Wädenswil

Agora – enand zur Hand: ein Gespräch über ­Gemeinschaft

Die Nachbarschaftshilfe in Wädenswil ist ein Verein geworden, mit einem Namen: Agora. Dahinter stehen engagierte Menschen, wie Emmanuelle Schaer und Susanne Meier, denen Gemeinschaft und Nachbarschaftshilfe ein Anliegen ist.

Text: Ingrid Eva Liedtke
Bilder: zvg

Die Agora war im antiken Griechenland der zentrale Fest-, Versammlungs- und Marktplatz einer Stadt. So versteht sich auch das Angebot der Nachbarschaftshilfe Wädenswil.
Agora ist entstanden aus waedistark.ch, der Plattform für Nachbarschaftshilfe, die 2020 während der Pandemie von einer Wädenswilerin ins Leben gerufen worden ist und dann an die Dienststelle Soziokultur übergeben wurde. Damals brachte man kranken oder gefährdeten Menschen Medikamente oder kaufte für sie ein. Nach den Lockerungen zeigte eine Umfrage, dass der Bedarf für eine Nachbarschaftshilfe weiterhin gross war. Deshalb lud die Dienststelle Soziokultur im Oktober 2021 Institutionen und die Bevölkerung zu einem Mitwirkungsanlass ein. Dabei bildete sich eine Projektgruppe aus Freiwilligen. Am 25. Januar 2023 wurde der Verein «Agora – enand zur Hand» – Nachbarschaftshilfe Wädenswil – gegründet.

Förderung und Koordination und das Projekt 1816

Der Zweck des Vereins Agora ist die Förderung und Koordination von bereits bestehenden Nachbarschaftshilfen oder ähnlichen Angeboten in der Stadt Wädenswil, sofern diese keine kommerziellen Zwecke verfolgen, sowie die Vernetzung von Ressourcen (im Sinne einer «sharing economy») und gemeinsamen Bedürfnissen. Er stellt eine Koordinationsstelle zur Vermittlung zwischen Einsätzen und Einsatzwilligen bereit.
In diesem Jahr plant der Verein Agora, sich vermehrt in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Vorstand ist sehr glücklich darüber, dass die Jury des «Projekts 1816» den Verein als unterstützenswert ausgewählt hat und er deshalb nun über die finanziellen Mittel verfügt.

Gemeinschaft ist für die Menschen essenziell

In einer Zeit, in der wirtschaftliches Wachstum weiterhin erste Priorität hat und menschliche Energie und Arbeitskraft immer weiter optimiert werden sollen, bleiben die menschlichen Bedürfnisse nach Gemeinschaft, Kontakt und Zugewandtheit nicht selten auf der Strecke. Emmanuelle Schaer und Susanne Meier engagieren sich beide im Vorstand von Agora und setzen sich dafür ein, den Glauben an die Gemeinschaft sowie das gemeinnützige Denken und Handeln zu stärken, weil dies für den Menschen essenziell ist.
Emmanuelle Schaer: «Ich glaube, es ist während Corona etwas in Gang gekommen. Da hat es sich gezeigt, wie wichtig es ist, wenn man einander hilft. Wir haben realisiert, wie sehr wir auf die Gemeinschaft angewiesen sind, wie sehr sie uns auch helfen und allenfalls auffangen und trösten kann.» In der Schweiz seien viele Menschen einsam und wüssten oft nicht, wo Hilfe zu holen sei.

Freiwillig helfen

Menschen, die noch etwas Zeit zu vergeben hätten und etwas für andere tun möchten, können sich bei Agora melden und ihre Talente einbringen, um andere zu unterstützen. «Man kann in verschiedenen Bereichen mitwirken», erklärt Schaer, «je nach dem, was man gut kann oder gerne machen möchte. Es gibt Möglichkeiten im Fahrdienst oder man kann für jemanden oder mit jemandem einkaufen gehen. Es stehen immer wieder Reparaturen in Haushalten an, oder jemand braucht Hilfe beim Umzug.»
Susanne Meier schaltet sich ein: «Vorläufig müssen wir noch bekannter werden, sodass sich das Angebot erweitert. Es dürfen sich gerne noch mehr Leute melden. Wer sich in unserem Verein engagiert, trägt etwas zur Gemeinschaft bei.»

