Richterswil

Bananen, Walfische, Klobürsten, Kinder – und ein ­begnadeter Geschichtenerzähler

Der Kinderbuchautor Ingo Siegner war am 4. November in der Gemeindebibliothek zu Gast. Vier Klassen kamen in den Genuss einer Lesung.

Text/Interview & Bilder: Reni Bircher

Gemütlich sassen die Fünftklässler aus den Schulhäusern Töss und Feld in der Richterswiler Bibliothek und lauschten den Worten des aus Hannover stammenden Schriftstellers Ingo Siegner. Zu verdanken ist dieser Gastauftritt der Bibliothekarin Michaela Elsässer, welche sich schon seit zwei Jahren um einen Auftritt des 59-Jährigen bemüht. «Er ist ein so toller Autor, und mir ist wichtig, dass jedes Kind in der Gemeinde einmal unsere Bibliothek besucht», erklärte Elsässer ihr Anliegen.
Bekannt ist Siegner vor allem wegen seiner von ihm erfundenen Figur «Der kleine Drache Kokos­nuss», die es auch als Serienheld auf den Bildschirm geschafft hat. Hauptsächlich veröffentlicht er Kinderliteratur, mit der Besonderheit, dass er seine Geschichten selbst illustriert. Dies demonstrierte er gleich vor Ort, indem er den Kindern davon erzählte, wie er überhaupt dazu gekommen ist, Kinderbücher zu verfassen, und vor Publikum zu Papier brachte, wie der Drache Kokosnuss aussah – beinahe hätte dieser Banane geheissen, was der Autor aber wieder verwarf.

Der Umgang mit seiner Zuhörerschaft fiel dem Schriftsteller leicht, er nahm beim Zeichnen deren Ideen auf, beantwortete Fragen, verriet, dass er schon an einer neuen Geschichte schreibt und dafür ungefähr sechs Wochen benötigt. Weitere sechs Wochen wird er für die Illustrationen des Bandes brauchen, damit es im Frühling 2025 den Weg in den Fachhandel und die Kinderhände findet.
Dass Ingo Siegner eine Kokosnuss-Geschichte erzählte, welche den Schülerinnen und Schülern schon bekannt war, störte diese nicht im Geringsten. Die Bilder auf der Leinwand und vor allem die Erzählfähigkeit mit der den Figuren angepasst verstellten Stimme des Schriftstellers machte die Lesestunde zu einem wunderbaren Ereignis – auch für die anwesenden Erwachsenen.
Zum Schluss wurden die Bücher, welche die Kinder mitgebracht hatten, selbstverständlich signiert und mit einer kleinen Zeichnung versehen.

Dem Richterswiler Anzeiger beantwortete der Autor einige Fragen:

Herr Siegner, Sie nehmen den weiten Weg von Hannover nach Richterswil auf sich, um hier in der Gemeindebibliothek für Schulklassen eine Lesung abzuhalten …
Richterswil passte geografisch gut im Anschluss an eine Lesereise durch Graubünden. (Nach den Lesungen in Richterswil bestieg der Schriftsteller den nächsten Zug nach Hannover, Anm. der Red.)

Ihre berufliche Laufbahn hat weder mit der Schriftstellerei noch mit Zeichnen oder Illustrieren angefangen. Muss man ein Idealist sein, um sich an eine solche Aufgabe heranzuwagen?

Ich habe mich in den Arbeitsverhältnissen, die ich zuvor eingegangen war, zwar immer wohl gefühlt, aber für mich waren es immer Durchgangsstationen, auch wenn ich nicht sagen konnte, wohin die Reise gehen sollte. Vielleicht gehört zur Schriftstellerei eine innere Unabhängigkeit, ein Sich-nicht-festlegen-Wollen.
Nachdem ich ein paar Semester lang Französische Literatur studiert hatte, wuchs mein Interesse daran, selbst zu schreiben. Dies verband sich allmählich mit meinen Erfahrungen mit Kindern: Schon als Jugendlicher habe ich Kindern gerne vorgelesen und selbst erfundene Geschichten erzählt, auch gezeichnet habe ich damals schon, und während meiner Zeit als Kinderbetreuer bei einem Reiseveranstalter haben sich das Geschichtenerzählen und das Zeichnen weiterentwickelt.

Figuren und Geschichten erdenken und erfinden – für Sie ein Einfaches?
Zu Beginn, als ich die ersten Geschichten für Kinder meiner Umgebung aufschrieb und illustrierte, fiel es mir nicht so leicht, aus sprudelnder Fantasie eine gute Geschichte zu machen. Heute, nach über zwanzig Jahren Schreiben und Illustrieren, geht es mir leichter von der Hand. Ideen und Fantasie sind unverändert da, aber auch mehr Erfahrung und das Wissen, worauf es (mir) ankommt: ein stimmiger, spannender Plot und eine ordentliche Portion Humor. Mittlerweile kenne ich auch meine Stärken besser (Dialoge), und meine Schwächen (Landschaften und Räume beschreiben).
Immer wichtiger ist mir übrigens die Recherche, wenn es um historische Themen geht, wie zum Beispiel bei «Der kleine Drache Kokosnuss bei den Römern». Da schaue ich schon, dass die Schilderungen korrekt sind und lasse die Texte von Wissenschaftlern gegenlesen.

Was ist Ihnen bei deren Entwicklung besonders wichtig? Was für Charaktere und Aussagen haben für Sie eine so grosse Bedeutung, dass Sie Einzug halten in «Ihre» Welten?
Die Figuren und Geschichten entstehen bei mir zunächst einmal aus dem Bauch heraus. Eine Figur oder ein Thema sprechen mich (und im besten Fall auch die Kinder) emotional an. Die Arbeit an der Geschichte orientiert sich, wie oben beschrieben, dann an Logik, Spannung und Humor. Die darin agierenden Figuren fügen sich in diesen Prozess ein, entwickeln auch mal ein «Eigenleben», aber dies entsteht nicht durch theoretische Überlegungen, sondern auf einer emotionalen Ebene. Zum Beispiel wenn der kleine Fressdrache ruft: «Hau ihm eins auf die Rübe!», dann ist mir dieser Ausruf zunächst spontan aus der Feder geflossen, weil ich ihn witzig fand. Zugleich ist der Ausruf ein Baustein unter mehreren, die allmählich den Charakter des «Kumpeltypen» Oskar formen.
Kurz gesagt: Meine Geschichten sollen gar keine Botschaften vermitteln. Es sind Abenteuergeschichten, die Kindern Freude bereiten können (Freude am Lesen!). Dass dabei auch Werte und Wissen vermittelt werden, ist doch eine schöne Sache.

Welche Rolle, glauben Sie, sollten (Kinder-)Bücher im Leben eines Menschen spielen?
In einer Gesellschaft, in der Schriftsprache in praktisch allen Lebensbereichen eine wichtige Rolle spielt, sollten Kinder möglichst früh an Bücher herangeführt werden, zunächst über das Vorlesen und später mit dem Selbstlesen.
Es ist unstrittig, dass das Lesen eine unserer wichtigsten Kulturtechniken ist, ohne die ein Zurechtkommen hier kaum noch möglich ist. Für praktisch alle Berufe musst Du heute lesen und schreiben können. Beim Vorlesen entstehen wichtige neuronale Strukturen im Gehirn des Kindes, es entwickeln sich Vorstellungsvermögen, Empathie und Fantasie. Die oder der Erwachsene kann während des Vorlesens die Stimmlage der emotionalen Situation des Kindes anpassen – hat das Kind z. B. Angst vor der Hexe, so muss die Hexe ja nicht so bedrohlich klingen. Und das Kind kann Rückfragen stellen, es kann zurückgeblättert werden. Diese für das Kind unerhört bereichernde Situation kann durch digitale Medien überhaupt nicht hergestellt werden.
Ähnlich verhält es sich beim Selberlesen: Jedes buchlesende Kind macht sich (abgesehen von den Illustrationen, die dem jungen Kind allerdings den Einstieg in das Lesen erleichtern) ein eigenes Bild von der Geschichte, die in dem Buch beschrieben ist: die Stimmen, die Geräusche, die Bewegungen. Das Kind macht sich eine ihm adäquate Vorstellung. Dies ist bei dem Konsum von digitalen Medien nicht möglich, denn hier herrscht die Vorstellungswelt der Produzenten. Deshalb sind Leserinnen und Leser von Buchverfilmungen oft enttäuscht, denn es dürfte ein grosser Zufall sein, wenn die Filmschaffenden genau die Vorstellungswelt der Lesenden auf die Leinwand gebracht haben.

Ist das Schreiben von (Kinder-)Büchern ein Beruf oder eine Berufung?
«Berufen» fühle ich mich nicht. Für mich ist das Schreiben und Illustrieren von Kinderbüchern aber ein Beruf, der gut zu mir passt. Ich habe für diese Erkenntnis zwar zwei Jahrzehnte gebraucht, aber vielleicht war diese Zeit auch nötig. Den Schulkindern sage ich immer, sie können und sollen sich die Zeit nehmen herauszufinden, welche Arbeit ihnen liegt. Sie sollten ihre Arbeit mögen, sich aber auch dafür eignen. (Falls Du Dein Hobby zum Beruf machen kannst, tu es!)

Sie illustrieren Ihre Kinderbücher noch immer selbst. Weshalb?
Am Anfang wollte ich meine Geschichten gar nicht selbst illustrieren, doch der Verleger bat mich darum. Die Skizzen, die ich meinen Geschichten beigelegt hatte, gefielen ihm offenbar. Ich fürchtete, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein, und strengte mich sehr an, einigermassen akzeptable Illustrationen zustande zu bringen … Na ja, es reichte offenbar aus, ich lernte mit jedem Buch dazu und lerne heute noch.
Das Texten liegt mir mehr, während das Illustrieren für mich lange eher die Pflicht war, mehr Handwerk als Kunst. Im Laufe der Zeit aber habe ich die Möglichkeiten des Illustrierens mehr und mehr schätzen gelernt. So illustriere ich nach wie vor fast alle meine Bücher selbst. Daneben gibt es mittlerweile Bilderbücher, Sachbücher und andere Ausgaben, die von einem weiteren Illustrator bebildert werden.

Sie investieren viel Zeit in Lesungen vor Publikum; was versprechen Sie sich von diesem Einsatz?
Zu Beginn waren für mich die Lesungen wichtig, um finanziell über die Runden zu kommen, denn ich hatte mich recht schnell selbstständig gemacht, und die Lesungen werden ja honoriert. Als irgendwann die Auflagenhöhen für den Lebensunterhalt ausreichten, waren die Lesereisen schon ein fester und nicht mehr wegzudenkender Bestandteil meiner Arbeit.
Heute muss ich sagen: ein Glück! Denn ich lerne auf den Lesereisen nicht nur viele Menschen und Orte kennen, sondern habe auch eine Menge Spass mit den Kindern (und die Kinder mit mir). Zudem bringe ich Kindern das Lesen näher und kann ihnen vielleicht hier und da Wissenswertes mit auf den Weg geben.

Welche «Genugtuung» gibt Ihnen der Kontakt mit Ihrer Leserschaft?
Es ist toll, wenn die Kinder von einer Geschichte gefesselt sind, mitgehen und sich kringelig lachen. Das ist schon eine Freude.

Gab es einen besonderen Moment im Laufe Ihrer Karriere als Autor?
Einmal wollte ein Junge nach einer Lesung gerne ein Buch für sich haben. Seine Lehrerin beschloss, das Buch für ihn zu kaufen, denn zuhause, sagte sie, würde er sicher keines bekommen.

Vielen Dank für den Einblick in Ihr Schaffen.

www.bibliothek-richterswil.ch
www.ingosiegner.de

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