Feuilleton History Richterswil

Wie Angelina im Ruderboot aus Richterswil flüchtete

Autor David Bielmann folgt in seinem Roman «Angelina – ­Verlorene Familie» den Spuren seiner Ahnen: von Obervaz über Basel, Zürich, Bern, Lugano und Strassburg nach Recht­halten – und erzählt dabei ein unheimliches Stück Schweizer Geschichte.

Text: Stefan Baumgartner

Lenzerheide, 1824. Johann Friedrich Moser wird mit siebzehn Jahren zum ersten Mal Vater. Er lässt sich mit seiner Familie auf einem abgelegenen Hof nieder und arbeitet als Abdecker. Es folgen zehn weitere Kinder.
David Bielmann zeichnet in der Folge in seinem Roman diese Familiengeschichte – seine Familiengeschichte – bis ins Jahr 2014 nach. Die Geschichte wird in 25 Porträts erzählt, begonnen beim Stammvater, endend bei Bielmanns Grossmutter Angelina. In 200 Jahren Geschichte werden Weltkriege gestreift, vor allem aber wird die Armut kinderreicher Familien in wirtschaftlich schwachen Regionen beschrieben. Und auch das Bestreben einer pseudo-elitären Gesellschaftsschicht, untere Gesellschaftsschichten ausmerzen zu wollen. So folgen Porträts von Johann Josef Jörger oder Auguste Forel. Der eine, Jörger, Psychiater in Graubünden, führte Sippenforschungen durch und verwendete dabei jenen Code von Decknamen für die einzelnen jenischen Familien, der über 60 Jahre lang in Gebrauch blieb und der auch vom «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» verwendet wurde. Der andere, Forel, gilt als Schweizer Vater der Psychiatrie und vertrat die Vorstellungen der Eugenik, die die Anwendung theoretischer Konzepte und Erkenntnisse der Humangenetik auf die Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik beschreibt. In der Zeit des Nationalsozialismus’ auch bekannt geworden als Rassenhygiene.
Schliesslich folgt auch ein Porträt von Alfred Siegfried. Sein Leben beginnt dort, wo er sich am Ende glaubte: Nach der Entlassung aus dem Schuldienst in Basel, wo er 1924 wegen sexuellen Missbrauchs eines Schülers verurteilt wurde. Siegfried fand Unterschlupf bei «Pro Juventute» und war in der Folge Gründer des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» und so verantwortlich für unzählige Familientrennungen. Das «Hilfswerk» trennte bis 1972 Eltern und Kinder von Fahrenden oder von nach Ansicht des Hilfswerks verwahrlosten Familien. So musste Angelina, unehelich geboren, zuerst bei den Grosseltern aufwachsen, wurde dann fremdplatziert, auf den typischen Irrwegen jener, die niemand will, im katholischen Erziehungsheim in Richterswil. Dort probte sie die Flucht im Ruderboot über den See, die natürlich misslang und die eine weitere Strafversetzung mit sich zog. Schliesslich endete Angelinas Geschichte 2014 im Freiburgischen, wo auch der Autor heute noch lebt.

Verlag Zytglogge
Format 21.5 x 13.7 cm
Gebundene Ausgabe
ISBN: 978-3-7296-5134-0

David Bielmann, geb. 1984 in Rechthalten (Kanton Freiburg). Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität Freiburg, Lehrer an der Berufsfachschule Freiburg. Seit 2009 veröffentlicht er regelmässig Romane, zuletzt «Im Schatten der Linde – Die Ermordung der Christina Aeby»

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