Feuilleton Wädenswil

Äneas Humm – raumfüllende Stimme aus Wädenswil

Was braucht es, um ein Ausnahmekünstler zu werden? Welche speziellen Eigenschaften hat ein sogenanntes Wunderkind? Dies sind Fragen, die Äneas Humm, der Wädenswiler Bariton, sich wohl schon oft gefallen lassen musste. Ihn interessiert mehr das musikalische Wachstum, der Kontakt zu seinem Publikum, seine humanitären Anliegen mittels der Musik zu übermitteln und die Frage, wie man die klassische Musik den Menschen näherbringen und sie dadurch verbinden kann.

Text: Ingrid Eva Liedtke
Bild: Maurice Haas

Gerne möchte man eine Eingebung, eine Art Erleuchtung, als Start in diese bemerkenswerte Karriere vermuten – ein Erweckungserlebnis, das den jungen Äneas, der schon mit sechs Jahren bei den Zürcher Sängerknaben sang, eines Tages ereilte und zu dieser besonderen Art des Talents und der Leidenschaft führte, die ihn früh zum Wunderknaben werden liess. Tatsächlich ist die Sache weit weniger spektakulär.
«Dass ich mich für den Gesang entschieden habe, war eher ein Zufall. Ich erinnere mich, dass mir meine Tante die Mitgliedschaft für die Zürcher Sängerknaben zum Geburtstag geschenkt hat, weil ich immer gerne gesungen habe und auch sonst immer irgendwelche Geräusche machte. Ich mochte Musik und Rhythmus, habe auch Geige gespielt, später auch noch Bratsche, aber auf dem Instrument konnte ich schliesslich nicht wirklich das machen, was ich wollte – nicht wie mit der Stimme. Bei den Sängerknaben hatte ich dann dreimal die Woche Chorprobe, und mit dem Singen wuchs das Bedürfnis danach.»

Entscheidung für den klassischen Gesang

Dass sich ein Junge dem klassischen Gesang zuwendet, ist nicht unbedingt üblich. Äneas Humm verweist auf seine familiäre Prägung. Sein Vater habe in seiner Töpferwerkstatt immer klassisches Radio oder CDs gehört, und ihm habe diese Musik schon früh besser gefallen als andere Musikstile.
Anstatt sich also als Teenager Pop, Funk, Rap oder Hip-Hop reinzuziehen und das damit verbundene «Hängen» zu kultivieren, entwickelte Äneas Humm früh in seinem Leben eine fokussierte Energie, die er ganz dem Gesang und der Ausbildung seiner Stimme zukommen liess. «Ich hatte nicht so viele Freunde als Kind. Bei den Sängerknaben waren jedoch viele so wie ich – speziell. Das Singen war immer eine sehr körperliche und auch gemeinschaftliche Erfahrung. Man stand zusammen in der Gruppe, atmete zusammen und tönte zusammen. Durch das Singen, das gemeinsame Musizieren, was wir alle gerne taten, erfuhren wir Zusammengehörigkeit.»
Natürlich dürfe das nicht romantisiert werden. Es habe auch viele Streitereien gegeben – bei 80 Knaben! Aber es seien auch Sommerlager durchgeführt worden, wo man dann auch seine «Gspändli» finden konnte.

Leichtigkeit beim Singen mit allen Sinnen

«Das Gefühl, das ich beim Singen hatte, mochte ich wahnsinnig gerne», erinnert sich Äneas Humm. «Es fiel mir so leicht, nie schwer! Es ist ein sehr körperliches Empfinden – alle Sinne sind beteiligt. Das ist bis heute so geblieben. Ich stehe da, stundenlang, übe, aber ich komme nie an den Punkt, an dem ich denke: Das ist mir jetzt zu viel! Bei allen anderen Tätigkeiten vergeht mir oft schon nach einer Stunde die Lust, und es fällt mir schwer, die Konzentration zu halten. Nicht so beim Singen!»
Viele Menschen hegen den Wunsch, in einem Hobby, einer künstlerischen oder auch anderen Tätigkeit diese Leidenschaft und Intensität zu erleben und müssen sich doch immer wieder mit Ablenkung und Konzentrationsschwierigkeiten herumschlagen. Äneas Humm kennt solches von der Schule, gesteht, dass er nie ein guter Schüler war, sich nie auf eine Aufgabe konzentrieren konnte.
«Heute arbeite ich fokussiert an den schwierigsten Stücken, übernehme die Verantwortung dafür und schaffe es. Allerdings bin ich schon nach neunzig Minuten, spätestens nach zweieinhalb Stunden, wirklich erschöpft.»

Übung macht den Meister

Ein Geiger oder Pianist könne sechs bis sieben Stunden pro Tag üben. Die Stimme eines Sängers sei nicht länger als etwa zweieinhalb Stunden zu strapazieren. Man sei dann auch körperlich erschöpft.

«Ich kann an einem solchen Tag, nach intensivem Üben, auch keine weitere Anstrengung mehr machen. Sport schon! Aber ich könnte dann nicht noch ein Konzert singen. Roger Federer hatte vor seinen Matches auch nicht noch ein strammes Training, sondern ein leichtes Einspielen. Das intensive Trainieren, respektive Üben, muss in der Vorbereitung von Auftritten geschehen. Auf der Bühne sollte es dann einfach laufen.»

Instrument im eigenen Körper

Der Vergleich von Musikern mit Sportlern liegt nahe, so Humm. Vor allem bei Sängern sei die körperliche Leistung enorm, da ihr «Instrument» im eigenen Körper liege.
Der Körper als Resonanzkörper: Es ist beeindruckend, welche Stimmgewalt in diesem eher feingliedrigen Körper von Äneas Humm schlummert, wie sich der Bariton dann auszudehnen weiss in grosse, weite Räume und weiter in die Körper des Publikums, um dort wiederum auf Resonanz zu stossen und sie ganz und gar auszufüllen mit dem Schwingen, dem Tönen, diesem unbeschreiblichen Gesang.
Äneas Humm erzählt davon, wie diese Erfahrung der Resonanz im Körper der Sänger überwältigend sein kann, was beim Üben manchmal sogar zu Ohnmachten führe.
Beim Hören eines seiner Podcasts «Klassik Doppio» mit der Geigerin Antje Weithaas erfährt man, dass auch das Geigenspiel eine Art des Atmens ist – und versteht, warum er neun Jahre lang Geige spielte.

Talent und Erfolg

Die Frage nach dem Talent hat sich der junge Äneas nicht bewusst gestellt. Er wollte einfach immer singen. Natürlich spiele der Ehrgeiz eine Rolle. Man wolle gut, herausragend, möglichst der Beste sein. Bei den Zürcher Sängerknaben sei er aber eher einer von vielen gewesen. Es waren andere, die in der ersten Reihe standen, die die ersten grossen Rollen singen durften.
«Ich hatte einmal die Hauptrolle in einem Musical. Aber sonst waren es immer die anderen, die am Opernhaus in der Zauberflöte einen der drei Knaben oder am Weihnachtskonzert im Grossmünster ein Solo singen durften. Und es war nicht so, dass ich es nicht gewollt hätte.»
Was passiert ist, dass er heute so erfolgreich ist, kann er sich nicht erklären. Aber es sei oft so, dass man eine Zeit lang nur bei den Zweitbesten sei und plötzlich bei den Besten. Darum dürfe man sich nie entmutigen lassen und solle immer weitertrainieren. Schon der noch sehr junge Sänger hatte begriffen, dass die Möglichkeit gegeben ist, eines Tages in der ersten Reihe zu stehen.
Er habe immer gewusst, was er einmal erreichen möchte.
«Ich glaube, es ist normal, dass man ehrgeizig ist, wenn man etwas so intensiv und leidenschaftlich tut.»

Wunderkind und eigene Erwartungen

Äneas Humm wurde als Wunderkind gehandelt, und man attestierte ihm eine glänzende Zukunft, dass er alles machen, beziehungsweise singen könne, was er wolle. Schafft dies nicht einen grossen Freiraum und eine Leichtigkeit, sich entfalten zu können, wie man möchte? Oder erzeugt das auch Druck?
«Das Label des Wunderkindes hat mich nie so interessiert. Man sagt das auch nicht zu sich selber. Es war gut möglich, dass man ein solches Lob hörte und gleichzeitig in einer Zeitung geschrieben wurde, man habe schlecht performt. Darum versuchte ich all dies nie allzu ernst zu nehmen, auch wenn ich mich über Lob natürlich immer gefreut habe. Ich wusste immer, was ich erreichen wollte, dass ich weiterkommen wollte, besser werden. Auftreten ist demzufolge immer ein Druck. Die Leute, das Publikum, erwarten etwas. Selbst erwartet man jeweils auch etwas von sich. Man will es sehr gut machen, eine Bestleistung geben und damit das Publikum berühren und begeistern.»

