Wädenswil

Hundebesuch im Kinderheim

Monika Bodmer hatte eine schwere Kindheit. Sie hat Missbrauch erlebt und schon früh ihre Mutter verloren. Bei Tieren, im Speziellen bei Hunden, fand sie lange den einzigen Trost, und daraus ist eine Kraft entstanden, die sie nun anderen Menschen in speziellen Verhältnissen weitergeben möchte. Dazu hat sie den Verein ABRI gegründet.

Text: Ingrid Eva Liedtke
Bilder: ABRI & Ingrid Eva Liedtke

Am Mittwochnachmittag, dem 19. Juni, besuchen die Hundeführerinnen und -führer vom Verein ABRI ein Kinderheim in Wädenswil. Monika Bodmer lässt ihre Leute Aufstellung nehmen mit ihren noch angeleinten Hunden. Darunter sind einige grosse, imposante Hunde, wie ein Golden Retriever und einige Malinois, aber auch kleine Hunde, wie drei Parson Terrier und zwei Zwergspitze. Für die Kinder des Kinderheims, die an diesem heissen Sommernachmittag unter einem Zelt im Schatten stehen, gibt es zuerst eine kleine Demonstration davon, was die Hunde alles können. Da wird nicht gekläfft, nicht ausgeschert, nicht weggerannt, obwohl alle Hunde abgeleint sind. Sie umkreisen ihre Menschen, springen über Latten, kriechen durch Rohre, rennen auf Menschen zu und verbeissen sich in Kissen – alles auf Kommando, nein, auf Bitten ihrer Führerinnen und Führer. Es fällt kein lautes Wort. Niemand schreit seinen Hund an, denn das sei gar nicht nötig, solange man eine gute Bindung zu seinem Tier habe, erklärt Monika Bodmer. «Wir arbeiten mit Herz und Konsequenz», erläutert sie.
Die Kinder staunen. Und dann dürfen sie sich einen Hund auswählen. Sie übernehmen das wieder angeleinte Tier und gehen mit ihm umher, dürfen, in Begleitung der Hundeführerinnen und -führer, den Hund über die Hürde springen lassen, verschiedene Kommandos ausprobieren, einfach mit dem Tier sein. Ein kleiner Junge, zirka 7 Jahre alt, schnappt sich einen grossen Schäferhund. Im Eifer stolpert der Kleine beinahe über seine Füsse und scheint dann doch ein wenig über den eigenen Mut erschrocken. Aber da ist auch schon die Hundehalterin zur Stelle und zeigt dem Jungen, mit welchen Worten der Hund an seine Seite gerufen werden kann. «Au pied» hat das «Fuss!» ersetzt. Das töne schöner, weniger hart.
Wer einen kleinen Hund bevorzugt, rennt nun mit einem flinken, kleinen Terrier oder Zwergspitz über die Wiese. Alle Kinder sind mit Feuereifer dabei. Und die Hunde auch. Es scheint, als ob sie wüssten, was von ihnen hier erwartet wird, und dass es genauso ihr Anliegen, wie das ihrer Menschen ist, diesen Kindern Freude zu schenken.
«Was muss ich jetzt tun, damit er nicht davonläuft? Was soll ich sagen, damit er wieder zu mir kommt?» Die Gesichter sind konzentriert. Und man kann sich denken, was dieser Kontakt in diesen kleinen, beziehungsweise jungen Menschen bewirken kann.
«Der Malinois ist gut für Kinder, die sich gerne bewegen. Der grosse Hund verleiht ihnen ein Gefühl von Stärke», sagt Monika Bodmer. «Ich kann diese Kinder gut fühlen und sie liegen mir sehr am Herzen. Ich kann ihre Fragen verstehen und das, was dahinter ist. Ich spüre auch ihre Abwehr. Darum kann ich ihnen sagen oder zu spüren geben: Ich verstehe dich.»
Es ist wohl so, dass man das Kind, das man einmal war, immer bei sich trägt. Bodmer weiss, wovon sie spricht. Ihr Blick ist offen, ehrlich. Sie hat ihren Weg gefunden, weil sie nichts beschönigt und auch mit sich selbst brutal ehrlich ist. Das ist der einzige Weg, so ihre Auffassung, um einen guten Umgang mit anderen Wesen, seien es Menschen oder Tiere, zu finden.

Bodmers Lebensgeschichte

Monika Bodmer, 48, hat in ihrer Kindheit sexuellen und emotionalen Missbrauch erlebt und den frühen Verlust ihrer Mutter, die ihr durch eine Drittperson genommen wurde, wie sie es ausdrückt.
«Meine Mutter hat mich mit 15 Jahren bekommen, und schon mit 25 ist sie aus dem Leben gerissen worden. Ein Teil von mir ist damals gestorben», sagt Bodmer und man spürt die Fassung, die sie noch immer aufbringen muss, um sich zusammenzuhalten.
Es folgte eine Schockstarre, Stillstand, Sprachverlust. «Wir kamen zu den Grosseltern väterlicherseits.»
Die Kindheit ist geprägt von unsicheren Bindungen, schon ihre ersten drei Jahre wächst Monika Bodmer nicht bei ihren Eltern, sondern bei den Eltern ihrer Mutter auf. «Meine Eltern waren in Genf und wollten das grosse Geld im Pornogeschäft machen. Sie waren mit mir überfordert, haben mich vernachlässigt und geschlagen.» Als ihre Mutter stirbt, ist sie 9 Jahre alt, aber sie weiss heute nicht mehr genau, wann dieses Unglück passiert ist. War es Sommer? Oder vielleicht Herbst? «Ich habe kein richtiges Zeitgefühl dafür.»

Sexueller und emotionaler Missbrauch

Die nächsten fünf Jahre wird Monika Bodmer von ihrem Grossvater missbraucht. Er hat sich sexuell an ihr vergangen, sie bedroht und abgewertet und sie mit ihrer einzigen Freude und Trost, den Tieren, erpresst.
«Es gab glücklicherweise immer Hunde und Pferde. Sie waren meine Rettung, meine Zuflucht, obwohl er mich damit immer wieder erpresst hatte. Ich hasste alle Menschen. Mein Vertrauen in sie war zerstört. Es hat mir aus der näheren Umgebung auch nie jemand geholfen, obwohl man im Dorf wusste, was für einer mein Grossvater war. Man fürchtete ihn, und darum haben alle geschwiegen.»
Monika Bodmer flüchtet sich immer wieder zu den Tieren, schläft in Hunde- oder Pferdeboxen. «Das war die Welt, in der ich noch atmen konnte – und schlafen.»
Sonst muss sie sich verstellen, sich irgendwie anpassen, ist immer auf der Hut, um zu überleben. Sie hat zeitweise Lähmungen, Atembeschwerden. Man geht mit ihr zum Arzt. Es sei wegen des Traumas, des Todes der Mutter. «Ein wirklich guter Deckmantel», meint Monika Bodmer bitter.

Weg! Abwehr!

«Mit 15 bin ich dann abgehauen, regelrecht geflüchtet. Er hat sogar noch auf mich geschossen», sagt sie. «Der Dorfkönig, vor dem alle Angst hatten.»
Schmerz, Scham, Angst, Einsamkeit, Verzweiflung: wie überlebt man das?
«Ich dachte, so kann das Leben nicht sein. Das war ein Wissen in mir, wie ein Licht. Ich bin diesem Licht gefolgt. Es hat mich zu verschiedenen Ausgängen geführt. Einer führte weg von einem Schienenstrang. Die Hoffnung war stärker.»
Viele Stationen folgen, sieben verschiedene Pflegefamilien.
«Einmal habe ich bei einer Prostituierten gewohnt. Eine Pflegemutter freute sich sehr darauf, mit den Beiträgen, die sie für mich bekomme, ein neues Auto kaufen zu können. Alles Essen wurde abgewogen, alles nur wegen des Geldes. Durch all das Erlebte hat man eine extreme Geschichte und ist dann nicht mehr ein liebes anschmiegsames Kind, sondern voller Abwehr und stösst alle zurück. Die meisten konnten nicht damit umgehen.»

Lichtblicke

Doch es gibt Lichtblicke! Sie sind möglich, das weiss niemand besser als Monika Bodmer. Sie und ihr Verein ABRI wollen solche durch ihre Einsätze mit den Hunden schenken. «Heilen können wir nicht, aber ein schönes Gefühl vermitteln, eine gute Erinnerung schaffen. Diese kann Kraft geben, darin können die Kinder eintauchen in schweren Momenten. Es wäre gut, sie könnten diese immer wieder abrufen. Das war bei mir auch so», erinnert sich Monika Bodmer.

