Richterswil

Kleiner Aufwand, grosse Wirkung: ASW

Am Erzählnachmittag vom 20. Februar berichtete die Regionalgruppe des Vereins «Aufgetischt statt Weggeworfen» (ASW) über ihr Engagement, Food Waste und Armut in der Schweiz. Zwei Personen, die Lebensmittel beziehen dürfen, erzählten im Rosengartensaal sehr persönlich über ihr Schicksal.

Text & Bilder: Reni Bircher

Der konfessionsneutrale, gemeinnützige Verein «Aufgetischt statt Weggeworfen» wurde 2015 ins Leben gerufen, um Lebensmittel, welche von Läden in der Region gespendet werden, an bedürftige Personen weiterzugeben.
Dies einerseits als wohltätiger Akt und zur Armutslinderung, andererseits als Zeichen gegen Lebensmittelverschwendung. Bis Mitte 2023 hat ASW in der Deutschschweiz an 17 Standorten bereits über 500 Tonnen Lebensmittel gerettet und damit notleidende Armutsbetroffene unterstützt, und ist auf eine grosse Dankbarkeit gestossen, anstatt dass Esswaren weggeworfen werden oder in der Biogasanlage landen. Ein Vergleich: 100 Tonnen entsprechen 200 000 Mahlzeiten. Davon könnte die ganze Stadt Bern einen Tag ernährt werden.

Im Jahr 2022 haben Ruth und Hans Diem die ASW-Regionalgruppe Richterswil-Samstagern gegründet. Diese bezieht Lebensmittel von den Coop-Filialen Obermatt und Dorf, der Migros und von Aldi. Die Abgaben werden zusätzlich mit einer monatlichen Schoggispende versüsst.
Den rund 60 Zuhörerinnen und Zuhörern erzählte Ruth Diem von ihrem Werdegang als Familienfrau, den diversen Aus- und Weiterbildungen und Anstellungen im sozialen und medizinischen Bereich. Selbst als Pensionärin – neun Jahre ist’s her – ist sie weiterhin aktiv: «Ich fühle mich noch recht fit, deshalb will ich mich sozial engagieren.»
Ihre Erfüllung und Motivation findet sie in der Rettung von Lebensmitteln und der Linderung von armutsbedingtem Leid.
Aber warum müssen Lebensmittel gerettet werden?

Food Waste

Es handelt sich hierbei um Lebensmittel, die für den menschlichen Konsum produziert wurden, auf dem Weg vom Feld bis zum Teller jedoch «verloren» gehen oder weggeworfen werden.
Es beginnt bei unförmigen Früchten und Gemüsen: zweischenklige Rüebli, krumme Gurken, zu kleine Tomaten, figurenhafte Kartoffeln. Also alles, was sich nicht in Reih und Glied im Gebinde präsentieren lässt, obwohl es weder in Geschmack noch Qualität minderwertig ist – natürlich eben. Hinzu kommen Lagerverluste, die im Grosshandel passieren, oder tierische Nebenprodukte, wie Innereien, welche vom Konsumenten nicht verwertet werden.
Im Restaurant werden manchmal zu grosse Portionen aufgetragen, und am Hotelbuffet sieht das Angebot zwar verlockend aus, wird aber immer wieder aufgefüllt, bis alle satt sind und der Rest liegen bleibt.
Ein weiteres Beispiel sind abgelaufene Produkte, die noch geniessbar wären, Überproduktionen oder solche, die falsch beschriftet wurden. Ein solch Beispiel musste Ruth Diem in ihren Anfängen bei ASW erfahren: «Da stand eine riesige Menge Fasnachtsküchlein, und wir fragten nach, was mit denen passiert sei. ‹Es ist ein falsches Datum drauf›, war die Antwort, und deshalb müssten die – einwandfreien – Küchlein weg.»
Zu guter Letzt liegt es am Konsumenten, seine Einkäufe gezielt zu tätigen und Essensreste zu vermeiden. Aber: «Europaweit, wie hier in der Schweiz, belasten wir mit unserem Lebensstil sowie mit unseren hohen Ansprüchen die Umwelt massiv. Alles soll mehr und besser sein, es herrscht eine enorme Gier, die anscheinend nicht befriedigt werden kann», weiss Ruth Diem.
Das belegen die Zahlen zahlreicher Studien. Durch Verluste und Verschwendung wird ein Drittel aller in der Schweiz produzierten Lebensmittel nicht gegessen. Das sind unfassbare 2,8 Millionen Tonnen (330 Kilogramm pro Person) im Jahr – oder bildlich ausgedrückt ca. 150 000 Lastwagen, die aneinandergereiht eine Kolonne von Zürich bis Madrid bilden.
Die von der Referentin gezeigte Grafik, in der dargestellt wird, dass die Umwelt durch Konsum weit mehr belastet wird als durch den Verkehr, sorgte für erstauntes Gemurmel bei den Anwesenden.

