Die Abstimmungen liegen hinter uns, beide Gesundheits-Initiativen wurden abgelehnt. Gegner der Initiativen gehen unter anderem davon aus, dass das Stimmvolk Angst vor einem Leistungsabbau hatte. Jetzt liegt der Ball wieder beim Bundesrat. Wie soll die Kostenexplosion endlich gestoppt werden?
Text/Interview: Reni Bircher
Bild: Stefan Baumgartner
Die Schweizer Bevölkerung trägt über 50 Prozent der Gesundheitskosten selbst und belegt damit überragend Platz 1 aller Industrieländer. Selbstverständlich wünschen wir uns kein System wie in anderen Ländern, wo OP-Termine immer wieder verschoben, Arztbesuche oder MRI-Untersuchungen erst in mehreren Wochen oder Monaten möglich sind. Die jährlich ansteigenden Kosten überfordern allerdings immer mehr das Budget von Mittelschicht und Wenigverdienenden. So kamen die Prämien-Entlastungs- und die Kostenbremse-Initiativen am 9. Juni aufs Parkett. Und wurden von der Bevölkerung bachab geschickt! Trotzdem – oder gerade darum – muss hinterfragt werden, ob unser Gesundheitswesen hält, was ihm nachgesagt wird, und wie den berechtigten Ansprüchen der Patienten und einer bezahlbaren Versorgung Rechnung getragen werden können.
Darüber sprachen wir mit Dr. Andreas Wüest*, Facharzt für Rheumatologie in Wädenswil. Nach über 50 Jahren Medizin und über 30 Jahren Erfahrungen in der Standespolitik erlaubt er sich, die bisherigen und vorgesehenen Massnahmen zur Kostensenkung im Gesundheitswesen anzuzweifeln.
Herr Wüest, bereits im Vorfeld haben Sie sich bei Diskussionen wie der SRF-Arena daran gestört, dass den Gesprächspartnern das Hintergrundwissen über die Ursachen der Teuerung im Gesundheitswesen gefehlt hat – oder sie diese einfach verschweigen wollten. Ist das bewusste Augenwischerei?
Beide Initiativen gingen an der Ursachenbekämpfung vorbei. Die Initiativtexte waren zwar gefährlich einleuchtend und logisch, aber die Folgen bei einer Annahme wäre bei der einen Initiative kostspielig gewesen, die andere hätte ungewollt die Vernichtung des Hausarztsystems bedeutet, weil sie ungezielt war und kostengünstigen Strukturen wie dem Hausarztsystem geschadet hätte. Die Ursache wird verschwiegen.
Ich denke nicht, dass es von Seiten der Politikerinnen und Politiker Augenwischerei ist. Es fehlt an der Professionalität. Dazu gehört, dass man sich als Nicht-Fachperson bei den Profis orientieren sollte, also bei den Leuten, welche an der Front kämpfen. Die neue Nationalrätin Bettina Balmer (am Kinderspital Zürich als Chirurgin und im Notfall tätig), hat mir berichtet, dass sie erschrocken sei über das fehlende Fachwissen der Parlamentarierinnen und Parlamentarier bezüglich Gesundheitswesen.
Wir müssen uns fragen, ob wir uns bei den Bundesräten dieses fehlende Hintergrundwissen noch leisten können. Im Geschäftsleben würde man sich das nie erlauben, einen Geschäftsführer mit fehlendem Fachwissen einzusetzen.
Auch Nationalrätin Regine Sauter war der Meinung, dass die Annahme der Initiativen nur eine Symptombekämpfung gewesen wäre und nichts an den eigentlichen Problemen geändert hätte. Wo aber liegen die Probleme?
Wir betreiben zwar gute Spitzenmedizin in einzelnen Bereichen, aber das genügt nicht, um Kosten einzusparen. Was nützt eine Armee mit bester Ausrüstung, wenn die Soldaten nur in der Theorie ausgebildet sind und die Infanterie (Hausärzte und Spezialärzte mit hausärztlicher Tätigkeit) zu wenig Soldaten hat?
Wir müssen endlich den Mut haben, unser Gesundheitswesen und insbesondere die Ausbildung und die Organisation in Frage zu stellen und uns nicht scheuen, dessen hochgelobte Qualität zu durchleuchten.