Zusammen gegen die Einsamkeit

Es ist in der heutigen Zeit nicht mehr selbstverständlich, dass sich Menschen für andere einsetzen und ihre meist kurz bemessene, wertvolle Zeit dafür geben, anderen zu helfen. Wie kommt es, dass man sich gemeinnützig engagiert, möchte ich von den beiden engagierten Frauen wissen.
Emmanuelle Schaer sieht es als ihre Berufung. Darum ist sie Pflegefachfrau und Masseurin. «Ich glaube, eines meiner wichtigsten Anliegen im Leben ist, Menschen zu begegnen. Ich mag es, mich auszutauschen, lerne gerne neue Leute kennen – ich teile gerne. Auch in meinem Beruf bin ich ständig im Kontakt. Es gibt mir etwas, andere zu unterstützen und zu helfen. Durch meinen Job sehe ich aber auch immer wieder wie allein gewisse Menschen sind. In diesem Land ist alles da, es sollte uns gut gehen, aber trotzdem sind so viele einsam. Ich finde Konzepte, wodurch Menschen zusammen etwas bewirken, unterstützungswürdig.»
Susanne Meier: «Auch für mich steht die Begegnung mit Menschen im Zentrum, sowie Solidarität und gemeinsame Unterstützung. Als Deutschlehrerin hatte ich schon in meinem Berufsleben immer mit Menschen zu tun. Nach der Pensionierung habe ich mich dazu entschlossen mich diesbezüglich zu engagieren, ich bin auch bei Evergreen* aktiv mit dabei. Die vielen Begegnungen mit Menschen sind interessant und eine Bereicherung.»

Warum braucht es diesen Verein, möchte man sich fragen. Funktioniert unsere Gesellschaft als unterstützende Gemeinschaft nicht mehr?
Emmanuelle Schaer: «Manchmal funktioniert sie noch! Ich habe tatsächlich schon von Wohnblocks oder Quartieren gehört, wo die Nachbarschaftshilfe gelebt wird. Aber es gibt auch wirklich viele einsame Menschen. Vor allem ältere Menschen leben oft zurückgezogen, wissen nicht, wo Hilfe zu holen ist oder haben Hemmungen, in Kontakt zu treten und darum zu bitten. Allgemein kann man schon sagen, dass die Menschen oft sehr auf ihr eigenes Leben fokussiert sind. Man geht zur Arbeit, man kommt nach Hause, in seine Wohnung oder sein Haus, hat eventuell eine Familie, Freunde und kennt die nächsten Nachbarn kaum.»
Susanne Meier: «Bei vielen läuft im Leben extrem viel. Die meisten Leute, die ich kenne, haben immer sehr viel zu tun und wenig Platz und Kraft für ein zusätzliches Engagement.»
Emmanuelle Schaer: «Vielleicht hat es auch mit der Schweizer Kultur zu tun. Es könnte sein, dass wir eher reserviert sind. Man will vielleicht nicht stören und möglicherweise auch keine Schwäche zeigen.»
Susanne Meier: «Es könnte auch mit der Grösse einer Ortschaft zu tun haben. In einem Dorf, da kennt jeder jeden, da ist man sich näher und hilft vielleicht auch schneller. Wädenswil ist sehr gewachsen. Vielleicht ist es dadurch auch anonymer geworden. Ein Verein wie Agora bietet Gelegenheit, Leute kennenzulernen. Grundsätzlich ist die zusätzliche Zeit, die man aufbringt, davon abhängig, wie regelmässig man sich engagiert und wofür. Zum Beispiel ein einmaliger Umzug oder Hilfe beim Entsorgen ist vielleicht einfacher in den Zeitplan einzubauen, als jede Woche mit jemandem einkaufen zu gehen.»
Emmanuelle Schaer ergänzt: «Deswegen suchen wir noch mehr Mitglieder. Je mehr wir sind, desto mehr Bedürfnisse können wir mit den verschiedenen Angeboten der einzelnen Mitglieder abdecken und desto mehr können wir unsere Hilfe aufteilen
Emmanuelle Schaer: «Es ist mir wichtig zu ergänzen, dass der Verein nicht nur für Senioren gedacht ist. Wir helfen zum Beispiel auch jungen Müttern. Wenn zum Beispiel ein Kind krank ist und die Mutter nicht aus dem Haus kann, können wir für sie einkaufen gehen. Kinderbetreuung machen wir allerdings keine, weil das FrauenNetzwerk Wädenswil ausgebildete Babysitterinnen und -sitter vermittelt. Unser Verein ist für alle da, die Unterstützung suchen oder anderen helfen wollen.»

Wachsen und Erfahrungen sammeln

Wann sind Not und Bedürftigkeit am grössten? Diese Frage können die zwei noch nicht beantworten. Sie sagen, sie hätten noch zu wenig Erfahrungen, möchten aber diesen Punkt genauer beobachten.
Susanne Meier sagt: «Die Nachbarschaftshilfe funktioniert anders als ein Fussballclub, wo jeder weiss, wo das nächste Training oder der Match stattfindet. Wir arbeiten im stillen Bereich. Mit kontinuierlichem Wachstum werden wir mehr Erfahrungen haben, auf die wir zurückgreifen und aufbauen können. Dieses Wachstum findet statt. Immer wieder meldet sich jemand. Am Weihnachtsmarkt, zum Beispiel, haben sich einige Leute angemeldet. Wir haben kein Lokal, aber ein regelmässiges Austauschtreffen im Zwibol. Da kann jeder und jede kommen, ohne Anmeldung.»

