Anne-Cécile Gross ist die neue Dirigentin des Kammerorchesters Wädenswil. Sie übernimmt ein grosses Erbe von Felix Schudel, der das Kammerorchester während 47 Jahren geleitet hat. Eine Frau, diese Frau, als Dirigentin in einer eher konservativ orientierten Musiksparte, bringt sehr viel frischen Wind mit sich. Die frische Brise ist kreativ, emotionsgeladen und vielfarbig.
Text: Ingrid Eva Liedtke
Bild: zvg
Die Französin, die ihre ersten Jahre in Afrika (Abidjan) verbrachte, dann in Paris aufgewachsen ist und jetzt in Basel wohnt, sagt von sich: «Ich bin eine Person, die durch Irrwege gewachsen ist. Es erschreckt mich nicht falsche Wege zu gehen. Da setzt sich die afrikanische Mentalität durch, eine Prägung durch diesen Schmelztiegel von Gerüchen, Licht, körperlicher Nähe, Geräuschen, Farben, Tanz und Musik. Da ist viel Leidenschaft, Sinnlichkeit. Afrika ist ein Land der grossen Gesten und Kontraste, Intensität in allem. Diese Prägung ist sehr stark.
Meine Mutter ist Afrikanerin aus Madagaskar, mein Vater Franzose jidischer Muttersprache. Zwei der grossen Dramen der Weltgeschichte kommen in meiner Familie zusammen: Die Shoa und die Dekolonisation.
Die Flüchtlingsmentalität meiner Eltern definiert mich sehr. Das bedeutet, dass meine Haltung im Leben durch Folgendes bestimmt wird: Was nimmst du mit, wenn es nichts mehr gibt? Die Antwort ist: Alles, was du gelernt hast, alles, was du fühlst, alles, was du gesehen hast, alles, was dich genährt hat.
Darum bin ich sehr beschäftigt damit, mich zu nähren. Ich bin wie ein Schwamm. Ich will vieles erfahren. Wissen ist akademisch und trocken, erfahren ist sinnlich. Dadurch lernt man und alles lebt. Ich lerne am besten durch Menschen. Und die Musik hat mir immer wieder geholfen – auch das Familientrauma zu verarbeiten.»
Emotionen, Leidenschaft, Energie, Liebe
Emotion, Leidenschaft, Energie, die Liebe für das Leben und die Musik zeichnen die Dirigentin Anne-Cécile Gross aus. Sie leitet bereits das Kammerorchester Bülach, das Jugendorchester Freiamt, die Boswiler Orchesterakademie für Amateure und gehört zum künstlerischen Leitungsteam des Künstlerhauses Boswil.
Zuvor war sie als Assistenzdirigentin in Pittsburgh (USA) tätig. Sie studierte an der Zürcher Hochschule der Künste und war Stipendiatin der Carnegie Mellon University Pittsburgh. Unterrichtet wurde sie u.a. von Iwan Wassilevski, Colin Metters, Johannes Schlaefli und Titus Engel.
Kreative Persönlichkeit
Anne-Cécile Gross ist eine kreative Persönlichkeit. Sie gestaltet gerne innovative Projekte und unkonventionelle Programme, welche oftmals die (Wieder-)Entdeckung von Juwelen der Orchesterliteratur ermöglichen. Seit dem Beginn ihrer Musikkarriere, zuerst als Cellistin und Pädagogin und später als Dirigentin, ist es ihr ein grosses Anliegen, sich für die Förderung junger Talente einzusetzen. Anne-Cécile Gross interessiert sich für eine Vielfalt von Bereichen, wie Bildende Kunst, Tanz und Theater und verfügt über eine universitäre Ausbildung in Literaturwissenschaft und Slawistik.
Anne-Cécile Gross ist Musik
«Musik ist alles», schwärmt sie mit diesem klaren, leuchtenden Blick aus grünen Katzenaugen. «Ich identifiziere mich sehr, bin das, was ich tue. Es ist ein Lebensmodus! Und Musik ist wie das Leben! Durch ein Musikstück entdecke ich ein Leben, trete ein, folge dem Weg, muss Entscheidungen treffen. Welche Kurve nehme ich? Durch welche Türe gehe ich? Welche Perspektive ist passend? Ich lerne eine Lektion. Und immer wieder ist eine Entdeckung zu machen. So ist Musik, so ist das Leben, nie langweilig. Man kennt ein Stück nie ganz. Es offenbart sich immer wieder neu.»
In der Vorbereitung und beim Dirigieren stellt Anne-Cécile Gross Fragen und arbeitet sich so in die Tiefe. Es sei eine Suche. Die Bildung, das gelernte Wissen nehme man mit und füge es den Emotionen und Interpretationen bei.
«Kann man alles optimal mischen, ist das ein intuitiver Vorgang.»
Altes Erbe – neue Wege
Schnell stellt sich die Frage, wie eine solch junge, quirlige, das Leben inhalierende Frau ein so eingespieltes Orchester auf ihre «neuen» Wege mitnehmen kann.
Ist es ein grosses Erbe, das sie übernehmen muss? Wie geht sie damit um? Sie gesteht, dass es nicht einfach, dass es eine Herausforderung sei. Das Erbe, das sie angetreten habe, sei vor allem kultureller Natur, habe mit einer anderen Form von Kommunikation zu tun.
Sie sagt: «Meine Erwartungen können destabilisierend sein, weil ich aus einer anderen Welt komme, aus einer anderen Arbeitskultur. Aber ich bin auch erstaunt und beeindruckt von der musikalischen Aufnahmefähigkeit der Musikerinnen und Musikern. Sie sind erstaunlich flexibel. Ich bin für sie sicher eine Herausforderung. Weil ich eine Frau bin. Weil ich einen ganz anderen Hintergrund habe. Weil ich andere Wege der Aneignung einschlage. Ich fordere Herzblut – immer! Auch bei den Proben. Ich bin immer ganz da, präsent und fordere das von den Mitgliedern auch. Ich nehme an, sie wollen das, denn sie widmen dem Orchester viel Zeit für das Üben und Proben. Darum müssen wir bei der Sache sein. Darum schulde ich den Musikern meine Intensität», konstatiert sie.
Das bedeutet? «Ich kenne Felix Schudel und seine Arbeitsweise nicht. Es ist anzunehmen, dass meine Weise, Programme zu erstellen, anders ist, wie auch meine Art und Weise zu denken und in Beziehung zu den Orchestermitgliedern zu treten.» Dies soll auf Augenhöhe geschehen: «Ich bin kein Maestro!»
Immer wieder realisiert die Dirigentin Gross, dass alte Rollenbilder immer noch eine Rolle spielen. Wenn man wie sie aus einer anderen Generation komme, eine moderne Sichtweise habe, sei dies oft eine Herausforderung.
«Es ist noch nicht lange her», erzählt Gross, «dass man mir sagte: ‹Eigentlich ist das Orchester begeistert von dir, aber nicht bereit eine Frau als Dirigentin zu akzeptieren›. Selbst die Musikerinnen nicht! Eine Frau als Dirigentin ist nun mal für viele ein Schock. Wie bekomme ich also Respekt, wenn ich nicht gewohnt autoritär auftreten will? Als Dirigentin kann man nicht arbeiten, wenn die Funktionen nicht klar sind.»
Diese Frau ist ein Bündel an Energie, Gefühlen, kulturellem und menschlichen Interesse. Sie brennt vor Lebenshunger und ihrer Leidenschaft für die Musik. Doch sie weiss, was sie sagt, was sie tut. Sie kennt die Metaebene und kann, wenn nötig Abstand nehmen, um den Überblick zu halten.
Das geschulte Ohr und eine Vision
Ein Musiker müsse sich selber zuhören können. Das habe sie im Studium gelernt. Es sei sehr herausfordernd, denn man müsse sich auch die Frage zu stellen: Was mache ich damit?
Als Dirigentin bedeute es, das Ohr so zu schulen, sodass man die einzelnen Beiträge der Musikerinnen und Musikern zu «sammeln» und weiterentwickeln zu vermögen. Jeder solle sich entfalten können und sich als Teil dem Ganzen einfügen.