Das fängt schon beim Numerus clausus an, mit dem wir sehr fähige Kandidatinnen und Kandidaten aus der Schweiz vom Studium abhalten. Hinzu kommt, dass 80% der Studierenden Frauen sind, welche später häufig nicht 100% tätig sein möchten, also braucht es mehr Studienplätze.
Des Weiteren ist das Studium zu wissenschaftlich und zu wenig auf die Praxis ausgerichtet.
Nach dem Studium sollten die «Rekruten» als Assistenzärzte in den Spitälern zu Fachspezialisten (übrigens ist ein Hausarzt auch ein Facharzt) ausgebildet werden.
Leider fehlt dazu die Zeit, weil der Bürokram mit Statistiken und Belegen viel wichtiger ist als die Patienten und die Ausbildung der Ärzte. Sie werden als Schreiberlinge missbraucht, und es fehlt ihnen an praktischem Wissen und Erfahrung. Wie sollen dies Leute im ambulanten Notfall adäquat und speditiv arbeiten? Da beginnen bereits die ersten Verluste der Spitäler.
Dann schaffen Fallpauschalen völlig falsche Anreize; je mehr Diagnosen, desto höher der Preis. Deutschland schaffte diese Fallpauschalen deswegen wieder ab. Die Aneinanderhäufung von Nebendiagnosen ist personal- und ressourcenaufwendig und lenkt von den Hauptdiagnosen ab. Die Spitäler stellen sogar Arztpersonal ein, um den Diagnosekatalog aus kommerziellen Gründen zu erweitern – ein völliger Irrsinn, den sogar der deutsche Gesundheitsminister Lauterbach realisiert hat. Aber die Schweizer erweitern den Pauschaltarif zweckentfremdet noch im ambulanten Bereich! Geschätzter Zuwachs der Prämien: 15%.
Ich mache den Spitälern und den Arztkollegen da keine Vorwürfe; es ist das ganze System, das völlig veraltet und falsch aufgegleist ist und zu einem wahren Kostentreiber im Gesundheitswesen macht. Selbst der Amtschef des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), Thomas Christen, hat mir bestätigt, dass das ganze Gesundheitssystem systematisch und von Grund auf reformiert werden müsste. Es kann doch nicht sein, dass gefälschte Fallpauschalen unser Gesundheitssystem ruinieren und Quersubventionen nötig sind. Es kann doch nicht sein, dass wegen den Spitalpauschalen ganze Fachbereiche verschwinden und die Patienten nicht mehr adäquat abgeklärt und behandelt werden.
Hinzu kommt der unsägliche Datenschutz, der wichtiger zu sein scheint als ein Menschenleben, und die Inkompetenz des Bundesrates, die Einführung des elektronischen Patientendossiers wegen fehlenden Vorgaben an die Kantone seit 10 Jahren zu verpassen.
Ein weiteres Ärgernis sind die überteuerten medizinischen Geräte, welche schon nach zwei Jahren repariert oder ersetzt werden müssen und das wegen Zertifizierung massiv überteuerte Mobiliar. Das geht ins Geld, doch der Bundesrat hält es für wichtiger, die Ärzteschaft völlig unüberlegt in die Pflicht zu nehmen, anstatt den Hersteller der von uns benötigten Geräte oder der Pharmaindustrie auf die Finger zu schauen. Jeden Tag werden neue, völlig unnötige Vorschriften im BAG aus dem Hut gezaubert.
Margrit Bärtsch, Inhaberin und Geschäftsführerin von Care Control, bestätigte Ihnen, dass sich die Ärzte (noch stärker die Assistenzärzte) aufgrund des zunehmenden Formalismus nicht mehr um den Patient kümmern könnten. Das sei ein Fakt, der endlich einmal gesagt werden müsse. Sehen das andere Ärztinnen und Ärzte auch so?
Assistenzärzte, welche zur FMH-Ausbildung für ein Jahr zu uns kommen, bestätigen mir das ausnahmslos. Dieses Thema wurde auch schon mehrfach in den Medien beschrieben und auch von den Fachgesellschaften bestätigt.
Lösungsvorschläge?
1. Anpassung des Eintrittstestes für das Medizinstudium, sprich adäquate Testung zur besseren Auslese.
2. Erhöhung der Anzahl Studienplätze und vielleicht auch gleichzeitig die Verpflichtung für ein Mindestarbeitspensum, weil Teilzeitarbeit den Ärztemangel noch verstärkt.
3. Anpassung des Medizinstudiums, vor allem an die praktische und nicht nur wissenschaftliche Tätigkeit.
4. Massive Reduktion der Bürokratie, welche von den Spitälern, dem Kanton und dem Bundesamt vorgeschrieben werden. Also die Beschränkung auf das Wesentliche.
Damit bleibt mehr Zeit für die Patienten, die Ausbildung der Assistenten, und man spart damit gleichzeitig Personal und Geld. Hinzu kommt eine Verbesserung der Qualität und die Vermeidung von Fehldiagnosen.
5. Abschaffung der Fallpauschalen in den Spitälern zur Vermeidung von Fehlanreizen.
Je mehr Diagnosen, desto höher die Fallpauschale ist ein falscher Ansatz, der Zeit, Personal und Geld verschleudert.
6. Elektronisches Patientendossier ja, aber nur wenn die Voraussetzungen auf Bundesebene für kompatible und einfache Systeme vorgeschrieben werden, was er schon vor 10 Jahren hätte tun sollen. Zurzeit haben wir 91 (!) verschiedene nicht kompatible Systeme.
7. Datenschutz darf nicht wichtiger sein als das Patientenleben. Die Verweigerung des Einblicks in das Patientendossier eines verunfallten sterbenden Patienten ist nicht akzeptabel.
8. Aufwertung der ambulanten Medizin im Hausarzt- und Spezialfachbereich, weil die ambulanten Praxen dreimal kostengünstiger sind als die ambulante Medizin im Spitalbereich.
9. Keine Doppelspurigkeit beim Ausbau der Spitäler und eine interkantonale Spitalplanung.
Kleine Spitäler sind teurer und können nicht die Qualität eines Gross-Spitals bieten.
Es ist verständlich, wenn jeder sein Spital direkt vor Ort haben möchte, aber die Nachteile überwiegen aus medizinischer Sicht.
Erfahrungsberichte zeigen seit Jahren auf, dass «Notfälle», die gar keine sind, die Stationen belasten, wie zum Beispiel Eltern mit einem Kind, das seit wenigen Stunden 38 Grad Fieber hat oder ein aufgeschürftes Knie.
Diese Gesundheits-Inkompetenz belastet das System in finanzieller, personeller und ressourcenmässiger Hinsicht zusätzlich. Was kann dagegen unternommen werden?
Zunächst müssen wir festhalten, dass die meisten Ausländer es sich von ihrer Heimat gewohnt sind, im Notfall das Spital aufzusuchen. Sie kennen das System des Notfalldienst-Hausarztes zu wenig. Zudem wurde unser Notfalldienst in der Praxis immer mehr abgebaut, einerseits weil es weniger Hausärztinnen und Hausärzte gibt, anderseits – und dies ohne Vorwurf! – weil die Hausärzte auch nicht mehr bereit sind, so viel Notfalldienst zu leisten wie früher. Und schliesslich fehlt es vielleicht auch an einigen Patienten selbst, welche sich zu oft als Notfall betrachten oder bis am Wochenende warten, weil sie dann Zeit haben. Positiv bewerte ich die neue für den ganzen Kanton Zürich einheitliche Notfallnummer des Ärztefons (Tel. 0800 33 66 55).
Kosten könnten auch mit der Einführung des «Tardoc» (der neue Einzelleistungs-Arzttarif, jetzt «Tarmed«) gespart werden. Die Ärztekammer richtete schon mehrfach einen Appell an den Bundesrat, dass dieser den Einzeltarif endlich genehmigt und unverzüglich einführt. Letztmals im Juni 2024 auf Antrag der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP).
Der Entscheid des Bundesrates, «Tardoc» einzuführen, ist längst fällig und der Tarif von Seiten der FMH** seit 3 Jahren bereit. Der Bundesrat kam immer wieder mit neuen Ausreden und behauptete, dass die Einführung nicht kostenneutral sei, was aber mit dem eingebauten Kostenneutralitätsfaktor gewährleistet war. Selbst BR Albert Rösti hat mir bestätigt, dass dieser Faktor offenbar im Bundesratsgremium nicht bekannt war.
Dann kamen plötzlich die vom Parlament als Wunderwaffe bezeichneten ambulanten Pauschalen ins Spiel, welche erst vor einem Jahr vom Krankenkassengremium Santésuisse und dem Spitalverband H+ ohne Rücksprache mit den Ärzten neu erfunden wurden. Sie waren aber völlig absurd und medizinisch nicht durchdacht. Das führte bis heute zu einer nochmaligen Verzögerung des neuen (bald 5 Jahre alten) Tarifsystems «Tardoc».
«Tardoc» ist aber kein Sparsystem, sondern kostenneutral und begünstigt die bisher benachteiligten Hausärzte, Kinderärzte und Psychiater.
Jetzt hat der Bundesrat entschieden, dass «Tardoc» 2026 zusammen mit Pauschalen eingeführt werden soll. Das wird die Kostenneutralität sehr erschweren, beeinträchtigen, wenn nicht gar verunmöglichen. Wenn die Pauschalen zu Gunsten der defizitären Spitäler zu hoch sind, wird das wegen der Kostenneutralität zu Lasten der ambulanten Medizin und v.a. der Hausärzte geschehen.
Dem BAG und dem Bundesrat fachspezifische Taskforce; ein Zustand, den Sie seit längerem in der Politik beanstanden. Ende 2023 hat der stellvertretende Direktor Thomas Christen vom BAG Ihnen endlich aufgetragen, eine Taskforce zusammenzustellen aus Medizinern, welche aktiv an der Front arbeiten und tatsächlich wissen, wovon sie reden, und welche Massnahmen greifen würden. Wie weit sind Sie mit dieser Taskforce?
Die medizinischen Fachleute sind von mir zusammengestellt worden, aber wir haben bis zum Ausgang der Abstimmungen gewartet die Liste dieser vorgeschlagenen Personen bekannt zu geben, weil Bundesrat und BAG zu stark beschäftigt waren. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider hat mir anlässlich einer öffentlichen Veranstaltung Anfang April in Pfäffikon SZ einen Termin in Bern versprochen – auf diese Einladung warte ich immer noch. Jetzt wäre es an der Zeit, diese Taskforce einzusetzen, sei das beim Bund oder dem BAG. Ich bin aber sehr skeptisch, was das weitere Vorgehen des Bundesrates betrifft.
Der jetzige Entscheid des Bundesrates, den neuen Tarif «Tardoc» zusammen mit neuen, noch zu erarbeitenden ambulanten Pauschalen einzuführen, ist unklug, weil gleichzeitig zwei neue Systeme parallel eingeführt werden, welche kostenneutral sein sollten.
www.aerztefon.ch
https://«Tardoc».fmh.ch/index.cfm
https://oaat-otma.ch
* Dr. Andreas Wüest war nebst seiner Tätigkeit über 30 Jahre bei der Ärztegesellschaft des Kantons Zürich aktiv, anfänglich im Vorstand, bis Ende 2022 als Delegierter. Ebenso war er in den Vorständen der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie, Physikalische Medizin und interventionelle Schmerztherapie SSIPM, Präsident der KPK (kantonale paritätische Kommission zur Schlichtung von Streitfällen zwischen Ärzten und Krankenkassen).
Momentan ist Wüest immer noch Tarifdelegierter bei der FMH, des Berufsverbands
der Schweizer Ärzte.
** Die FMH vertritt als Berufsverband der Schweizer Ärztinnen und Ärzte über 45 000 Mitglieder und als Dachverband rund 90 Ärzteorganisationen.
Sie setzt sich für eine allgemein zugängliche, effiziente und qualitativ hochstehenden Gesundheitsversorgung ein, die attraktive Arbeitsbedingungen bietet und den Nutzen für die Patientinnen und Patienten sowie die Bevölkerung in den Vordergrund stellt.
Die Abstimmungen liegen hinter uns, beide Gesundheits-Initiativen wurden abgelehnt. Gegner der Initiativen gehen unter anderem davon aus, dass das Stimmvolk Angst vor einem Leistungsabbau hatte. Jetzt liegt der Ball wieder beim Bundesrat. Wie soll die Kostenexplosion endlich gestoppt werden?
Text/Interview: Reni Bircher
Bild: Stefan Baumgartner
Die Schweizer Bevölkerung trägt über 50 Prozent der Gesundheitskosten selbst und belegt damit überragend Platz 1 aller Industrieländer. Selbstverständlich wünschen wir uns kein System wie in anderen Ländern, wo OP-Termine immer wieder verschoben, Arztbesuche oder MRI-Untersuchungen erst in mehreren Wochen oder Monaten möglich sind. Die jährlich ansteigenden Kosten überfordern allerdings immer mehr das Budget von Mittelschicht und Wenigverdienenden. So kamen die Prämien-Entlastungs- und die Kostenbremse-Initiativen am 9. Juni aufs Parkett. Und wurden von der Bevölkerung bachab geschickt! Trotzdem – oder gerade darum – muss hinterfragt werden, ob unser Gesundheitswesen hält, was ihm nachgesagt wird, und wie den berechtigten Ansprüchen der Patienten und einer bezahlbaren Versorgung Rechnung getragen werden können.
Darüber sprachen wir mit Dr. Andreas Wüest*, Facharzt für Rheumatologie in Wädenswil. Nach über 50 Jahren Medizin und über 30 Jahren Erfahrungen in der Standespolitik erlaubt er sich, die bisherigen und vorgesehenen Massnahmen zur Kostensenkung im Gesundheitswesen anzuzweifeln.
Herr Wüest, bereits im Vorfeld haben Sie sich bei Diskussionen wie der SRF-Arena daran gestört, dass den Gesprächspartnern das Hintergrundwissen über die Ursachen der Teuerung im Gesundheitswesen gefehlt hat – oder sie diese einfach verschweigen wollten. Ist das bewusste Augenwischerei?
Beide Initiativen gingen an der Ursachenbekämpfung vorbei. Die Initiativtexte waren zwar gefährlich einleuchtend und logisch, aber die Folgen bei einer Annahme wäre bei der einen Initiative kostspielig gewesen, die andere hätte ungewollt die Vernichtung des Hausarztsystems bedeutet, weil sie ungezielt war und kostengünstigen Strukturen wie dem Hausarztsystem geschadet hätte. Die Ursache wird verschwiegen.
Ich denke nicht, dass es von Seiten der Politikerinnen und Politiker Augenwischerei ist. Es fehlt an der Professionalität. Dazu gehört, dass man sich als Nicht-Fachperson bei den Profis orientieren sollte, also bei den Leuten, welche an der Front kämpfen. Die neue Nationalrätin Bettina Balmer (am Kinderspital Zürich als Chirurgin und im Notfall tätig), hat mir berichtet, dass sie erschrocken sei über das fehlende Fachwissen der Parlamentarierinnen und Parlamentarier bezüglich Gesundheitswesen.
Wir müssen uns fragen, ob wir uns bei den Bundesräten dieses fehlende Hintergrundwissen noch leisten können. Im Geschäftsleben würde man sich das nie erlauben, einen Geschäftsführer mit fehlendem Fachwissen einzusetzen.
Auch Nationalrätin Regine Sauter war der Meinung, dass die Annahme der Initiativen nur eine Symptombekämpfung gewesen wäre und nichts an den eigentlichen Problemen geändert hätte. Wo aber liegen die Probleme?
Wir betreiben zwar gute Spitzenmedizin in einzelnen Bereichen, aber das genügt nicht, um Kosten einzusparen. Was nützt eine Armee mit bester Ausrüstung, wenn die Soldaten nur in der Theorie ausgebildet sind und die Infanterie (Hausärzte und Spezialärzte mit hausärztlicher Tätigkeit) zu wenig Soldaten hat?
Wir müssen endlich den Mut haben, unser Gesundheitswesen und insbesondere die Ausbildung und die Organisation in Frage zu stellen und uns nicht scheuen, dessen hochgelobte Qualität zu durchleuchten.