Hunger und Armut – der Gegenpol

Der Vortrag an diesem Nachmittag zeigte ebenso auf, dass weltweit jeder 10. Mensch hungrig schlafen geht, 2,4 Milliarden Menschen keinen regelmässigen Zugang zu genügend und 3 Milliarden zu ausgewogener Ernährung haben (Stand 2023). Das stellt eine grosse Gesundheitsgefährdung dar.
Im Jahr 2021 zählten in der Schweiz 1,2 Millionen Personen zur armutsgefährdeten Bevölkerung, Tendenz steigend. Auch in Richterswil-Samstagern. Dabei wird Armut nicht selbst verschuldet, wie manchmal selbstherrlich und unwissend behauptet wird.
Als nächste Referentin übernahm die ehemalige Sozialpädagogin mit jahrelanger Berufserfahrung im Bereich Kinder- und Jugendhilfe sowie im Migrationsbereich, Elvira von Gunten, das Mikrofon. Sie stiess vor zwei Jahren, nach ihrer Pensionierung, zu ASW.
Sie erläuterte, wie sich die Chancenungleichheit im wirtschaftlichen Bereich ergibt, nämlich aus Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildung, Gesundheit usw.
Armut ist meist weiblich, alleinerziehend und/oder alt. Wer den gesellschaftlichen Forderungen nicht nachkommen kann, bleibt in der Regel «unten», egal wie sehr er oder sie sich anstrengen. «Armut ist gerade hier, in Industrieländern, strukturell bedingt», erläuterte von Gunten, «das heisst, Kapitalismus ist auf Leistung und Profit ausgerichtet.»
Was bedeutet das für kommende Generationen? «Heute weiss man, dass 6,4 Prozent aller Kinder in der Schweiz in benachteiligten Strukturen aufwachsen», berichtete die Sozialpädagogin. «Eine gesunde Entwicklung ist ihnen durch die finanzielle Notlage der Familie verwehrt. Es fehlt zum Beispiel an ausgewogener Ernährung, an der Förderung mittels altersgerechten Spielsachen oder kindsgerechtem, entwicklungsförderndem Lernen im Rahmen von Teilhabe an Freizeitaktivitäten, wie Sportvereine, Bibliotheksbesuch, Kauf von Kinderbüchern usw., was wiederum die Pflege von Freundschaften erschwert und zu Ausgrenzung oder Mobbing führen kann. Armutsbetroffene Kinder erleben auch nur sehr selten eine kindergerechte Feriengestaltung.»
Unter diesen Voraussetzungen wächst eine weitere Generation Armutsbetroffener heran. «Diese Kinder sind die Working Poor von morgen.» Eine mögliche Lösung sieht die Referendarin darin, den Grundbedarf bei Sozialhilfezahlungen für Familien zu erhöhen, um das soziale Existenzminimum der Familien zu sichern. Denn die Kosten für den Lebensunterhalt steigen seit Jahren immer weiter an.