Nächster Austauschtreff ist am 27. Februar, dann wieder am Frühlingsmarkt im März.

Beispiele für Nachbarschaftshilfe

Die Menschen und ihre Geschichten sind individuell. Es gebe auch Charaktere in herausfordernden Lebenssituationen, die nur schwerlich jemanden an sich heranliessen. Immer wieder treffe man auf Verhältnisse, die in irgendeiner Form Unterstützung bräuchten, manchmal nur in gewissen Bereichen. Agora versuche die Menschen da abzuholen, zu unterstützen, wo es nötig sei.

Susanne Meier: «Ich gehe wöchentlich mit einer älteren Frau einkaufen. Sie meldete sich, weil sie es nicht mehr alleine schaffte und ihr Mann sie auch nicht unterstützen konnte. Ich wurde angefragt, weil sie in meiner Nähe wohnt. Es hat sich ein guter Kontakt entwickelt. Sie freut sich immer sehr darauf, wenn ich mit ihr einkaufen gehe. Wir verstehen uns gut. Sie ist eine sehr herzliche Frau und die freundschaftliche Beziehung, die aus dieser Begegnung entstanden ist, ist für mich eine Bereicherung. Sie erzählt mir oft von ihrem Leben, was ich sehr spannend finde. Ich möchte diesen Kontakt wirklich nicht mehr missen.»
Emmanuelle Schaer erzählt von einem alten Mann, der in ihrer Nachbarschaft wohnt: «Wir haben ihm zu dritt in verschiedenen Bereichen geholfen. Ich habe für ihn eingekauft oder ihm Augentropfen gegeben. Währenddessen hat er sehr viel von seiner Vergangenheit erzählt. Das war, als ob die Vergangenheit wieder lebendig würde. Er hat sich auch für meine Kinder interessiert, die ich dann auch mal mitgenommen habe, worüber er sich sehr gefreut hat. Es gab mir ein gutes Gefühl, für jemanden etwas zu tun.
Ich habe dabei realisiert, dass es manchmal einfacher ist, Leuten zu helfen, die nicht die eigenen Eltern sind. Man hat keine gemeinsame Geschichte und Konflikte. Darum kann es sogar gut sein, wenn auch andere Menschen sich um die eigenen Eltern kümmern. Wenn jemand unbelastet, offen und neutral auf Menschen zugeht, nicht geprägt von Familienmustern, dann kann das einfacher sein und besser funktionieren. Davon können alle profitieren: die Person, die gibt, die, die bekommt und auch die Familien, die entlastet werden.»

Konfessionell neutral

Auf die Frage nach einem spirituellen Hintergrund meint Susanne Meier: «Der Verein ist politisch und konfessionell neutral. Es ist uns enorm wichtig, dass wir niemanden für irgendetwas einnehmen oder bekehren wollen. Alle sind willkommen. Wir wollen niemanden ausschliessen.
Zudem sind die Sicherheit, der persönliche Raum sowie das Vertrauen ein grosses Thema. Ich erachte es als elementar, dass dieses Vertrauen nicht ausgenutzt wird. Wir gehen zu den Leuten heim, treten in ihre Wohnungen, in ihren persönlichen Raum. Da ist Vorsicht, Rücksicht und Respekt geboten.»
Emmanuelle Schaer doppelt nach: «Das ist sehr intim. Darum treffen wir jede neue Person zuerst für ein Gespräch! Die Anbietenden und die Nachfragenden. Da gibt es auch immer viel zu erklären zum Ablauf. Zum Beispiel kann man auch jederzeit pausieren. Es sollte niemanden belasten. Die Hilfe soll eine Entlastung sein und gleichzeitig eine Freude, diese anzubieten und allenfalls eine Möglichkeit eine schöne Begegnung zu haben.»

Alle Menschen haben ihren Nächsten etwas zu bieten

Die Nachbarschaftshilfe Agora wurde in der Überzeugung gegründet, dass alle Menschen ihren Nächsten etwas zu bieten haben, hin und wieder aber auch selbst Bedürfnisse haben. Dahinter steht der Wunsch nach einer Gemeinschaft, in der man sich kennt und sich bei Bedarf gegenseitig beisteht.
Dazu braucht es noch mehr Menschen, die bei Agora mitmachen, Nachfragende und Anbietende und auch Menschen, die sich im Vorstand engagieren möchten. Um bei Agora mitzumachen, ist keine Vereinsmitgliedschaft erforderlich. Der Verein freut sich jedoch über neue Mitglieder. Für eine funktionierende Infrastruktur und eine gute und persönliche Dienstleistung ist finanzielle Unterstützung nötig – sei es durch Spenden oder eine Mitgliedschaft.

Weitere Informationen auf: https://agora-nbh.ch

* Evergreen Treff 60+ dient vor allem als Ort der Begegnung, des Austauschs, der Information und der Vernetzung zwischen und für die Altersgruppen 60 plus aus Wädenswil, Schönenberg, Hütten und aus der Au.

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