Wädenswil

Das Lieblingsbuch als Lackmustest

Die Lesegesellschaft Wädenswil wollte am Muttertag wissen, was es bedeutet, ein Lieblingsbuch zu haben.
Es war, als würden am vorletzten Sonntag im Rosenmattsaal drei Freunde beisammensitzen, die sich einfach nur zum Austausch über ihre Lieblingsbücher treffen. Doch die drei Gäste der Lesegesellschaft Wädenswil sassen vor einem gebannten Publikum, das genau hinhörte, was Esther Girsberger, Stephan Klapproth und Reto Kohler zu erzählen hatten. Es war berührend und professionell zugleich, wie die drei «Freunde» über ihre mitgebrachten Texte diskutierten. Jeder von ihnen hatte eine persönliche Beziehung zum Buch, das er oder sie mitgebracht hatte. So steht die SRF-Ombuds- und Medienfrau Girsberger in einer Wechselbeziehung zu Sophokles’ Antigone. Während sie die antike Heldin zu Gymizeiten noch bewundert und deren Mut zum Vorbild genommen hatte, weckt die Tragödie heute andere Gefühle. «Heute nervt mich Antigone manchmal. Wieso muss sie dermassen ins Extreme gehen? Wieso ist sie so gar nicht kompromissbereit?», fragte sich Girsberger nach abermaligem Lesen. Auch Reto Kohler beschäftigt sich seit Jahren mit seinem «Lieblingsbuch». «Der Fremde» von Albert Camus löste vieles im Journalisten aus. Als er den Text zum ersten Mal in seinem Leben las, konnte er kaum mehr aus dem
Haus gehen. Das ist viele Jahre her, und heute sieht auch Kohler den Text mit anderen Augen. Stephan Klapproths literarisches Mitbringsel war von Max Frisch und lautete «Montauk». Der Text gab zu reden. Die drei Gäste auf dem Muttertagspodium der Lesegesellschaft Wädenswil waren sich uneinig, wie zeitgemäss die Haltung Frischs heute noch ist. Vom grossen Literaten bis zum – mit Verlaub – «Kotzbrocken» war so etwa alles dabei. Einmal mehr zeigte diese lebendige Art von Literaturbesprechung – das Publikum wollte partout nicht, dass die Veranstaltung vorzeitig beendet wird –, die in dieser Form zum sechsten Mal durchgeführt wurde, dass Lesen universelle Wahrheiten zu Tage fördert und wie wichtig es ist, dass sich Menschen für Menschen interessieren.

Der frühere SRF-Moderator und heutige Mediendozent Stephan Klapproth brachte es an diesem Sonntagvormittag auf den Punkt: «Lesen ist der Lackmustest für den Wert des Lebens.» e

Teilen mit: