Wädenswil

Podiumsgespräch: Bildungswesen Schweiz – quo vadis?

Am 18. Juni führte die FDP Wädenswil ein Podiumsgespräch zu einem in letzter Zeit heiss diskutieren Thema durch. Vertreter aus Schulen, Politik und Bildung diskutierten über das Bildungswesen Schweiz.

Text & Bild: Ingrid Eva Liedtke

Es war ein ausnahmsweise sommerlicher Schönwetterabend und Fussball-Europameisterschaft. Vielleicht blieb das grosse Publikum deshalb aus.
Im Vorfeld zu dieser Gesprächsrunde gab es schon einige Polemik, einerseits wegen eines Artikels in der Regionalpresse, in dem behauptet wurde, die Oberstufenschule Wädenswil schaffe die Schulnoten ab, und andererseits wegen Thierry Burkarts (Präsident FDP Schweiz) Ansicht, die integrative Schule habe versagt und sei abzuschaffen.
In der Runde sassen Verena Dressler, Präsidentin der Oberstufenschule und ehemalige Gemeindepräsidentin von Hütten, Pierre Rappazzo, Stadtrat Primarschule, Astrid Furrer, Stadt- und Kantonsrätin, Alain Pichard, Bildungsexperte und Roman Hermann, Gemeinderat und Moderator dieses Gesprächs. Die diskutierten Themen drehten sich um die Benotung und um die Frage, ob die integrative Schulform gescheitert ist und gar abgeschafft gehört.

Was hat sich in den letzten 50 Jahren verändert?

Zu Eingang der Diskussion machte man sich Gedanken um die Entwicklung der letzten 50 Jahre.
Verena Dressler sieht die Schule als Spiegel der Gesellschaft und erinnert sich, dass es zu ihrer Zeit als Schülerin nur einen Ausländer in der Klasse gab. «Nun unterrichten wir Jugendliche aus 30 Nationen. Die Gesellschaft hat sich verändert. Viele der daraus entstandenen Probleme soll nun die Schule lösen.»
Alain Pichard zeichnet folgendes Bild: «Die Schule ist heute humanisiert, sie ist gewaltfreier. Als ich zur Schule ging, haben wir uns die ganze Zeit geprügelt, und wenn wir nach Hause kamen, haben die Eltern geprügelt. 8% konnten nicht richtig lesen und schreiben, heute sind es 25%.»
Auch Pierre Rappazzo spricht von den Gewaltausbrüchen eines Lehrers: «Ja, gewaltfreier ist es heute tatsächlich. Ich musste manchmal einem Schlüsselbund ausweichen, der geflogen kam, das ist heute nicht mehr denkbar.» Astrid Furrer: «Damals wussten wir, wenn wir Mist gebaut hatten oder schlechte Noten nach Hause brachten, gab es von den Eltern aufs Dach. Heute rufen die Eltern die Lehrerinnen und Lehrer an.»

Lehrerin, Lehrer sein – ein «Schoggijob»?

Schnell kommt die Frage auf, ob Lehrerinnen und Lehrer wirklich so überlastet seien, wie man oft hört oder ob diese nicht im Gegenteil einen «Schoggijob» hätten.
Verena Dressler ist sich sicher, dass dieses alte Klischee vom «Schoggijob» mit vielen Ferien nicht stimmt. Lehrerinnen und Lehrer müssten eher schauen, dass sie nicht ausbrennen.
Alain Pichard will festgehalten haben, dass nur ein Drittel der Lehrpersonen 80% arbeite, viele gar nur 40%. So habe ein Kind meistens mehrere Klassenpersonen. Das sei für die Lehrerinnen und Lehrer ideal, die eine Familie haben wollten, aber für die Schule sei es nicht gut. Es gebe Klassen, die acht Lehrerpersonen hätten, was für die Bindungsqualität nicht förderlich sei.
Pierre Rappazzo spricht vom erfüllenden Lehrerberuf und dem Berufsethos der Lehrerinnen und Lehrer, welches dazu führen könne, dass man ausbrenne. «Es kann vorkommen, dass nur ein Kind in der Klasse schwierig ist und das Gleichgewicht innerhalb kurzer Zeit zum Kippen bringen kann.»