Neue Erfahrungen

Monika Bodmer macht schliesslich eine Lehre als Tierpflegerin. Endlich ist sie unabhängig, kann in einem eigenen Studio wohnen. Die Nähe zu Hunden sucht sie weiterhin und macht dabei eine entscheidende Erfahrung. Als sie wieder einmal zu einem sehr lieben Hund in die Box kriecht, knurrt dieser sie an. «Da wurde mir bewusst, dass ich die Tiere missbrauche, sie ausnutze, um meine Defizite zu kompensieren. Dieser Hund hat mir angezeigt, dass es ihm zu viel ist.»
Der jungen Frau wird klar, dass sie sich wieder den Menschen zuwenden muss und dass sie Tiere mit Herz und Respekt begegnen sollte, was bedeutet, einen Hund so zu behandeln, wie es seinen Bedürfnissen entspricht. «Das war ein grosser Moment!», sagt sie.
Mit Sorgfalt und Bedacht wählt sie nun die Menschen aus, die sie umgeben sollen. Mit ihrem Partner ist sie immer noch zusammen. Sie haben zwei Mädchen, 13 und 15.
«Sie sind so stark, schön und selbstbewusst geworden», sagt die stolze Mutter mit leuchtenden Augen. «Bei der Geburt der Kinder ist mir diese grosse Liebe begegnet, und mir ist intensiv klar geworden, welche Verantwortung ich trage, wieviel Einfluss ich auf mein Kind habe. Natürlich sagte man mir, ich könne das nie.»
Doch bisher hat alles gut geklappt. Nach ihrer Ausbildung zur Tierpflegerin und verschiedenen Jobs hat Monika Bodmer eine Hundeschule eröffnet und bietet Kurse für Familien-, Sport-, Polizei- und Therapiehunde an.
Sie hat ihren eigenen Weg in der Hundewelt gefunden. Ihre Mädchen sind begeistert mit dabei.

Arbeit an sich und mit Hund

Während der Arbeit mit den Hunden und auch wegen ihrer Kinder, wurde ihr bewusst, dass es darum geht, das Wesen des Anderen zu verstehen.
Sie sagt: «Es geht darum zu verstehen, was der Hund (oder das Kind) von mir braucht, damit eine gute Bindung entstehen kann. Ich beobachte die Hunde, sehe Ferienhunde oder Findlingshunde, ich mache Hundesport. Der Hund will arbeiten und will geführt werden, konsequent und liebevoll. Das ist nicht schwierig, wenn man bereit ist, sich selbst ehrlich zu betrachten. Das Wichtigste ist, dass man es immer mit Herz tut! Die Hunde zeigen viel an. Leider ist der Mensch oft nicht bereit, in den Spiegel zu schauen.
In meiner Schule sprechen wir ehrlich miteinander, auch um zu schauen, was möglich ist.»
Es scheint gerade so, als ob mit dem richtigen Hundetraining vieles überwunden werden kann, vielleicht sogar ein Trauma! An und mit Tieren kann man immer lernen.

Die Nähe von Tieren tut den Menschen gut

Die Nähe von Tieren tut den Menschen sicher gut. Darum führen die Hundeführer von ABRI achtmal im Jahr Anlässe in Kinderheimen durch.
Der Verein ABRI wurde von Monika Bodmer dafür gegründet. Nomen est Omen – Abri heisst französisch Unterschlupf und Bodmers erster Malinois-Rüde hiess so.

Regelmässig besuchen sie Kinderheime, die Kinderklinik, das Lighthouse, Alters- und Pflegeheime und machen Besuche, dort, wo es sie braucht, zum Beispiel bei einem kranken Kind, das zuhause im Sterben liegt. Diese Herzensarbeit erfolgt von allen Hundeführerinnen und -führern, die im Einsatz sind, immer ehrenamtlich.
«Ich habe den Wunsch die Liebe, die ich durch meine Kinder und Hunde erfahren durfte, zurückzugeben. Ich möchte für die Kinder, die Menschen, eine Erinnerung schaffen, die ihnen Kraft und Freude gibt.»

Der Verein ABRI ist auf Spenden angewiesen. Weitere Informationen auf https://verein-abri.ch/spenden-und-gluecksmomente

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