Das fängt schon beim Numerus clausus an, mit dem wir sehr fähige Kandidatinnen und Kandidaten aus der Schweiz vom Studium abhalten. Hinzu kommt, dass 80% der Studierenden Frauen sind, welche später häufig nicht 100% tätig sein möchten, also braucht es mehr Studienplätze.
Des Weiteren ist das Studium zu wissenschaftlich und zu wenig auf die Praxis ausgerichtet.
Nach dem Studium sollten die «Rekruten» als Assistenzärzte in den Spitälern zu Fachspezialisten (übrigens ist ein Hausarzt auch ein Facharzt) ausgebildet werden.
Leider fehlt dazu die Zeit, weil der Bürokram mit Statistiken und Belegen viel wichtiger ist als die Patienten und die Ausbildung der Ärzte. Sie werden als Schreiberlinge missbraucht, und es fehlt ihnen an praktischem Wissen und Erfahrung. Wie sollen dies Leute im ambulanten Notfall adäquat und speditiv arbeiten? Da beginnen bereits die ersten Verluste der Spitäler.
Dann schaffen Fallpauschalen völlig falsche Anreize; je mehr Diagnosen, desto höher der Preis. Deutschland schaffte diese Fallpauschalen deswegen wieder ab. Die Aneinanderhäufung von Nebendiagnosen ist personal- und ressourcenaufwendig und lenkt von den Hauptdiagnosen ab. Die Spitäler stellen sogar Arztpersonal ein, um den Diagnosekatalog aus kommerziellen Gründen zu erweitern – ein völliger Irrsinn, den sogar der deutsche Gesundheitsminister Lauterbach realisiert hat. Aber die Schweizer erweitern den Pauschaltarif zweckentfremdet noch im ambulanten Bereich! Geschätzter Zuwachs der Prämien: 15%.
Ich mache den Spitälern und den Arztkollegen da keine Vorwürfe; es ist das ganze System, das völlig veraltet und falsch aufgegleist ist und zu einem wahren Kostentreiber im Gesundheitswesen macht. Selbst der Amtschef des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), Thomas Christen, hat mir bestätigt, dass das ganze Gesundheitssystem systematisch und von Grund auf reformiert werden müsste. Es kann doch nicht sein, dass gefälschte Fallpauschalen unser Gesundheitssystem ruinieren und Quersubventionen nötig sind. Es kann doch nicht sein, dass wegen den Spitalpauschalen ganze Fachbereiche verschwinden und die Patienten nicht mehr adäquat abgeklärt und behandelt werden.
Hinzu kommt der unsägliche Datenschutz, der wichtiger zu sein scheint als ein Menschenleben, und die Inkompetenz des Bundesrates, die Einführung des elektronischen Patientendossiers wegen fehlenden Vorgaben an die Kantone seit 10 Jahren zu verpassen.
Ein weiteres Ärgernis sind die überteuerten medizinischen Geräte, welche schon nach zwei Jahren repariert oder ersetzt werden müssen und das wegen Zertifizierung massiv überteuerte Mobiliar. Das geht ins Geld, doch der Bundesrat hält es für wichtiger, die Ärzteschaft völlig unüberlegt in die Pflicht zu nehmen, anstatt den Hersteller der von uns benötigten Geräte oder der Pharmaindustrie auf die Finger zu schauen. Jeden Tag werden neue, völlig unnötige Vorschriften im BAG aus dem Hut gezaubert.
Margrit Bärtsch, Inhaberin und Geschäftsführerin von Care Control, bestätigte Ihnen, dass sich die Ärzte (noch stärker die Assistenzärzte) aufgrund des zunehmenden Formalismus nicht mehr um den Patient kümmern könnten. Das sei ein Fakt, der endlich einmal gesagt werden müsse. Sehen das andere Ärztinnen und Ärzte auch so?
Assistenzärzte, welche zur FMH-Ausbildung für ein Jahr zu uns kommen, bestätigen mir das ausnahmslos. Dieses Thema wurde auch schon mehrfach in den Medien beschrieben und auch von den Fachgesellschaften bestätigt.
Lösungsvorschläge?
1. Anpassung des Eintrittstestes für das Medizinstudium, sprich adäquate Testung zur besseren Auslese.
2. Erhöhung der Anzahl Studienplätze und vielleicht auch gleichzeitig die Verpflichtung für ein Mindestarbeitspensum, weil Teilzeitarbeit den Ärztemangel noch verstärkt.
3. Anpassung des Medizinstudiums, vor allem an die praktische und nicht nur wissenschaftliche Tätigkeit.
4. Massive Reduktion der Bürokratie, welche von den Spitälern, dem Kanton und dem Bundesamt vorgeschrieben werden. Also die Beschränkung auf das Wesentliche.
Damit bleibt mehr Zeit für die Patienten, die Ausbildung der Assistenten, und man spart damit gleichzeitig Personal und Geld. Hinzu kommt eine Verbesserung der Qualität und die Vermeidung von Fehldiagnosen.
5. Abschaffung der Fallpauschalen in den Spitälern zur Vermeidung von Fehlanreizen.
Je mehr Diagnosen, desto höher die Fallpauschale ist ein falscher Ansatz, der Zeit, Personal und Geld verschleudert.
6. Elektronisches Patientendossier ja, aber nur wenn die Voraussetzungen auf Bundesebene für kompatible und einfache Systeme vorgeschrieben werden, was er schon vor 10 Jahren hätte tun sollen. Zurzeit haben wir 91 (!) verschiedene nicht kompatible Systeme.
7. Datenschutz darf nicht wichtiger sein als das Patientenleben. Die Verweigerung des Einblicks in das Patientendossier eines verunfallten sterbenden Patienten ist nicht akzeptabel.
8. Aufwertung der ambulanten Medizin im Hausarzt- und Spezialfachbereich, weil die ambulanten Praxen dreimal kostengünstiger sind als die ambulante Medizin im Spitalbereich.
9. Keine Doppelspurigkeit beim Ausbau der Spitäler und eine interkantonale Spitalplanung.
Kleine Spitäler sind teurer und können nicht die Qualität eines Gross-Spitals bieten.
Es ist verständlich, wenn jeder sein Spital direkt vor Ort haben möchte, aber die Nachteile überwiegen aus medizinischer Sicht.
Erfahrungsberichte zeigen seit Jahren auf, dass «Notfälle», die gar keine sind, die Stationen belasten, wie zum Beispiel Eltern mit einem Kind, das seit wenigen Stunden 38 Grad Fieber hat oder ein aufgeschürftes Knie.
Diese Gesundheits-Inkompetenz belastet das System in finanzieller, personeller und ressourcenmässiger Hinsicht zusätzlich. Was kann dagegen unternommen werden?
Zunächst müssen wir festhalten, dass die meisten Ausländer es sich von ihrer Heimat gewohnt sind, im Notfall das Spital aufzusuchen. Sie kennen das System des Notfalldienst-Hausarztes zu wenig. Zudem wurde unser Notfalldienst in der Praxis immer mehr abgebaut, einerseits weil es weniger Hausärztinnen und Hausärzte gibt, anderseits – und dies ohne Vorwurf! – weil die Hausärzte auch nicht mehr bereit sind, so viel Notfalldienst zu leisten wie früher. Und schliesslich fehlt es vielleicht auch an einigen Patienten selbst, welche sich zu oft als Notfall betrachten oder bis am Wochenende warten, weil sie dann Zeit haben. Positiv bewerte ich die neue für den ganzen Kanton Zürich einheitliche Notfallnummer des Ärztefons (Tel. 0800 33 66 55).
Kosten könnten auch mit der Einführung des «Tardoc» (der neue Einzelleistungs-Arzttarif, jetzt «Tarmed«) gespart werden. Die Ärztekammer richtete schon mehrfach einen Appell an den Bundesrat, dass dieser den Einzeltarif endlich genehmigt und unverzüglich einführt. Letztmals im Juni 2024 auf Antrag der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP).
Der Entscheid des Bundesrates, «Tardoc» einzuführen, ist längst fällig und der Tarif von Seiten der FMH** seit 3 Jahren bereit. Der Bundesrat kam immer wieder mit neuen Ausreden und behauptete, dass die Einführung nicht kostenneutral sei, was aber mit dem eingebauten Kostenneutralitätsfaktor gewährleistet war. Selbst BR Albert Rösti hat mir bestätigt, dass dieser Faktor offenbar im Bundesratsgremium nicht bekannt war.
Dann kamen plötzlich die vom Parlament als Wunderwaffe bezeichneten ambulanten Pauschalen ins Spiel, welche erst vor einem Jahr vom Krankenkassengremium Santésuisse und dem Spitalverband H+ ohne Rücksprache mit den Ärzten neu erfunden wurden. Sie waren aber völlig absurd und medizinisch nicht durchdacht. Das führte bis heute zu einer nochmaligen Verzögerung des neuen (bald 5 Jahre alten) Tarifsystems «Tardoc».
«Tardoc» ist aber kein Sparsystem, sondern kostenneutral und begünstigt die bisher benachteiligten Hausärzte, Kinderärzte und Psychiater.
Jetzt hat der Bundesrat entschieden, dass «Tardoc» 2026 zusammen mit Pauschalen eingeführt werden soll. Das wird die Kostenneutralität sehr erschweren, beeinträchtigen, wenn nicht gar verunmöglichen. Wenn die Pauschalen zu Gunsten der defizitären Spitäler zu hoch sind, wird das wegen der Kostenneutralität zu Lasten der ambulanten Medizin und v.a. der Hausärzte geschehen.
Dem BAG und dem Bundesrat fachspezifische Taskforce; ein Zustand, den Sie seit längerem in der Politik beanstanden. Ende 2023 hat der stellvertretende Direktor Thomas Christen vom BAG Ihnen endlich aufgetragen, eine Taskforce zusammenzustellen aus Medizinern, welche aktiv an der Front arbeiten und tatsächlich wissen, wovon sie reden, und welche Massnahmen greifen würden. Wie weit sind Sie mit dieser Taskforce?
Die medizinischen Fachleute sind von mir zusammengestellt worden, aber wir haben bis zum Ausgang der Abstimmungen gewartet die Liste dieser vorgeschlagenen Personen bekannt zu geben, weil Bundesrat und BAG zu stark beschäftigt waren. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider hat mir anlässlich einer öffentlichen Veranstaltung Anfang April in Pfäffikon SZ einen Termin in Bern versprochen – auf diese Einladung warte ich immer noch. Jetzt wäre es an der Zeit, diese Taskforce einzusetzen, sei das beim Bund oder dem BAG. Ich bin aber sehr skeptisch, was das weitere Vorgehen des Bundesrates betrifft.
Der jetzige Entscheid des Bundesrates, den neuen Tarif «Tardoc» zusammen mit neuen, noch zu erarbeitenden ambulanten Pauschalen einzuführen, ist unklug, weil gleichzeitig zwei neue Systeme parallel eingeführt werden, welche kostenneutral sein sollten.
www.aerztefon.ch
https://«Tardoc».fmh.ch/index.cfm
https://oaat-otma.ch
* Dr. Andreas Wüest war nebst seiner Tätigkeit über 30 Jahre bei der Ärztegesellschaft des Kantons Zürich aktiv, anfänglich im Vorstand, bis Ende 2022 als Delegierter. Ebenso war er in den Vorständen der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie, Physikalische Medizin und interventionelle Schmerztherapie SSIPM, Präsident der KPK (kantonale paritätische Kommission zur Schlichtung von Streitfällen zwischen Ärzten und Krankenkassen).
Momentan ist Wüest immer noch Tarifdelegierter bei der FMH, des Berufsverbands
der Schweizer Ärzte.
** Die FMH vertritt als Berufsverband der Schweizer Ärztinnen und Ärzte über 45 000 Mitglieder und als Dachverband rund 90 Ärzteorganisationen.
Sie setzt sich für eine allgemein zugängliche, effiziente und qualitativ hochstehenden Gesundheitsversorgung ein, die attraktive Arbeitsbedingungen bietet und den Nutzen für die Patientinnen und Patienten sowie die Bevölkerung in den Vordergrund stellt.