Themen wie Lohn und Karrieremöglichkeiten werden angesprochen, wie weit der Aufgabenbereich von Lehrpersonen reiche und die Frage wird gestellt, wo Eltern vermehrt in die Pflicht genommen werden können und sollten.
Lehrerinnen und Lehrer seien Führungspersonen, so Rappazzo. Verena Dressler argumentiert, dass es sich gezeigt habe, dass Lehrerinnen und Lehrer wichtige Bezugspersonen seien.

Integrative Schulung und Noten

Schnell findet die Diskussionsrunde, angeleitet von Moderator Roman Hermann, zu den Hauptthemen, der integrativen Schulung und den Noten, statt.
Das integrative Schulmodell, wo Kinder mit besonderen Bedürfnissen in Regelklassen integriert werden, habe Nachteile gezeigt. Darum gebe es Bestrebungen, partiell davon abzurücken.
Astrid Furrer dazu: «Man will die integrative Schule nicht abschaffen. Es geht vor allem um sozial auffällige Kinder, die die ganze Klasse stören, die das System sprengen. Diese sollte man in ein Timeout schicken können, da der Koordinationsbedarf sonst sehr hoch wird.»
Heute müsste man solche «Problemkinder» in Sonderschulen platzieren. Diese hätten aber keine Aufnahmepflicht. «So ist diesen Kindern nicht geholfen. Timeouts sollten institutionalisiert werden», findet Furrer.
Alain Pichard kommt aus Biel, einer Stadt, die ihre Sonderklassen behalten, nicht abgeschafft habe. Trotzdem sei es nicht mehr so wie früher, als bis zu zehn Schüler in Kleinklassen abgestellt wurden. Das wolle man nicht mehr. Aber einige, Kinder, die nicht lesen und schreiben könnten, die es auch gebe, müssten zuerst alphabetisiert werden. Ebenso sollten Kinder, die sehr gut sind und sich langweiligen, abgeholt werden. Alle Kinder zusammenzutun, generiere, so Pichards Ansicht, einen riesigen Aufwand.

Lösungen und Reintegration

Die Oberstufenschule Wädenswil scheint sich gut organisiert zu haben. «Bei uns an der OSW sind wir mit unseren Lernlandschaften sehr gut unterwegs. Wir orientieren uns am Stand jedes einzelnen Schülers. Für Schülerinnen und Schüler, die dem Unterricht nicht erfolgreich folgen können, gibt es das ‹stop&go›. Wenn es über eine längere Zeit zu Schwierigkeiten unterschiedlicher Art kommt, wie zum Beispiel einem Absinken der Leistungen, fehlender Motivation, Störungen im Unterricht, Verschlechterung des Selbstvertrauens und des Wohlbefindens, dann haben wir die Möglichkeit für kurze und längere Auszeiten in verschiedenen Konstellationen geschaffen.»
Dieses Unterstützungsangebot kann von einzelnen Lektionen bis zu mehreren Wochen dauern und wird durch eine Fachperson betreut. Die Aufgabe der Fachperson umfasst dabei die kurz- bis mittelfristige Betreuung, Begleitung und Beschulung der Jugendlichen im Gruppen- und/oder im Einzelsetting. Zudem werden allfällige weitere Unterstützungsmassnahmen vorgeschlagen, besprochen und initiiert.
Weil dieses System laut Dressler sehr gut funktioniert, fragt sie sich, woher der Ruf nach Kleinklassen kommt und wer denn überhaupt in diese Klassen gehen soll. Schliesslich gehe es doch immer um Reintegration.

Es sind Lösungen vorhanden

Hört man Verena Dressler zu, dann sind Lösungen vorhanden und würden so auch funktionieren. Sie sagt: «Wir werden aus der ganzen Schweiz besucht, um unser System anzuschauen. Eben wurden wir von der Fachstelle für Schulentwicklung evaluiert. Die Zufriedenheit bei den Eltern ist gross – es läuft also gut. Den Evaluationsbericht stellen wir online!»
Eigentlich wäre dies auch eine Antwort auf Astrid Furrers Forderung nach Kleinklassen: «Wir müssen offen und flexibel bleiben, um für Schüler, die nicht nachkommen, Angebote bereitstellen zu können.»

Wie ist es an der Primarschule?

Pierre Rapazzo: «Wir haben hier, was die Lehrerinnen und Lehrer betrifft, die beste Fluktuationsrate im Kanton. Es ist wichtig, über diese Themen und Herausforderungen zu sprechen. Wir haben jetzt schon Räume für Sondersettings. Laut Unesco-Charta muss Integration umgesetzt werden. Jedes Kind sollte in einer geordneten, geschützten Umgebung lernen können. Dafür braucht es flexible Lösungen. Bei uns werden die Kinder schon heute individuell betreut.»