Lampenfieber

Das ist der Moment, wo er auf die Angst jedes Künstlers, jeder Künstlerin, die auftreten, zu sprechen kommt – das Lampenfieber. Kürzlich, in der Elbphilharmonie, sei ihm vor der letzten Arie so übel gewesen, dass er sich beinahe hätte übergeben müssen. «Man macht sich so einen Druck … und dann zum Schluss läuft alles wunderbar.»
Man möchte denken, dass sich eines Tages, nach vielen Auftritten, eine Routine einstellt. Aber man hört es immer wieder: Dem ist nicht so. Das Lampenfieber bleibt. Humm bestätigt: «Ich spreche mit vielen Kollegen, solchen, die auch berühmter sind, und sie bestätigen mir, dass sie diesen Druck nie loswerden» – auch wenn es Techniken gebe, um das Atmen zu verbessern und sich wenigstens ein wenig zu beruhigen.
Was will er mit seiner Kunst erreichen? «Ich will, was – so glaube ich – alle Künstlerinnen und Künstler wollen: die Menschen beglücken und sie berühren. Ich glaube, das ist die Aufgabe von Kunst und der Musik im Besonderen, weil sie direkt in uns hineingelangt. Das ist nach wie vor durch nichts ersetzbar.»
Wie kann man die Klassik Menschen näherbringen, die sich bisher nicht damit befassten? «Ich glaube, dass die klassische Musik ein Imageproblem hat und immer noch als altmodisch und elitär gilt. Darum habe ich mir immer zum Ziel gesetzt, in meinen Konzerten, in denen ich allein, vielleicht nur mit einem Begleitklavier auf der Bühne stehe, mit dem Publikum zu sprechen. An der Juilliard School in New York war dies Pflicht. Alle grossen Stars in New York, wie zum Beispiel Renée Fleming, kamen auf die Bühne, sangen ein paar Lieder und erklärten dann dem Publikum, warum sie diese Lieder ausgewählt hatten und was als Nächstes folgen wird. Das nimmt Zeit für die Musik, aber gibt dem Publikum auch Zeit, den Künstler kennenzulernen und irgendwie mit ihm und der Musik in Beziehung zu treten. Es stimmt, dass nicht jeder Mensch ein Unterhaltungstalent hat, aber ich finde es schon sehr schade, wenn Künstlerinnen gar kein Wort sprechen können, nicht mal Danke sagen!»

Klassik Doppio

Da Äneas Humm gerne in Kontakt ist mit Menschen, mit seinem Publikum als auch mit seinen Künstlerkolleginnen und -kollegen, wollte er eine weitere Plattform dafür kreieren.
In seinem Podcast Klassik Doppio unterhält er sich – der wirklich ein guter Unterhalter ist – regelmässig mit Kolleginnen und Kollegen bei einer guten Tasse Kaffee über die Musik und auch den Künstleralltag.
Durch diese Gespräche zweier Künstler erfährt man einiges – über den Alltag, über das Künstlersein und über die Klassik. Diese verliert dadurch ihre Steifheit und das Abgehobene, und auch interessierte Laien erfahren unglaublich viel: Die romantischen Vorstellungen über den Alltag eines Sängers, einer Geigerin oder eines Pianisten bröckeln dann gewaltig, und plötzlich treten auch die Schattenseiten hervor: die langen Stunden, die auf Flughäfen verbracht werden müssen, das viele Umsteigen, die Mühsal, wenn die wertvolle Geige (der Geigerin Antje Weithaas) nicht ins Handgepäck darf und im viel zu kalten Frachtraum transportiert werden muss. Nach einer Konzerthalle voller begeisterter Menschen, die einem frenetisch Beifall geklatscht haben, sind manche Nächte danach doch sehr einsam. Und die Angst zu versagen reist immer mit – das Lampenfieber, das dazugehört, das es braucht, wie viele bestätigen, und das doch oft kaum erträglich ist. Es wird klar, dass nur die grosse Leidenschaft für die Kunst eine passable Entschädigung für die vielen Verzichte sein kann – für die vielen verpassten Geburtstage, Familienfeste und Beerdigungen, für die Unmöglichkeit, ein wirklich geordnetes, normales Familienleben zu führen. Man versteht aber auch, wie wichtig ein beruhigendes Umfeld vor und nach einem Auftritt ist, sei es ein Tee, ein trockener Raum, das Glas Wein danach – und dass dies noch keine Starallüren sind.

Man erfährt aber auch so viel Schönes und Interessantes, beginnt zu verstehen, was es bedeutet, sein Leben der Musik zu widmen – wie das künstlerische Wachstum eine neue Dimension erlangen kann, wenn eine Sängerin kurz vor ihrem Auftritt und auch dazwischen ihr Kind stillt.
Äneas Humm, wie auch seine Kolleginnen und Kollegen, singen oder spielen kein Konzert gleich. Sie sind in Bewegung, lernen – durch die Musik, durch das Üben, zum Teil auch durch das Unterrichten und eben auch durch die Mutterschaft. Auch wenn diese Musik teilweise schon sehr alt ist und die Lieder oder Opernarien schon oft gesungen wurden, leben sie bei jeder Interpretation neu auf und erreichen und berühren das Publikum.
Die interessanten Gespräche von Klassik Doppio kreisen um für Laien bisher unbekannte Nuancen der klassischen Musik – und das ist spannend und bereichernd.

Musik, die an unsere Menschlichkeit appelliert

Äneas Humm erreicht mit seinem Podcast eine sehr durchmischte Zuhörerschaft. Es ist zu hoffen, dass ihm dies auch mit seinem Gesang gelingt. Denn es ist dem Sänger, der mit seinem Mann in Berlin lebt, auch ein Anliegen, Themen wie Toleranz, Akzeptanz und Menschliebe mit seiner Musik zu kolportieren.
Seine neue CD   «Sehnsucht – zwischen Exil und Neubeginn» widmet sich dem Thema der Verfolgung durch den Nationalsozialismus. Die Werke von Arnold Schönberg, Alexander Zemlinsky, Erich Zeisl und Henriette Bosmans, die in den 1930er- und 40er-Jahren entstanden sind, widerspiegeln Erfahrungen von Exil, Verfolgung und Verlust und thematisieren zugleich die Sehnsucht nach Heimat, Sicherheit und Freiheit. Sie erinnern an das Unrecht und die tiefen Wunden, die durch das Verschwinden der Kunst und ihrer Urheber gerissen wurden.
Gleichzeitig weist der vielfach ausgezeichnete Bariton auf die tiefgreifende Aktualität hin, die weltweit von politischen Krisen und kulturellen Restriktionen weiter befeuert wird: Mit ‹Sehnsucht› setze ich meinen Weg fort, Werke und Stimmen wieder hörbar zu machen, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind – ein Erbe, das unser kulturelles Gedächtnis dringend braucht.»

Äneas Damian Humm, geb. 11. April 1995
stammt aus einer schweizerisch-ungarischen Künstlerfamilie mit jüdischen Wurzeln. Sein Urgrossvater Rudolf Jakob Humm war ein bekannter Schweizer Schriftsteller, sein Grossvater Ambrosius Humm wirkte als Bühnenbildner an verschiedenen Bühnen in Europa und wandte sich später der Malerei zu. Äneas’ Vater ist Keramiker und sein Onkel Schauspieler. Auch mütterlicherseits prägen künstlerische Einflüsse seine Familie: Sein Grossvater war Architekt in Budapest und gab Äneas ersten Violinunterricht. Ab seinem sechsten Lebensjahr war Äneas Mitglied der Zürcher Sängerknaben – vor dem Stimmbruch als Alt-Stimme. Er studierte an der Hochschule für Künste Bremen und vervollkommnete seine Ausbildung an der renommierten Juilliard School in New York.

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