Betroffene berichten

Bei diesem Erzählnachmittag ergriffen zwei Betroffene das Wort, die ihre persönliche Geschichte auf eindrückliche und berührende Art und Weise vor den Zuhörerinnen und Zuhörern preisgaben.
Beide leben in Samstagern, sind 60 Jahre alt, beide nehmen das Angebot der Lebensmittelspenden äusserst dankbar an. Dort hören die Gemeinsamkeiten jedoch schon auf.
Als Erste übernahm die Ukrainerin N.M. das Mikrofon. Die gelernte Bankangestellte und spätere Journalistin lebte bis Ausbruch des Krieges am 24. Februar 2022 in der 1300 Jahre alten Stadt Tschernjachiw, nahe Kiew. Während 24 Tagen, ab Kriegsbeginn, harrte sie mit vielen anderen in einem Luftschutzkeller aus, während ihre Stadt bombardiert wurde. Nachdem die Evakuierung gelang, dauerte ihre Flucht in die Schweiz vier Tage. Vor 18 Monaten durfte sie in die Asylunterkunft im Walder einziehen, wo sie sich das 16 Quadratmeter grosse Zimmer mit einer 23-Jährigen teilt. Der Alltag in beengtem Raum – es leben 64 Menschen in der ganzen Unterkunft – sei nicht einfach, aber N.M. ist dankbar für ihre Sicherheit, welche die Schweiz ihr biete.
Einmal pro Woche lernt sie zusammen mit anderen Ukrainerinnen in einem dreistündigen DaZ-Unterricht bei Elvira von Gunten Deutsch. In der Sozialpädagogin habe sie jederzeit eine Ansprechpartnerin. Dass N.M. Gelegenheit bekommt, sich mit der Schweizer Kultur auseinanderzusetzen, schätzt sie sehr. «Es ist das sicherste und sauberste und gesetzestreuste Land auf der Welt, das ich kenne», berichtete sie in gebrochenem Deutsch, «hier leben wunderbare Menschen». Sechs Stunden pro Woche darf sie für bescheidenes Entgelt Reinigungsarbeiten für die Gemeinde verrichten.
Das ASW-Angebot nutzt die Ukrainerin wenn immer möglich, da ihr wenig Geld zur Verfügung steht – so wie das viele Geflüchtete machen, denen in Richterswil-Samstagern ein neuer Start im Leben ermöglicht wurde. Sie würde sehr gerne mehr arbeiten und selber für ihren Lebensunterhalt aufkommen können.
B.S. ist Schweizer, ein ehemaliges Heimkind, und war bis zu seinem 55. Lebensjahr im Fahrdienst der Krebsliga tätig. Durch Umstrukturierungen und Missverständnissen in der Kommunikation stand er plötzlich auf der Strasse. Die Jobsuche blieb erfolglos, körperliche Gebrechen machten es noch schwerer erwerbstätig zu werden. Vor drei Jahren gelangte B.S. an einen persönlichen Tiefpunkt, als er sich beim Sozialamt anmelden musste: «Irgendwie geht einem dabei einfach ein Stück Stolz und Selbstwertgefühl verloren», gestand er.
Unterkriegen lassen wollte er sich trotzdem nicht, doch die aufreibende Arbeitssuche mit allem Drum und Dran forderten Tribut: sein Herz hielt diesem Druck nicht mehr stand. Die Leistungsfähigkeit des Schweizers beschränkt sich heute auf die Führung des Haushalts und die Dankbarkeit am Leben zu sein. Schlimm findet er, dass er so viel Zeit, aber auch Interessen und Bedürfnisse hätte, das Geld aber nirgends hinreicht. Zu allem Überfluss bekam der 60-Jährige das Karpaltunnelsyndrom: «Aber die IV findet, ich sei immer noch 100 Prozent arbeitsfähig …».
B.S. habe gelernt, dass es keinen Grund gebe sich zu genieren oder zu schämen, wenn einen die Gesundheit oder das Leben in die Knie zwingt. «Wir sind es uns nicht gewohnt, kaum etwas zu essen zu haben», führt er aus, «und ich ziehe meinen Hut vor den Menschen beim ASW, welche für uns Lebensmittel retten, so dass wir davon profitieren dürfen.»
Dass er sich in die Reihe mit den vielen anderen Bezügern stellen muss, kostete ihn zuerst Überwindung. Mittlerweile empfindet er die Mittwochabende wertvoll, beinahe als Familientreffen. «Wir sind hier willkommen, begegnen uns auf Augenhöhe. Und das hilft nach vorn zu blicken, auch wenn man sonst am Boden ist.»
Er ermunterte die Anwesenden, sofern sie Menschen in Not kennen, von diesem Angebot ohne Scham Gebrauch zu machen und ihre Notlage nicht als selbstverschuldet zu betrachten.
Zum Schluss durften die anwesenden Gäste nebst Kaffee selbstgebackenes Traditionsgebäck geniessen, welches ihnen von drei Ukrainerinnen serviert wurde. n

Die Daten der Erzählnachmittage entnehmen Sie bitte unserem Veranstaltungskalender.

«Aufgetischt statt Weggeworfen» Richterswil-Samstagern
Jeden Mittwochabend ab 20.15 Uhr sowie jeweils am letzten Samstag im Monat ab 19.30 Uhr bei der katholischen Marienkirche Samstagern.
Regionalleitung: Ruth und Hans Diem
Weitere Infos unter: www.aufgetischt-statt-
weggeworfen.ch
Bezügerkarten: Sozialamt Richterswil,
Tel. 044 787 12 70, soziales@richterswil.ch, oder
bei Gabriela Giger, InfoPunkt Alter, Dorfstrasse 11, Richterswil, Tel. 044 687 13 32
gabriela.giger@pszh.ch

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