Integration muss umgesetzt werden. Aber wie?

Es will scheinen, als sei das Thema «Integration» nicht allen Teilnehmern dieser Runde wichtig. Vielleicht ist man sich aber einfach nicht einig, wie sie zu bewerkstelligen sei.

Astrid Furrer ist der Meinung, dass dem Kanton Zürich angesichts der sich immer wieder verschiebenden Bedürfnisse eine Bedarfsplanung und flexibles Denken fehle. Pichard folgert: «Schlussendlich sollten die Kinder, wenn sie die Schule verlassen, etwas können. Es ist erwiesen, dass es da momentan gewisse Probleme gibt.» Es sei zu bedenken, dass Schüler keine Studenten seien und nicht bei allen Selbstmotivation vorausgesetzt werden könne. Es müsse daher Kontrollinstanzen geben.» Er fragt, wie wichtig das humanistische Ideal wirklich sei. Auch die Guten müssten gefördert werden.

Die Noten für die Guten

Dass gute Schüler gefördert werden, ist ganz klar auch Furrers Anliegen. In diesem Zusammenhang fällt auch ihr Votum für Noten. Die Guten möchten sich gerne messen, wollten wissen, wo sie stehen, so Furrer. Verena Dressler kontert: «Ich behaupte, dass wir das schon tun. Auch für die Hochbegabten stellen wir Sonderaufgaben bereit.»

Das ist dann auch der Moment, um das neue Bewertungssystem der OSW vorzustellen. Diese hat nämlich nicht, wie von Markus Somm in seinem «Nebelspalter» dargestellt und von der «Zürichsee-Zeitung kolportiert, die Noten abgeschafft! Das nochmals festzuhalten, ist Verena Dressler sehr wichtig. «Wir machen viel Schulentwicklung», sagt sie. «Dabei wurde festgestellt, dass sich der Notenvergleich negativ auf die Jugendlichen auswirkt. Wir arbeiten nun neu mit Zielnoten, halten uns also weiterhin an die Vorgaben des Kantons. Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten mit der Lehrperson (dabei werden auch die Eltern einbezogen) eine Zielnote. Es gibt dann nicht für jede Prüfung eine Note, sondern Farben für die Bereiche ‹getroffen›, ‹übertroffen› oder ‹untertroffen›. Die Farben sind eine grosse Chance, um gewisse Bewertungen, auch unter den Schülerinnen und Schülern, zu umgehen. Ich bin überzeugt, dass das sehr gut funktionieren wird. Die Eltern sind alle informiert, und es gab bisher keine Gegenstimmen.»

Es wird argumentiert und kritisiert

Es wird weiter argumentiert und kritisiert. Von Lücken bei den Basiskompetenzen, über die Frage, ob der Lehrplan 21 sich als Rahmen bewähre, über Diktate und Aufsätze, die nicht mehr geschrieben werden müssen und daraus resultierend mangelnde Deutschkenntnisse, allgemein mangelnde Grundlagen aufgrund der Fokussierung auf persönliche Kompetenzen, ob Frühfranzösisch oder Frühenglisch sinnvoll sind bis zur Frage, was im Znünitäschli nicht mehr sein darf, kommt alles auf den Tisch.
Eine Schulleiterin und eine Lehrerin melden sich empört zu Wort und vertreten die Arbeitsweise der Wädenswiler Schulen und auch die positiven Effekte der Integration auf alle.
Vielleicht ist das Bildungssystem eine Variable, die immer wieder diskutiert und angepasst werden muss. Möglicherweise geht es darum, das bestehende System weiter zu verbessern und nicht darum, es abzuschaffen.
Das Beispiel OSW und auch die PSW scheinen ein paar gute, gangbare Lösungen zu kennen. Man könnte sich inspirieren lassen.

Was ist uns als Gesellschaft wichtig?

Über all diesen Themen steht schliesslich eine philosophische Frage: Welche Menschen werden in unserem Bildungssystem ausgebildet? Was ist unser gesellschaftliches Anliegen?
Brauchen wir vor allem Leistungsträger für unsere Leistungsgesellschaft, oder in erster Linie gute Menschen, um eine Gemeinschaft zu bilden, die allen gerecht wird?

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