Feuilleton Kolumne Wädenswil

Als Hebamme in Indien – ein Erlebnisbericht

Seit Mitte April lebe ich in einer abgelegenen Gegend in Nordindien im Bundesstaat Uttarakhand. Die kleine Nichtregierungsorganisation Aarohi ist dort aktiv. Aarohi betreibt da eine Schule, vertreibt lokale Produkte und kümmert sich um die Gesundheit der Bevölkerung. Für Aarohi arbeite ich vier Monate als Hebamme.

Am 19.04.15 landete ich in Delhi. Drei Tage später ging es weiter nach Satoli. Das ist eine 4-stündige Zugreise – sehr angenehm übrigens – und dann eine 4-stündige Autofahrt (für 100 Kilometer) in die Hügel von Uttarakhand. Ich lebe hier in etwa 1600 m.ü.M in einem kleinen, aber schönen Häuschen. Es brauchte eine gewisse Zeit, bis ich mich an die Langsamkeit Indiens gewöhnt hatte. Alles braucht viel viel länger als bei uns. Das beginnt beim Kochen und endet beim Warten auf irgendwelche Leute. «Kahl melenge» – «morgen dann», ist ein wichtiger Begriff in meinem Leben geworden. Das indische Essen ist sehr lecker, jedoch wenig abwechslungsreich. Zu jeder Mahlzeit, egal ob Frühstück, Mittag- oder Abendessen, gibt es Dahl (Linsen), Sabzi (gekochtes Gemüse), Rotti (Faijta-ähnlich) und manchmal Reis oder Yoghurt. Fleisch gibt es in dieser Region sehr selten.
Aarohi betreibt einmal im Monat ein mobiles Camp, welches die wirklich abgelegenen Dörfer anfährt und dort für ein Minimum an medizinischer Versorgung sorgt. In diesem Camp dabei sind zwei Ärzte, welche die Patienten «empfangen» und ein Arzt, welcher Ultraschall machen kann. In meinen vier Monaten bin ich ebenfalls jeweils 8 Tage pro Monat im Camp dabei. Ich darf die Schwangerschaftskontrollen machen. Wie anders das ist! Die Dokumentation ist sehr spärlich. Die Frauen sind mit 25 Jahren zum Teil schon zum achten Mal schwanger und sehen einiges älter aus. Nach wie vor ist es so, dass Mädchen weniger erwünscht sind als Knaben. Mädchen sind «teuer», da ihre Mitgift bezahlt werden muss. Sie werden mit etwa 18 Jahren verheiratet und sollten neun Monate später ihr erstes Kind zur Welt bringen. Gleichzeitig arbeiten sie sehr sehr hart auf dem Feld um die Familie ihres Ehemannes zu ernähren. Männer sehe ich häufig am Strassenrand sitzen, die sich untereinander unterhalten. Alkohol ist ein grosses Problem.
Wie erwähnt bin ich im Camp für die Schwangerschaftskontrollen zuständig. Pro Kontrolle habe ich ca. 15 bis 20 Minuten Zeit. Bleibt also nicht viel für Beratung übrig … Aus der Schweiz habe ich ein kleines Gerät mitgebracht, mit welchem ich Herztöne hören kann. Die Frauen haben grosse Freude, das Herz ihres ungeborenen Kindes schlagen zu hören! Das ist etwas absolut Neues für sie. Die Schwangeren werden vor allem von ihren Schwiegermüttern beraten. Nicht immer einfach, da diese Beziehungen meist belastet sind.
Bei den Kontrollen fällt auf, dass die Kinder deutlich kleiner sind als bei uns in der Schweiz. Ich musste mich an die neuen Masse gewöhnen und konnte mir somit neues Wissen aneignen. Nichts von «ich bin eine erfahrene Hebamme» … Auffällig ist auch, dass viele Familien bereits Kinder nach der Geburt verloren haben. Dies meist aufgrund von starkem Durchfall, da viele Kinder bereits im ersten Lebensjahr von Kuhmilch ernährt werden. Über die Wasserqualität muss ich gar nicht schreiben. Grundsätzlich werden die Kinder gestillt, aber sobald eine Frau wieder schwanger ist, hört sie damit auf.
Nach dem ersten Camp hatte ich ein Highlight meines Aufenthaltes. Eine Nachbarin von mir (eine 15-minütige Wanderung entfernt) war an ihrem errechneten Geburtstermin und wünschte sich eine Hausgeburt mit mir. Am nächsten Tag setzten prompt die Wehen ein und ich durfte sie während der Geburt begleiten. Pooja war eine Erstgebärende und hat super gearbeitet. Im Zimmer waren ausschliesslich Frauen anwesend. Um 15.59 Uhr kam ein 3000 g schwerer noch namenloser Knabe zur Welt. Ein wunderschönes Erlebnis! Ich musste mich mit vielem umgewöhnen. So habe ich noch nie eine Nabelschnur abgebunden und an sonstigem Material hatte ich eigentlich nur Watte zur Verfügung. Dazu war es noch meine allererste Hausgeburt in meinem Hebammenleben. Der lokalen indischen Sprache bin ich auch nicht mächtig und somit war ich natürlich ziemlich gefordert. Gleich nach der Geburt begannen die Hunde zu bellen – wie wenn sie es bemerkt hätten. Der Vater begrüsste seinen Sohn auch mit Tränen. Die Familie und ihre Arbeitgeber waren und sind überglücklich, dass ich bei der Geburt dabei war. Aber mein eigenes Glück kann ich bis heute nicht in Worte fassen!
Der kleine Junge bekam seinen Namen, Santos Subon, erst 11 Tage später bei der hinduistischen Taufzeremonie, zu welcher ich auch eingeladen war. Ebenfalls ein eindrückliches Erlebnis mit vielen Symbolen und sehr feinem Festtagsessen.
Meine weitere Tätigkeit ist in einem PHC (Primary health center = Gesundheitszentrum) in einem kleinen Dorf. Dort finden bis zu 15 Geburten pro Monat statt und ansonsten ambulante Kontrollen von irgendwelchen Gesundheitsproblemen.
Das Geburtszimmer in diesem PHC erinnert mehr an eine Schlachtbank als an einen Ort wo frau sich geborgen fühlen sollte. Es war zu Beginn auch ziemlich schmutzig, woraufhin ich mit den Pflegefachfrauen eine Putzaktion startete. Sie waren sehr erstaunt, dass eine westliche Person einen Putzlappen in die Hand nimmt, waren dann aber mit Musik und Elan dabei. Trotzdem verstehe ich die Frauen, dass sie nicht kilometerweit wandern möchten, um ihr Kind in solch einem unfreundlichen Raum mit einem furchteinflössendem Gebärbett zur Welt zu bringen. Im PHC gibt es keine Hebammen, sondern die 3 Pflegefachfrauen hatten in der Schule etwas weniges über Geburtshilfe. Es fehlt ihnen leider auch an Erfahrungswissen und Empathie. Dementsprechend werde ich in nächster Zeit kleine Fortbildungen planen und durchführen. Sie zeigen grosses Interesse daran.
Zu den Hausgeburten gehen die Dorfhebammen, Dai genannt. Sie haben grosse Erfahrung, aber kein theo­re­tisches Wissen. Aarohi versucht, die Dais auszubilden. Ich werde meinen Berufskolleginnen ebenfalls kleine Fortbildungen geben. Hier beginnt es bei der Hygiene. Die Dais arbeiten häufig auf dem Feld und ihre Hände und Kleider sehen dementsprechend aus.
Meine ersten Begegnungen mit den Dais waren positiv. Ich glaube, Hebammen auf der ganzen Welt sind grundneugierige Frauen und studieren das Gegenüber genau. Dementsprechend freue ich mich auf diese Zusammenarbeit.
Zum Abschluss noch etwas über die Landschaft und Region, in der ich lebe: Es ist sehr hüglig auf bis zu 2200 m.ü.M. Die Region erinnert mich stark ans Tessin mit ähnlichen oder gleichen Pflanzen. So steht vor meinem Zuhause ein Kastanienbaum. Wir haben Temperaturen um die 30–36 °C und immer ein leichtes Lüftchen. An einem klaren Tag sehe ich zu den schneebedeckten Bergen vom Himalaya. Um einkaufen zu gehen, wandere ich 2 Kilometer über Stock und Stein, um dann Gemüse, Reis und mit viel Glück Früchte zu kaufen. Der Monsun steht vor der Tür, welcher sehr wichtig ist. Es gibt nämlich unzählige Waldbrände, welche nicht gelöscht werden können, mangels Hilfsmitteln. In der Zeit in welcher ich hier bin, hat es erst einmal richtig geregnet und die Natur ist dementsprechend ausgetrocknet. Die Strassen sind in Serpentinen angelegt und für 30 Kilometer braucht man sicher eine Stunde.
Affen, Kühe und Hunde sind überall anzutreffen. Vögel hat es wunderschöne, welche mich am Morgen wecken.
So, das wäre es mal fürs Erste. Ich gehe jetzt Wäsche waschen (von Hand).
Namaskar, Caroline Eith

Die Wädenswilerin Caroline Eith war bis zu ihrem Aufbruch nach Indien leitende Hebamme am Seespital Horgen. Nach ihrer Rückkehr im August 2015 begleitet sie Frauen individuell und ganzheitlich durch ihre Schwangerschaft.
Mehr Infos sowie ein Blog über Caroline Eiths bewegende Zeit in Indien unter www.haerzchlopfae-hebamme.ch.
Infos zu Aarohi unter www.arohi.org.

Teilen mit: