Aktuell Wädenswil

OceanCare: „Wir kämpfen nicht. Wir überzeugen.“

Vor dreissig Jahren erlebte Sigrid Lüber bei einem Tauchgang vor den Malediven eine folgenreiche Begegnung: Delfine gaben ihr einen Auftrag – und die junge Schweizerin gründete die Meeresschutz-Organisation OceanCare, die damals noch eine «Arbeitsgruppe zum Schutz der Meeressäuger» war. 

Im Jubiläumsjahr erinnert sich die 64-jährige Präsidentin an die ersten Jahre – und sie sieht in naher Zukunft grosse Herausforderungen. 30 Jahre OceanCare – ein Interview mit Sigrid Lüber, der Gründerin und Präsidentin.

Eine kleine Gruppe von Tierschützern, die im Frühling 1989 den Bau eines Delfinariums in der Schweiz verhinderte, ist zu einer weltweit anerkannten Organisation angewachsen, die sich nicht weniger als die Rettung der Meere auf die Fahnen geschrieben hat und selbst von der UNO um Rat gefragt wird. Haben Sie mit dieser Entwicklung gerechnet, als Sie vor dreissig Jahren OceanCare gründeten?
Ganz ehrlich: Ja! Schon damals, als die Arbeitsgruppe zum Schutz der Meeressäuger ihre Arbeit aufnahm, war mir klar, dass wir das grosse Parkett würden suchen müssen, wenn wir gehört werden wollten; ein nachhaltiger Schutz des marinen Lebensraumes ist nur erfolgreich, wenn wir nicht nur protestieren, sondern global vernetzt handeln. Ich hatte mir ein Ziel gesetzt und war im jugendlichen Eifer nicht bereit, Kompromisse einzugehen, um dieses Ziel zu erreichen.

Heute wird OceanCare als Meeresschutz-Organisation wahrgenommen, die politische Lobby-Arbeit leistet und an internationalen Konferenzen Einfluss nimmt. Haben Sie die radikale Haltung der diplomatischen Kompromisskultur geopfert?
Wenn es um die grundsätzliche Haltung geht, habe ich mich nie auf einen Kompromiss eingelassen. Oft führen verschiedene Wege zum Ziel – und wer an internationalen Foren mitreden und sich durchsetzen will, muss auch mal so flexibel sein, dass er beim kleinsten Konsens einsteigen und darauf aufbauen kann.

OceanCare kämpft an zahlreichen und sehr unterschiedliche Fronten …
… falsch: Wir kämpfen nicht! Wer kämpft, hat einen Gegner und riskiert, den Kampf zu verlieren. Wir haben Partner und wollen überzeugen. Nur so kann man gewinnen.

Wo ist diese Überzeugungsarbeit derzeit besonders wichtig?
Die Vermüllung der Meere durch Plastik ist im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit angekommen. Immer mehr Menschen erkennen, dass sie selbst entscheiden können, ob sie lieber ein Teil des Problems bleiben – oder zur Lösung beitragen wollen …

… indem sie auf den Verzehr von Fischen und Meeresfrüchten verzichten, Plastik meiden und das Auto stehen lassen. Aber beim Lärm ist der Konsument machtlos.
Nicht ganz: Als Demokraten wählen wir die Politiker, die dafür sorgen, dass die Energiewende ernst genommen wird, als Konsumenten beeinflussen wir die Nachfrage nach Fisch- oder Erdöl-Produkten. Wir entscheiden, ob wir einen Segeltörn unternehmen oder einen Motorboottrip, mit dem Surf-Board oder auf dem Jet-Ski über die Wellen brettern. Öl speist nicht nur Heizungen und Motoren, es ist auch der wichtigste Plastik-Rohstoff. Wir steuern die Nachfrage – wo aber die Nachfrage ausbleibt, wird nicht geforscht, gesucht, ausgebeutet und abgebaut.

Ist der Handlungsbedarf beim Problem Lärm am grössten?
Absolut. Weil er nicht sichtbar ist, aber das Leben unter Wasser immer massiver bedroht. Dabei stehen längst nicht mehr nur die Schiffsmotoren im Vordergrund, noch viel unerträglicher ist für die Tiere im Meer der Lärm, der von Forschungsschiffen der Öl-Industrie ausgeht. Vor fünf Jahren hat sich die Internationale Gemeinschaft mit dem Pariser Klimaschutz-Abkommen zur Energiewende bekannt und verpflichtet, die fossilen Energiequellen durch erneuerbare zu ersetzen. Und was geschieht? Die Erdöl-Industrie lanciert einen beispiellosen Run auf unterseeische Ölvorkommen.

Wie kommt es, dass die Suche nach dem Schwarzen Gold so lärmintensiv ist?
Der Meeresgrund und die geologischen Schichten darunter werden wochen-, oft monatelang mit seismischen Kanonen beschallt; jedes Forschungsschiff ist mit bis zu 48 Druckluftkanonen ausgerüstet, jede Kanone feuert alle zehn bis fünfzehn Sekunden einen Schuss ab. Kürzlich erst hat eine wissenschaftliche Studie nachgewiesen, dass ein einziger Schuss im Umkreis von knapp zwei Kilometern neunzig Prozent des Planktons töten kann. Dieses Plankton aber steht am Anfang der Nahrungskette, er ist die Basis des Lebens im Meer. Meine grösste Sorge gilt den kleinsten Tierchen im Meer. Sie sind mehr als nur die Nahrungsgrundlage der grössten Lebewesen auf dem Planeten, sie gewähren letztlich auch unser Überleben.

Der Sonderberaterstatus, den die UNO OceanCare zuerkannt hat, war so etwas wie ein Ritterschlag. Gibt es weitere Meilensteine in der langen Geschichte Ihrer Organisation, die Ihnen besonders viel bedeuten?
Es gibt viele – vielleicht nicht so spektakuläre, aber für uns sehr wichtige – Erfolgserlebnisse. Und viele Zeichen der Anerkennung.

Zum Beispiel?
Seit 2016 sind wir offizieller Partner des regionalen Fischereiabkommens der Welt-Ernährungsorganisation für das Mittelmeer. In dieser Funktion wirken wir an einem Abkommen mit, das den Fischfang regelt. In selben Rahmen haben wir im letzten Dezember einen gemeinsamen Workshop mit dem UNO-Umweltprogramm durchgeführt, um Lösungen für das Plastikproblem im Mittelmeer zu finden. Ein weiterer Workshop, an dem sich die Fischereikommission beteiligte, befasste sich im Februar mit den Auswirkungen des Unterwasserlärms auf die Fischbestände und die sozialen wirtschaftlichen Konsequenzen.

Derzeit ist der Klimawandel das grosse Thema: Kaum jemand wagt es noch, das Phänomen zu bestreiten. Bedroht es auch die Meere?
Ja, ganz klar. An den Polen schmilzt das Eis, Korallenbänke bleichen aus und sterben ab, im Mittelmeer erreichen die Wassertemperaturen Werte, die wir früher bei den Malediven gemessen haben. Die Lebewesen im Meer reagieren sehr empfindlich auf solche Schwankungen – und so verschwinden in manchen Regionen angestammte Arten, während tropische Fischarten im Mittelmeer zuwandern und so die heimischen Arten noch mehr unter Druck setzen.

Ausgerechnet im OceanCare-Jubiläumsjahr stellt die UNO den 8. Juni, den traditionellen World Oceans Day, unter das Motto «Gender & the Ocean». Wie ist das zu verstehen?
Gender-Fragen sind nicht gerade meine Kernkompetenz. Ich gehe davon aus, dass die Weltgemeinschaft auf die Geschlechterrollen, die Gleichberechtigung sowie die spezifische Rolle jener Frauen aufmerksam machen will, die vom und mit dem Meer leben und auch jener, die sich weltweit für das Leben im Meer einsetzen.

Bis zum heutigen Tag ist Ihre Organisation nahezu vollständig in weiblicher Hand. Sind Frauen bessere Meeresschützer?
Das würde ich so nicht sagen, aber es trifft zu, dass neun von zehn Menschen, die in unseren Büros in Wädenswil arbeiten, weiblich sind. Das mag auch daran liegen, dass Frauen eher bereit sind, zu den Bedingungen zu arbeiten, die wir bieten können. Aber darum geht es nicht in erster Linie; es geht vielmehr um die Kompetenz, die Leidenschaft und die Bescheidenheit. Eigenschaften, die – zumindest im grammatikalischen Sinn – eindeutig weiblich sind. Sie verbinden unser Team.

Dann verweilen wir noch kurz bei der Grammatik und erkennen, dass das neutrale Meer zwei Synonyme hat – den männlichen Ozean und die weibliche See!
Das liebe ich an der deutschen Sprache: Mit solchen Wortspielen lässt sie den tieferen Sinn erkennen: Die ungestüme, wilde Kraft des Ozeans und die zarte, fragile Verletzlichkeit der See verbinden sich zum Lebensraum Meer, der den ganzen Erdball umfasst.

Sie erreichen dieses Jahr das für Frauen offizielle Pensionsalter. Wird Ihre weibliche Schaffenskraft dem Meer und den Menschen erhalten bleiben?
Ich habe mir die Zahl 70 zum Ziel gesetzt; solange möchte ich noch weitermachen. Aber natürlich habe ich meine Nachfolge geregelt – und sie bleibt in weiblicher Hand: Mit Fabienne McLellan hat eine Frau, die sich auf dem diplomatischen Parkett bestens bewährt hat, meine Nachfolge im Ressort Internationale Beziehungen übernommen, und mit unserer Geschäftsleiterin Vera Bürgi steht eine Kapitänin am Ruder, die unser Schiff auch bei schwerem Seegang sicher auf Kurs hält.

Und Sie selbst?
Ich kümmere mich im Hintergrund um strategische Aufgaben, bin weiterhin in die inhaltliche Ausrichtung involviert und begleite das Team als Mentorin. Die Kultur der Governance, der verantwortungsvollen Unternehmensführung, die ich in internationalen Gremien fördere, stelle ich auch innerhalb von OceanCare in den Fokus. (wa/e)

 

Über Sigrid Lüber
Aufgewachsen im Kanton St. Gallen. Ausbildung als Maschinenzeichnerin, danach langjährige kaufmännische Erfahrung in internationalen Konzernen. Im Indischen Ozean erlebt Sigrid Lüber 1989 einen Moment, der ihren Werdegang nachhaltig prägt: Während eines Tauchgangs findet sie sich plötzlich inmitten einer Schule von Delphinen wieder. Zurück in der Schweiz gründet sie mit Freunden die Organisation OceanCare (ehemals ASMS), der sie seit 1993 als Präsidentin vorsteht.

Neu auf dem Parkett der internationalen Gremien, beginnen für Sigrid Lüber Lehr- und Wanderjahre, die sie unbeirrbar und mutig absolviert. 1992 nimmt sie als einzige Beobachterin einer Schweizer Nichtregierungsorganisation an Konferenzen der Internationalen Walfangkommission (IWC) teil und startet damit die bis heute ungebrochene Präsenz in diesem Gremium. Ab 1997 wird sie Beobachterin beim Washingtoner Artenschutzabkommen (CITES). 2004 weitet Sigrid Lüber die Arbeit in internationalen Foren auf alle für das Seerecht relevanten UN-Gremien aus.

Heute ist Sigrid Lüber eine der weltweit aktivsten Meeresschützerinnen. Sie verfügt über profunde Kenntnisse in allen relevanten Themen rund um die Ozeane und pflegt ausgezeichnete Kontakte zu Entscheidungsträgern im In- und Ausland. Ihrem konstruktiven Engagement ist es zu verdanken, dass OceanCare 2011 vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen den Sonderberaterstatus für Fragen im Meeresschutz erhielt.

Teilen mit: