schneidenden Peitschen. Angeführt wird jede Gruppe jeweils von dem gewaltigen Rosskopf am Ende einer langen Stange, jedes Mal vom gleichen Mitglied aus der Truppe getragen. Mit glühendem Blick wandert der «Haaggeri-Rosskopf» durch die Strassen, starrt in Fenster und Balkontüren, verlangt mit schnappendem Maul nach Aufmerksamkeit. Wird ihm diese durch die Bewohner im Haus zuteil – möglichst durch eine Geldspende begleitet, welche in den Kässelischlitz in seinen Schädel gesteckt werden kann – verdankt es die Gruppe mit ohrenbetäubendem Geläute. Manchmal werden die nächtlichen Wanderer auch in die warme Stube gebeten und verköstigt, das tut in einer so klaren und kalten Nacht wie heuer besonders gut. Doch was will dieses Brauchtum?
Es war einmal …
… eine Sagengestalt – ein Nix oder Wassergeist –, welcher in Weihern und Seen den Menschen auflauerte, um sie mit einem langen Haken ins Wasser zu ziehen. Eltern diente diese Figur auch gerne mal als Angstmache: wenn die Kinder nicht folgen wollten, würden sie vom Hakenmann geholt. Um jedoch diesen und weitere Geister und Dämonen von den Häusern und Höfen fernzuhalten, wurde und wird alljährlich dieses lärmige Szenario durchgeführt. Unterbrochen wurde der in Samstagern heimische Brauch laut Werner Röllins Recherchen mittig des 19. Jahrhunderts: «Die ‹Haggennasennacht› wurde vom Richterswiler Gemeinderat nach 1850 immer wieder als für die Öffentlichkeit bedrohlichen ‹Unfug und sittenlose Begegnisse› von Vermummten und Bettler» eingestuft. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg wurde man generell wieder offener solchen Traditionen gegenüber, auch weil sie mancherorts als touristische Attraktion Anklang fanden.
Die Vertreibung der Dämonen war aber nicht der einzige Grund für diese nächtlichen Aufmärsche: sie dienten (und tun es immer noch) den jungen Burschen und Männern auch zur Brautschau. Es dürfen deshalb ausschliesslich Ledige mitmachen.
Mit Herzblut dabei
Einer, der bereits seit mehreren Jahren mitläuft in der Haaggeri-Nacht, ist Andreas Wethli. Momentan ist er der Dienstälteste in der Gruppe, er trägt den Rossgrind und ist auch für dessen Pflege und Aufbewahrung das Jahr über verantwortlich. Einen gewissen Stolz darüber ist nicht zu leugnen, ausserdem ist er überzeugt davon, dass «ihr» Rosskopf der Schönste ist von allen. «Der wurde von einem Samstagerer Landwirt von Hand geschnitzt und ist mindestens 50 Jahre alt», weiss Wethli. Die Grinde anderer Gruppen bestehen teilweise aus Karton oder Pappmaché. Mittels einer Schnur kann das Rossmaul auf- und zuschnappen, im Schädelinnern befindet sich eine Vorrichtung mit Lämpchen, welche die Augen des Rosskopfes unheimlich rot leuchten lassen.
Mit 16 Jahren können Samstagerer und Richterswiler Burschen einer Gruppe beitreten – manchmal passiert das auch wenig früher, vor allem, wenn eine Familie schon seit mehreren Generationen dabei ist. Diese Schar besteht in der Regel aus fünf bis neun Mitgliedern. 2020 erreichen sehr viele Junge das entsprechende Alter und es gibt viele Neuzuzüger. Es ist laut Joel Meuter durchaus möglich, dass es im kommenden Winter zu zusätzlichen Gruppenbildungen kommen kann. Dank aktivem Nachwuchs kann der Brauch glücklicherweise erhalten werden.
Die Aufteilung von Trychlern und Geisslern erfolgt auf Grund von Können und Interesse. Bisher konnte das Beherrschen der Geissle in Hütten bei Konrad Gwerder, einem Profi-Chlepfer, erlernt werden, dieser ist inzwischen jedoch in den Ruhestand getreten. Jetzt lernen und üben sie den Umgang mit der Peitsche in Schindellegi. Die Handhabung der mitgeführten Kuhglocken sei gar nicht so schwer, meint Trychler Joel. «Man bekommt relativ rasch ein Gefühl für den Rhythmus.» Viele Haaggeri-Mitglieder besitzen eigene Glocken (sind unter anderem auch in der Gruppe Bergtrychler Hütten-Schönenberg-Hirzel, die an Anlässen auftreten), andere werden von den örtlichen Landwirten extra für die Brauchtumsnacht paarweise reserviert und ausgeliehen.
Es ist eine lange Nacht
«Es gibt Leute, die warten jedes Mal auf uns, wecken sogar die Kinder auf, wenn wir kommen und bitten uns in die warme Stube», erzählte Joel Meuter begeistert. «Auch der Gemeindepräsident hat uns um halb vier Uhr morgen die Türe geöffnet, das ist toll.» Andere Anwohner bereiten Jahr für Jahr im Garten ein Feuer, damit sich die «Krachmacher» aufwärmen können. Da gibt es auch schon mal das eine oder andere Bier oder einen Kaffee mit Schuss. Aber auch Neuzuzüger zeigen sich interessiert ob des Brauchtums, fragen nach und freuen sich über das Erscheinen der nächtlichen «Störenfriede».
Die meisten Haaggeri-Gruppen sind die ganze Nacht unterwegs bis morgens um sechs. Dann treffen sich alle zum ersten Kaffee im Shell-Shop – oder einem letzten Kafi Schnapps – und ziehen gemeinsam weiter zum Steiner-Café, um dort zu frühstücken.
Mit dem Geld, das die Gruppe um Rossgrind-Hüter Andreas Wethli sammelt in der Haaggeri-Nacht, machen sie meistens einen Grilltag oder einen Ausflug. Andere haben sich davon schon neue Chutteli gekauft und diese schön besticken lassen. Die Chutteli werden traditionsgemäss in dieser besonderen Nacht vor Neujahr von allen Mitgliedern getragen, sind aber häufig gruppenspezifisch beschriftet oder verziert.
Speziell ist sicher noch, dass die jungen Männer sonst oftmals keine Berührungspunkte haben im Alltag, weder in Vereinen noch privat. Die Gruppe findet sich einmal im Jahr zusammen und dann nochmals für das «erwirtschaftete» Treffen. Ausser: «Wenn bei uns einer heiratet, dann bekommt er eine Trychle geschenkt, als Andenken», erklärt Andreas Wethli. Und dann verabschiedet die Gruppe den Frischvermählten lautstark mit allen Ehren und entlässt ihn in den neuen Lebensabschnitt.
Erneut zogen in der «anderletzten Werchnacht» vor Neujahr, dem 30. Dezember 2019, vier Gruppen junger Männer durch die Strassen und Weiler in Samstagern, und dies in überlauter Manier.
Text und Bild: Reni Bircher
Der «Lärm» kam von den mitgeführten Trycheln, Bissen und Glocken, die schwer im Doppelpack über den Schultern der unverheirateten Männer hingen und sie gekonnt im Rhythmus schwenkten. Hinzu kam das Knallen der durch die Luft schneidenden Peitschen. Angeführt wird jede Gruppe jeweils von dem gewaltigen Rosskopf am Ende einer langen Stange, jedes Mal vom gleichen Mitglied aus der Truppe getragen. Mit glühendem Blick wandert der «Haaggeri-Rosskopf» durch die Strassen, starrt in Fenster und Balkontüren, verlangt mit schnappendem Maul nach Aufmerksamkeit. Wird ihm diese durch die Bewohner im Haus zuteil – möglichst durch eine Geldspende begleitet, welche in den Kässelischlitz in seinen Schädel gesteckt werden kann – verdankt es die Gruppe mit ohrenbetäubendem Geläute. Manchmal werden die nächtlichen Wanderer auch in die warme Stube gebeten und verköstigt, das tut in einer so klaren und kalten Nacht wie heuer besonders gut. Doch was will dieses Brauchtum?
Es war einmal …
… eine Sagengestalt – ein Nix oder Wassergeist –, welcher in Weihern und Seen den Menschen auflauerte, um sie mit einem langen Haken ins Wasser zu ziehen. Eltern diente diese Figur auch gerne mal als Angstmache: wenn die Kinder nicht folgen wollten, würden sie vom Hakenmann geholt. Um jedoch diesen und weitere Geister und Dämonen von den Häusern und Höfen fernzuhalten, wurde und wird alljährlich dieses lärmige Szenario durchgeführt. Unterbrochen wurde der in Samstagern heimische Brauch laut Werner Röllins Recherchen mittig des 19. Jahrhunderts: «Die ‹Haggennasennacht› wurde vom Richterswiler Gemeinderat nach 1850 immer wieder als für die Öffentlichkeit bedrohlichen ‹Unfug und sittenlose Begegnisse› von Vermummten und Bettler» eingestuft. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg wurde man generell wieder offener solchen Traditionen gegenüber, auch weil sie mancherorts als touristische Attraktion Anklang fanden.
Die Vertreibung der Dämonen war aber nicht der einzige Grund für diese nächtlichen Aufmärsche: sie dienten (und tun es immer noch) den jungen Burschen und Männern auch zur Brautschau. Es dürfen deshalb ausschliesslich Ledige mitmachen.
Mit Herzblut dabei
Einer, der bereits seit mehreren Jahren mitläuft in der Haaggeri-Nacht, ist Andreas Wethli. Momentan ist er der Dienstälteste in der Gruppe, er trägt den Rossgrind und ist auch für dessen Pflege und Aufbewahrung das Jahr über verantwortlich. Einen gewissen Stolz darüber ist nicht zu leugnen, ausserdem ist er überzeugt davon, dass «ihr» Rosskopf der Schönste ist von allen. «Der wurde von einem Samstagerer Landwirt von Hand geschnitzt und ist mindestens 50 Jahre alt», weiss Wethli. Die Grinde anderer Gruppen bestehen teilweise aus Karton oder Pappmaché. Mittels einer Schnur kann das Rossmaul auf- und zuschnappen, im Schädelinnern befindet sich eine Vorrichtung mit Lämpchen, welche die Augen des Rosskopfes unheimlich rot leuchten lassen.
Mit 16 Jahren können Samstagerer und Richterswiler Burschen einer Gruppe beitreten – manchmal passiert das auch wenig früher, vor allem, wenn eine Familie schon seit mehreren Generationen dabei ist. Diese Schar besteht in der Regel aus fünf bis neun Mitgliedern. 2020 erreichen sehr viele Junge das entsprechende Alter und es gibt viele Neuzuzüger. Es ist laut Joel Meuter durchaus möglich, dass es im kommenden Winter zu zusätzlichen Gruppenbildungen kommen kann. Dank aktivem Nachwuchs kann der Brauch glücklicherweise erhalten werden.
Die Aufteilung von Trychlern und Geisslern erfolgt auf Grund von Können und Interesse. Bisher konnte das Beherrschen der Geissle in Hütten bei Konrad Gwerder, einem Profi-Chlepfer, erlernt werden, dieser ist inzwischen jedoch in den Ruhestand getreten. Jetzt lernen und üben sie den Umgang mit der Peitsche in Schindellegi. Die Handhabung der mitgeführten Kuhglocken sei gar nicht so schwer, meint Trychler Joel. «Man bekommt relativ rasch ein Gefühl für den Rhythmus.» Viele Haaggeri-Mitglieder besitzen eigene Glocken (sind unter anderem auch in der Gruppe Bergtrychler Hütten-Schönenberg-Hirzel, die an Anlässen auftreten), andere werden von den örtlichen Landwirten extra für die Brauchtumsnacht paarweise reserviert und ausgeliehen.
Es ist eine lange Nacht
«Es gibt Leute, die warten jedes Mal auf uns, wecken sogar die Kinder auf, wenn wir kommen und bitten uns in die warme Stube», erzählte Joel Meuter begeistert. «Auch der Gemeindepräsident hat uns um halb vier Uhr morgen die Türe geöffnet, das ist toll.» Andere Anwohner bereiten Jahr für Jahr im Garten ein Feuer, damit sich die «Krachmacher» aufwärmen können. Da gibt es auch schon mal das eine oder andere Bier oder einen Kaffee mit Schuss. Aber auch Neuzuzüger zeigen sich interessiert ob des Brauchtums, fragen nach und freuen sich über das Erscheinen der nächtlichen «Störenfriede».
Die meisten Haaggeri-Gruppen sind die ganze Nacht unterwegs bis morgens um sechs. Dann treffen sich alle zum ersten Kaffee im Shell-Shop – oder einem letzten Kafi Schnapps – und ziehen gemeinsam weiter zum Steiner-Café, um dort zu frühstücken.
Mit dem Geld, das die Gruppe um Rossgrind-Hüter Andreas Wethli sammelt in der Haaggeri-Nacht, machen sie meistens einen Grilltag oder einen Ausflug. Andere haben sich davon schon neue Chutteli gekauft und diese schön besticken lassen. Die Chutteli werden traditionsgemäss in dieser besonderen Nacht vor Neujahr von allen Mitgliedern getragen, sind aber häufig gruppenspezifisch beschriftet oder verziert.
Speziell ist sicher noch, dass die jungen Männer sonst oftmals keine Berührungspunkte haben im Alltag, weder in Vereinen noch privat. Die Gruppe findet sich einmal im Jahr zusammen und dann nochmals für das «erwirtschaftete» Treffen. Ausser: «Wenn bei uns einer heiratet, dann bekommt er eine Trychle geschenkt, als Andenken», erklärt Andreas Wethli. Und dann verabschiedet die Gruppe den Frischvermählten lautstark mit allen Ehren und entlässt ihn in den neuen Lebensabschnitt.