Sie, als Dirigentin, habe eine Vision, die eine Richtung weise. Aber sie lasse sich im Laufe des Prozesses inspirieren, um allenfalls eine Partitur neu abzuschmecken, ein anderes Gewürz auszuprobieren, um es mit einer kulinarischen Metapher zu veranschaulichen.
Es ist ein Neuanfang
Das Kammerorchester Wädenswil und die neue Dirigentin müssen sich aneinander gewöhnen.
«Was brauchen sie, was brauche ich?» – so formuliert Anne-Cécile Gross eine der grundsätzlichen Fragestellungen dabei. Ein wichtiger Grundsatz ist ihr das Arbeiten ausserhalb von Wertung.
«In einem Orchester zu spielen ist eine ständige Anpassung aneinander. Man muss lernen, die Ohren zu öffnen und sich aufeinander abzustimmen. Es ist wie zusammen turnen. Wir müssen uns finden, ein Gleichgewicht schaffen. Ich bin obsessiv, was die Musik betrifft. Ich mag mich nicht um patriarchale Formen und Bewertungen kümmern müssen. Sie verletzen nur. Wir sollten uns gemeinsam der Musik nähern, eine schöne Weise finden, die uns allen guttut. Wir arbeiten an einem Ganzen, von dem jeder ein Teil ist und sich darin entwickeln kann. Nur so können wir zusammen, kann die Musik schwingen. Das Stück ist eine Haut, die wir uns aneignen wollen, überstülpen, uns darin einleben.
Ich bin dankbar diese Musiker zu haben, mit ihnen zu arbeiten, und ich respektiere enorm, was sie produzieren, ihren Prozess, diese Musik, möglichst gut zu machen. Mein Job ist zu führen, all zu orchestrieren, die Inputs zu einem Ganzen zu fügen. Dazu braucht man eine Vision, freie Hände, das Vertrauen der Musiker und ihren Respekt. Sie müssen mich dafür in ihre Mitte nehmen, damit wir aneinander wachsen können. Dafür haben sie mich gewählt und ich sie auch.»
Eigene Handschrift und Grenzen
Jede Dirigentin hat ihre eigene, in diesem Fall neue Handschrift. Die von Anne-Cécile Gross ist emotional, aber sie will auch die Ideen der Musikerinnen und Musiker berücksichtigen, etwas ermöglichen. Ein Stück zu spielen, soll glücklich machen – alle!
Gibt es kreative Grenzen in der Arbeit mit einem Kammerorchester? Anne-Cécile Gross meint Nein: «Ich sehe kaum eine Grenze. Nur wir Menschen sind manchmal begrenzt. Meine Aufgabe sehe ich darin, dies abzubauen.»
Wie gross und wichtig ist der Anteil an Emotionen und Leidenschaft in der Figur der Dirigentin und welcher Anteil schafft das nötige Gleichgewicht? Können, Wissen, Führungskompetenzen?
Anne-Cécile Gross sagt von sich, dass sie gleichzeitig sehr emotional und leidenschaftlich sein und doch den Überblick behalten kann. «Das muss sich nicht widersprechen und nicht unkontrolliert sein. Es ist gut, wenn man gewisse Prinzipien kennt, aber man kann sie auch gut über Bord werfen, wenn das Ziel oder die Vision erreicht wird. Dazu muss man viel denken und den Text, die Noten studieren und analysieren. Ich bin so getragen davon, was ich tue. Das soll meine Autorität ausmachen. Dafür wünsche ich mir Respekt.»
Beim Dirigieren helfen Gross auch die erworbenen Fähigkeiten als Musikerin (Cellistin) und Pädagogin. «Beim Dirigieren nutze ich alle meine Fähigkeiten und Erfahrungen.»
Kulturell vielseitig
Anne-Cécile Gross ist kulturell vielseitig interessiert, verfügt auch über eine universitäre Ausbildung in Literaturwissenschaft und Slawistik. Sind diese vielen Interessensgebiete kombinierbar? Inspirieren sie sich möglicherweise gegenseitig oder gibt es gar Synergien?
«Alles, was mit Kunst zu tun hat, interessiert und inspiriert mich», sagt sie. «Ich will nicht einseitig sein. Ich gehe oft ins Museum. Gewisse Bilder sind wie eine Dusche für die Seele. Mich interessiert jede Stilrichtung. Ich arbeite auch interdisziplinär, arbeite mit Jugendorchestern, habe ein Projekt mit einem Techno-DJ. Die Elektromusik ist momentan ein Bereich, der am kreativsten ist. Ich arbeitete mit einer Gruppe in Boswil, die Jazz mit Barockmusik mischt. Deren Konzert war toll!», erzählt sie voller Begeisterung. «Das zeigte mir, dass sich diese Musiker nicht begrenzen lassen. Sie haben aus verschiedenen Elementen eine eigene Sache gemacht – grossartig!»
Und somit schliesst sich für die vielseitige Dirigentin der Kreis: «Alles, was mir begegnet, soll in mir aufgehen, dann in meinem Schaffen ausgedrückt werden und Menschen berühren! In der Selbstverständlichkeit (die auch Chaos einschliesst) gibt es viel Liebe!», philosophiert sie.
Aber ist es denn schliesslich bei der klassischen Interpretation nicht einfach wichtig, was Bach wollte? Anne-Cécile Gross’ Antwort kommt schnell und unmissverständlich: «Was weiss ich, was Bach wollte? Ich weiss nur, wie es auf mich wirkt! Und es wirkt jedes Mal anders. Darum kann jedes Stück individuell interpretiert werden.»
Am Schluss unseres Gesprächs eilt die Dirigentin Richtung Bahnhof und See. Sie mag Wädenswil wegen des Sees und dieser Weite. n
Das Kammerorchester Wädenswil sucht dringend neue Mitglieder!
Das nächste Konzert des Kammerorchesters findet am 24. März, um 19.00 Uhr, in der Reformierten Kirche Wädenswil statt. Es werden Werke von Schubert, Semionov, Grieg und Sowande interpretiert.
Solistin ist Stefanie Mirwald, Akkordeon.
Weitere Infos: www.ko-waedi.ch
Anne-Cécile Gross ist die neue Dirigentin des Kammerorchesters Wädenswil. Sie übernimmt ein grosses Erbe von Felix Schudel, der das Kammerorchester während 47 Jahren geleitet hat. Eine Frau, diese Frau, als Dirigentin in einer eher konservativ orientierten Musiksparte, bringt sehr viel frischen Wind mit sich. Die frische Brise ist kreativ, emotionsgeladen und vielfarbig.
Text: Ingrid Eva Liedtke
Bild: zvg
Die Französin, die ihre ersten Jahre in Afrika (Abidjan) verbrachte, dann in Paris aufgewachsen ist und jetzt in Basel wohnt, sagt von sich: «Ich bin eine Person, die durch Irrwege gewachsen ist. Es erschreckt mich nicht falsche Wege zu gehen. Da setzt sich die afrikanische Mentalität durch, eine Prägung durch diesen Schmelztiegel von Gerüchen, Licht, körperlicher Nähe, Geräuschen, Farben, Tanz und Musik. Da ist viel Leidenschaft, Sinnlichkeit. Afrika ist ein Land der grossen Gesten und Kontraste, Intensität in allem. Diese Prägung ist sehr stark.
Meine Mutter ist Afrikanerin aus Madagaskar, mein Vater Franzose jidischer Muttersprache. Zwei der grossen Dramen der Weltgeschichte kommen in meiner Familie zusammen: Die Shoa und die Dekolonisation.
Die Flüchtlingsmentalität meiner Eltern definiert mich sehr. Das bedeutet, dass meine Haltung im Leben durch Folgendes bestimmt wird: Was nimmst du mit, wenn es nichts mehr gibt? Die Antwort ist: Alles, was du gelernt hast, alles, was du fühlst, alles, was du gesehen hast, alles, was dich genährt hat.
Darum bin ich sehr beschäftigt damit, mich zu nähren. Ich bin wie ein Schwamm. Ich will vieles erfahren. Wissen ist akademisch und trocken, erfahren ist sinnlich. Dadurch lernt man und alles lebt. Ich lerne am besten durch Menschen. Und die Musik hat mir immer wieder geholfen – auch das Familientrauma zu verarbeiten.»
Emotionen, Leidenschaft, Energie, Liebe
Emotion, Leidenschaft, Energie, die Liebe für das Leben und die Musik zeichnen die Dirigentin Anne-Cécile Gross aus. Sie leitet bereits das Kammerorchester Bülach, das Jugendorchester Freiamt, die Boswiler Orchesterakademie für Amateure und gehört zum künstlerischen Leitungsteam des Künstlerhauses Boswil.
Zuvor war sie als Assistenzdirigentin in Pittsburgh (USA) tätig. Sie studierte an der Zürcher Hochschule der Künste und war Stipendiatin der Carnegie Mellon University Pittsburgh. Unterrichtet wurde sie u.a. von Iwan Wassilevski, Colin Metters, Johannes Schlaefli und Titus Engel.
Kreative Persönlichkeit
Anne-Cécile Gross ist eine kreative Persönlichkeit. Sie gestaltet gerne innovative Projekte und unkonventionelle Programme, welche oftmals die (Wieder-)Entdeckung von Juwelen der Orchesterliteratur ermöglichen. Seit dem Beginn ihrer Musikkarriere, zuerst als Cellistin und Pädagogin und später als Dirigentin, ist es ihr ein grosses Anliegen, sich für die Förderung junger Talente einzusetzen. Anne-Cécile Gross interessiert sich für eine Vielfalt von Bereichen, wie Bildende Kunst, Tanz und Theater und verfügt über eine universitäre Ausbildung in Literaturwissenschaft und Slawistik.
Anne-Cécile Gross ist Musik
«Musik ist alles», schwärmt sie mit diesem klaren, leuchtenden Blick aus grünen Katzenaugen. «Ich identifiziere mich sehr, bin das, was ich tue. Es ist ein Lebensmodus! Und Musik ist wie das Leben! Durch ein Musikstück entdecke ich ein Leben, trete ein, folge dem Weg, muss Entscheidungen treffen. Welche Kurve nehme ich? Durch welche Türe gehe ich? Welche Perspektive ist passend? Ich lerne eine Lektion. Und immer wieder ist eine Entdeckung zu machen. So ist Musik, so ist das Leben, nie langweilig. Man kennt ein Stück nie ganz. Es offenbart sich immer wieder neu.»
In der Vorbereitung und beim Dirigieren stellt Anne-Cécile Gross Fragen und arbeitet sich so in die Tiefe. Es sei eine Suche. Die Bildung, das gelernte Wissen nehme man mit und füge es den Emotionen und Interpretationen bei.
«Kann man alles optimal mischen, ist das ein intuitiver Vorgang.»
Altes Erbe – neue Wege
Schnell stellt sich die Frage, wie eine solch junge, quirlige, das Leben inhalierende Frau ein so eingespieltes Orchester auf ihre «neuen» Wege mitnehmen kann.
Ist es ein grosses Erbe, das sie übernehmen muss? Wie geht sie damit um? Sie gesteht, dass es nicht einfach, dass es eine Herausforderung sei. Das Erbe, das sie angetreten habe, sei vor allem kultureller Natur, habe mit einer anderen Form von Kommunikation zu tun.
Sie sagt: «Meine Erwartungen können destabilisierend sein, weil ich aus einer anderen Welt komme, aus einer anderen Arbeitskultur. Aber ich bin auch erstaunt und beeindruckt von der musikalischen Aufnahmefähigkeit der Musikerinnen und Musikern. Sie sind erstaunlich flexibel. Ich bin für sie sicher eine Herausforderung. Weil ich eine Frau bin. Weil ich einen ganz anderen Hintergrund habe. Weil ich andere Wege der Aneignung einschlage. Ich fordere Herzblut – immer! Auch bei den Proben. Ich bin immer ganz da, präsent und fordere das von den Mitgliedern auch. Ich nehme an, sie wollen das, denn sie widmen dem Orchester viel Zeit für das Üben und Proben. Darum müssen wir bei der Sache sein. Darum schulde ich den Musikern meine Intensität», konstatiert sie.
Das bedeutet? «Ich kenne Felix Schudel und seine Arbeitsweise nicht. Es ist anzunehmen, dass meine Weise, Programme zu erstellen, anders ist, wie auch meine Art und Weise zu denken und in Beziehung zu den Orchestermitgliedern zu treten.» Dies soll auf Augenhöhe geschehen: «Ich bin kein Maestro!»
Immer wieder realisiert die Dirigentin Gross, dass alte Rollenbilder immer noch eine Rolle spielen. Wenn man wie sie aus einer anderen Generation komme, eine moderne Sichtweise habe, sei dies oft eine Herausforderung.
«Es ist noch nicht lange her», erzählt Gross, «dass man mir sagte: ‹Eigentlich ist das Orchester begeistert von dir, aber nicht bereit eine Frau als Dirigentin zu akzeptieren›. Selbst die Musikerinnen nicht! Eine Frau als Dirigentin ist nun mal für viele ein Schock. Wie bekomme ich also Respekt, wenn ich nicht gewohnt autoritär auftreten will? Als Dirigentin kann man nicht arbeiten, wenn die Funktionen nicht klar sind.»
Diese Frau ist ein Bündel an Energie, Gefühlen, kulturellem und menschlichen Interesse. Sie brennt vor Lebenshunger und ihrer Leidenschaft für die Musik. Doch sie weiss, was sie sagt, was sie tut. Sie kennt die Metaebene und kann, wenn nötig Abstand nehmen, um den Überblick zu halten.
Das geschulte Ohr und eine Vision
Ein Musiker müsse sich selber zuhören können. Das habe sie im Studium gelernt. Es sei sehr herausfordernd, denn man müsse sich auch die Frage zu stellen: Was mache ich damit?
Als Dirigentin bedeute es, das Ohr so zu schulen, sodass man die einzelnen Beiträge der Musikerinnen und Musikern zu «sammeln» und weiterentwickeln zu vermögen. Jeder solle sich entfalten können und sich als Teil dem Ganzen einfügen.
Sie, als Dirigentin, habe eine Vision, die eine Richtung weise. Aber sie lasse sich im Laufe des Prozesses inspirieren, um allenfalls eine Partitur neu abzuschmecken, ein anderes Gewürz auszuprobieren, um es mit einer kulinarischen Metapher zu veranschaulichen.
Es ist ein Neuanfang
Das Kammerorchester Wädenswil und die neue Dirigentin müssen sich aneinander gewöhnen.
«Was brauchen sie, was brauche ich?» – so formuliert Anne-Cécile Gross eine der grundsätzlichen Fragestellungen dabei. Ein wichtiger Grundsatz ist ihr das Arbeiten ausserhalb von Wertung.
«In einem Orchester zu spielen ist eine ständige Anpassung aneinander. Man muss lernen, die Ohren zu öffnen und sich aufeinander abzustimmen. Es ist wie zusammen turnen. Wir müssen uns finden, ein Gleichgewicht schaffen. Ich bin obsessiv, was die Musik betrifft. Ich mag mich nicht um patriarchale Formen und Bewertungen kümmern müssen. Sie verletzen nur. Wir sollten uns gemeinsam der Musik nähern, eine schöne Weise finden, die uns allen guttut. Wir arbeiten an einem Ganzen, von dem jeder ein Teil ist und sich darin entwickeln kann. Nur so können wir zusammen, kann die Musik schwingen. Das Stück ist eine Haut, die wir uns aneignen wollen, überstülpen, uns darin einleben.
Ich bin dankbar diese Musiker zu haben, mit ihnen zu arbeiten, und ich respektiere enorm, was sie produzieren, ihren Prozess, diese Musik, möglichst gut zu machen. Mein Job ist zu führen, all zu orchestrieren, die Inputs zu einem Ganzen zu fügen. Dazu braucht man eine Vision, freie Hände, das Vertrauen der Musiker und ihren Respekt. Sie müssen mich dafür in ihre Mitte nehmen, damit wir aneinander wachsen können. Dafür haben sie mich gewählt und ich sie auch.»
Eigene Handschrift und Grenzen
Jede Dirigentin hat ihre eigene, in diesem Fall neue Handschrift. Die von Anne-Cécile Gross ist emotional, aber sie will auch die Ideen der Musikerinnen und Musiker berücksichtigen, etwas ermöglichen. Ein Stück zu spielen, soll glücklich machen – alle!
Gibt es kreative Grenzen in der Arbeit mit einem Kammerorchester? Anne-Cécile Gross meint Nein: «Ich sehe kaum eine Grenze. Nur wir Menschen sind manchmal begrenzt. Meine Aufgabe sehe ich darin, dies abzubauen.»
Wie gross und wichtig ist der Anteil an Emotionen und Leidenschaft in der Figur der Dirigentin und welcher Anteil schafft das nötige Gleichgewicht? Können, Wissen, Führungskompetenzen?
Anne-Cécile Gross sagt von sich, dass sie gleichzeitig sehr emotional und leidenschaftlich sein und doch den Überblick behalten kann. «Das muss sich nicht widersprechen und nicht unkontrolliert sein. Es ist gut, wenn man gewisse Prinzipien kennt, aber man kann sie auch gut über Bord werfen, wenn das Ziel oder die Vision erreicht wird. Dazu muss man viel denken und den Text, die Noten studieren und analysieren. Ich bin so getragen davon, was ich tue. Das soll meine Autorität ausmachen. Dafür wünsche ich mir Respekt.»
Beim Dirigieren helfen Gross auch die erworbenen Fähigkeiten als Musikerin (Cellistin) und Pädagogin. «Beim Dirigieren nutze ich alle meine Fähigkeiten und Erfahrungen.»
Kulturell vielseitig
Anne-Cécile Gross ist kulturell vielseitig interessiert, verfügt auch über eine universitäre Ausbildung in Literaturwissenschaft und Slawistik. Sind diese vielen Interessensgebiete kombinierbar? Inspirieren sie sich möglicherweise gegenseitig oder gibt es gar Synergien?
«Alles, was mit Kunst zu tun hat, interessiert und inspiriert mich», sagt sie. «Ich will nicht einseitig sein. Ich gehe oft ins Museum. Gewisse Bilder sind wie eine Dusche für die Seele. Mich interessiert jede Stilrichtung. Ich arbeite auch interdisziplinär, arbeite mit Jugendorchestern, habe ein Projekt mit einem Techno-DJ. Die Elektromusik ist momentan ein Bereich, der am kreativsten ist. Ich arbeitete mit einer Gruppe in Boswil, die Jazz mit Barockmusik mischt. Deren Konzert war toll!», erzählt sie voller Begeisterung. «Das zeigte mir, dass sich diese Musiker nicht begrenzen lassen. Sie haben aus verschiedenen Elementen eine eigene Sache gemacht – grossartig!»
Und somit schliesst sich für die vielseitige Dirigentin der Kreis: «Alles, was mir begegnet, soll in mir aufgehen, dann in meinem Schaffen ausgedrückt werden und Menschen berühren! In der Selbstverständlichkeit (die auch Chaos einschliesst) gibt es viel Liebe!», philosophiert sie.
Aber ist es denn schliesslich bei der klassischen Interpretation nicht einfach wichtig, was Bach wollte? Anne-Cécile Gross’ Antwort kommt schnell und unmissverständlich: «Was weiss ich, was Bach wollte? Ich weiss nur, wie es auf mich wirkt! Und es wirkt jedes Mal anders. Darum kann jedes Stück individuell interpretiert werden.»
Am Schluss unseres Gesprächs eilt die Dirigentin Richtung Bahnhof und See. Sie mag Wädenswil wegen des Sees und dieser Weite. n
Das Kammerorchester Wädenswil sucht dringend neue Mitglieder!
Das nächste Konzert des Kammerorchesters findet am 24. März, um 19.00 Uhr, in der Reformierten Kirche Wädenswil statt. Es werden Werke von Schubert, Semionov, Grieg und Sowande interpretiert.
Solistin ist Stefanie Mirwald, Akkordeon.
Weitere Infos: www.ko-waedi.ch