René Magnani ist 89 Jahre alt. 1944 wurde er mit 30 anderen Kindern vom Roten Kreuz von Frankreich in die Schweiz geholt. Wie prägend ist es im Krieg aufgewachsen zu sein? Wie ging es in René Magnanis Leben weiter? Es ist ihm ein Anliegen, seine vielfältigen Erinnerungen zu teilen, zurückzublicken.
Text: Ingrid Eva Liedtke
Bilder: zvg & iel
René Magnanis Heimatdorf Dampierre-les-Bois liegt im französischen Jura. 1944, als sich die Deutschen im fünften Kriegsjahr auf dem Rückzug befanden, rechnete man mit Kampfhandlungen in diesem Gebiet und schickte darum die Kinder zur Sicherheit in die nahe Schweiz. René Magnanis Leben hat dies nachhaltig geprägt.
«Der Krieg ist eine ‹catastrophe›», sagt René Magnani immer wieder, gefangen von den Erinnerungen daran. «So viele Tote. 10000 an einem Tag in der Normandie! Viele haben Kinder. Nichts zu essen! Catastrophe! Eine Sauerei!» Das bringt ihn zum Weinen. «Das prägt einen fürs ganze Leben!» Er wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Sein Lebensrückblick beinhaltet auch viel Schönes. Die Erinnerungen an seine Kindheit sind sehr lebendig.
Mit 89 möchte er zurückschauen und zusammenfassen. Er freut sich, wenn andere Menschen an seinem Leben Anteil nehmen. «Immer wieder sagen Freunde von mir: Erzähl mal! Wie war das damals? Darum dachte ich, meine Geschichte könnte interessant sein.» Er lacht verschmitzt. Darum schreiben wir sie hier auf.
Reise nach Richterswil
Für 13 der 30 französischen Kinder ging die Reise damals nach Richterswil. Darunter waren René Magnani, seine Schwester und sein Bruder. Als René mit seinem Pflegevater Paul Bachmann in Wädenswil aus dem Zug ausstieg, weinte er, denn er wusste nicht, dass er seine Geschwister wiedersehen würde. Zum Glück fanden alle drei in Richterswil ein sicheres Zuhause und konnten sich zu Fuss besuchen.
Die Familie Bachmann wohnte in der Mühlenen. Dora Bachmann war gleich alt wie der Franzosenbub René. Sie kam ihrem Vater und René an diesem denkwürdigen Tag mit ihrem Dreiradvelo auf halbem Weg entgegen. Die beiden Kinder freundeten sich sofort an. Dora Bachmann wurde später René Magnanis Frau.
Verwöhnt
Aus den Schilderungen der Zeit, die René Magnani bei der Familie Bachmann verbrachte, wird klar, wie sehr verwöhnt sich der kleine Bub aus dem kriegserschütterten Frankreich fühlte.
Weihnachten wurde bei den Bachmanns mit 20 Personen gefeiert. Ein schöner geschmückter Weihnachtsbaum stand in der wohlig warmen Stube und betörende Düfte zogen durch das Haus. Magnani erinnert sich sogar noch an sein Päckchen, das für ihn unter dem Baum lag: «Ich bekam einen Sack mit getrockneten Birnen – nur für mich alleine!» Das war etwas ganz Besonderes für den Jungen aus dem vom Hunger gebeutelten Kriegsland. Nach den obligaten Weihnachtsliedern wurde sogar noch ein französisches gesungen.
Schokolade und Schule
Wer weiss, wie es ist im Krieg zu leben und Mangel an allem zu haben, der kann René Magnanis grosse Freude über ein Stück Schokolade verstehen. Er erzählt noch heute mit glänzenden Augen von den täglichen Gängen an den See und zu der Teigwarenfabrik Rebsamen, wo er manchmal vom «Bürofräulein» (ja, so sagte man damals) ein Stück Schokolade bekam. «Schokolade hat es in Frankreich schon lange nicht mehr gegeben.» Oft holte er Dora von der Schule ab. Bald konnte er mit den anderen Flüchtlingskindern eine eigens eingerichtete Schule in Wädenswil besuchen.
Der Migroswagen
Eine sehr lebendige Erinnerung ist die an den Migroswagen. Einige Leserinnen und Leser mögen sich wohl noch an den Migroswagen erinnern, der einmal pro Woche in die Dörfer fuhr. Der Wagen war ein mobiler Laden, wo man alles kaufen konnte, was man brauchte.
«In diesem Winter war es sehr kalt und es lag viel Schnee. Damit die Frauen nicht in der Kälte warten mussten, schickten sie mich, um an der Strasse auf den Migroswagen zu warten. Wenn ich ihn kommen sah, rief ich alle zusammen. Auch dafür kriegte ich ein Stück Schokolade.»
Bei dieser Schilderung kann man sich seine Freude über diesen luxuriösen Genuss -vorstellen.
Heimkehr
Nach vier Monaten Aufenthalt in Richterswil, näherte sich der Zweite Weltkrieg seinem Ende zu. Die Kriegslinie hatte sich verschoben, und die Lage in der französischen Heimat war wieder sicher, sodass die Kinder heimkehren konnten.
René Magnani erinnert sich an seine grosse Freude, seine Mutter wieder zu sehen. «Sie war eine grossartige Frau. Sie hat uns allen, ob Junge oder Mädchen, gelehrt, wie ein Haushalt zu führen ist.» Das sei viel besser, als ins Militär zu gehen, meinte sie. In Frankreich gab es dann aber vorerst gar nichts. «Darum war dann auch erst mal Schluss mit Schokolade.»
Peugeot
Die Gegend, in der René Magnani aufwuchs, wurde dominiert von den Peugeot-Werken. Sein Vater arbeitete bei Peugeot und auch René machte eine Lehre als Dreher-Mechaniker. 1950 gewann er bei einer Ausstellung der besten Lehrlinge in Strassburg eine Medaille als bester Lehrling in der Abteilung Mechanik.
Militärdienst und Asthma
Am 19. April 1955 wurde René Magnani zum Dienst aufgeboten. Er machte die Rekrutenschule und wurde im September in ein Mechaniker-Praktikum für Militärfahrzeuge nach Kaiserslautern geschickt. Dort gefiel es ihm. Doch der nächste Krieg liess nicht auf sich warten. Krieg in Algerien! Und René Magnani wurde dort stationiert.
Fragt man ihn, was der Krieg in ihm hinterlassen habe, schluckt René Magnani schwer. Wieder kommen die Tränen, er schüttelt nur den Kopf. Er hat so viel – zu viel – gesehen. Wieder sagt er: «Catastrophe!» und schüttelt den Kopf.
Er habe sich versteckt, wenn es ums Schiessen und Töten ging. Dann wurde er von einer Granate verletzt. «Zum Glück war es eine von diesen selbstgebastelten!» Es war nur eine leichte Verletzung, doch im Krankenhaus hatte René, der schon seit seiner Kindheit an schwerem Asthma litt, heftige Attacken. Das Notspital konnte ihm nicht die nötige Pflege zukommen lassen. Deshalb wurde er zurück nach Deutschland geschickt. «Ich war froh um diese Lösung» – weg zu sein vom Kampfgeschehen.
Berufs- und Ortswechsel – Genesung
Wegen seines Asthmas riet man René Magnani zu einem Berufs- und Ortswechsel. Er reiste in die Schweiz. Sein ehemaliger Pflegevater Paul Bachmann hatte ihm einen Job als Mechaniker in seiner Firma angeboten, und er riet ihm zu einer Behandlung seines Asthmas bei seinem Arzt in Zürich. Dieser konnte ihn tatsächlich heilen.
Dora Bachmann und René Magnani
Während all der Jahre, war René Magnani immer in Kontakt geblieben mit Dora Bachmann, dem Mädchen mit dem Dreirad. Sie schrieben sich regelmässig und René hatte Dora auch schon besucht. Am 15. März 1958 heirateten die beiden in Richterswil.
In René Magnanis Memoiren hat auch Dora das Wort. Sie schrieb: «An all unseren kindlichen Unternehmungen nahm auch René teil. Für ihn war der Aufenthalt bei uns in der Mühlenen das reinste Schlaraffenland. In seinem Heimatdorf in Frankreich hatte man nur sehr wenig zu essen. Die Mutter Etna Magnani hatte fünf Kinder zu versorgen. Der Vater war oft abwesend, weil er sich dem Widerstand angeschlossen hatte.»
1945 kehrte René in seine Heimat zurück. Bald gingen Briefe hin du her. Alle wurden vom Zoll geöffnet. Anfangs der 50er-Jahre fuhren wir zum ersten Mal zu Besuch nach Dampierre-les-Bois. Bei seinem letztem Urlaub 1957 verlobten sie sich im Kreise seiner Familien in Frankreich. Die Verlobungsfeier in der Mühlenen holten sie im Dezember nach. Nach 27 Monaten im Dienst kam René im September 1957 endgültig in die Schweiz und arbeitete in der mechanischen Werkstatt seines Schwiegervaters.
Am 15. März 1958 heirateten René und Dora in der Kirche in Richterswil. «Wegen der vielen französischen Gäste hielt Herr Pfarrer Custer die Hälfte der Predigt auf französisch», erinnerte sich Dora.
Das Paar bekam zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und die Familie wohnte in einem Einfamilienhaus in Schönenberg. René Magnani arbeitete tatkräftig im Betrieb des Schwiegervaters mit.
Firmengründung
1984, nachdem Paul Bachmann gestorben war, machten sich die Magnanis selbstständig. Sie gründeten die Firma Bamag (für Befestigungstechnik und Gartengeräte) in Samstagern. Arbeitssame Jahre folgten. Firmenfeste, Familienfeste – Leben.
Dora erkrankt
Dann erkrankte Dora an Krebs. 2007 haben sich die zwei Eheleute entschieden, ihr Haus in Schönenberg zu verkaufen und nach Siebnen in eine Eigentumswohnung mit Lift zu ziehen, eine Wohnung für das Alter. Das Reisen ohne Auto sollte von dort aus auch leichter gehen. Doch schon ein Jahr später starb Dora – eine weitere Katastrophe für René Magnani.
Die erste Zeit war sehr schwer für den Witwer. Aber er sagt, seine Enkelin habe ihm in den ersten Monaten Gesellschaft geleistet und er habe gute Freunde. Mit einer langjährigen Freundin, die auch verwitwet ist, verbringt er gerne Zeit und reist mit ihr in der Schweiz umher.
Was kann noch kommen?
René Magnani ist nun 89. Er hat so einiges erlebt, durchgemacht und ausgestanden. Was bleibt? Was kann noch kommen?
«Der Tod», sagt René Magnani ergeben lächelnd. Er hebt die Schultern hoch und macht eine dieser typisch französischen Gesten «Was soll man machen? Der muss kommen!» Jetzt lacht er und der Schalk blitzt immer noch in seinen Augen.
«Ich möchte möglichst gesund bleiben. Morgens muss ich ein paar Turnübungen machen, weil sonst alles weh tut. Ich rauche nicht und trinke keinen Wein.» Da hat sich der Franzose wohl dem Schweizer in ihm gebeugt. «Der Körper will schon nicht mehr alles mitmachen. Grosse Sprünge liegen nicht mehr drin. Man muss froh sein, dass man laufen kann. Ich mache jeden Tag fünf Kilometer. Alles reduziert sich, aber man muss in Bewegung bleiben.»
Zum Beweis führt René Magnani eine Turnübung vor. Er beugt den Oberkörper nach vorne und dann nach unten, berührt mit den Fingerspitzen den Boden. «Das kann ich noch!», grinst er stolz.
Freunde und noch ein Wunsch
René Magnani ist zufrieden mit seinem Leben. Er schaut viel Sport am Fernsehen und trifft seine zahlreichen Freunde. «Ich habe eine Partnerin. Wir waren früher als Paare befreundet und nun sind wir zwei Übriggebliebene. Jeder von uns ist unabhängig und hat eine eigene Wohnung. Ich kenne sehr viele Leute in Richterswil; Leute, die mich gerne haben. Ich habe immer viel zu erzählen. Wir können zusammen lachen. Das ist viel besser, als sich zu beklagen.»
Darum wäre René Magnanis Wunsch, wieder in Richterswil zu wohnen, in der Nähe seiner Freunde. Auf jeden Fall ist er bis heute froh und dankbar, dass er in Richterswil so freundlich aufgenommen wurde.
Und dann, irgendwann, wenn es Zeit ist, möchte er einfach einschlafen, in seinem Bett, in seiner Wohnung.
René Magnani ist 89 Jahre alt. 1944 wurde er mit 30 anderen Kindern vom Roten Kreuz von Frankreich in die Schweiz geholt. Wie prägend ist es im Krieg aufgewachsen zu sein? Wie ging es in René Magnanis Leben weiter? Es ist ihm ein Anliegen, seine vielfältigen Erinnerungen zu teilen, zurückzublicken.
Text: Ingrid Eva Liedtke
Bilder: zvg & iel
René Magnanis Heimatdorf Dampierre-les-Bois liegt im französischen Jura. 1944, als sich die Deutschen im fünften Kriegsjahr auf dem Rückzug befanden, rechnete man mit Kampfhandlungen in diesem Gebiet und schickte darum die Kinder zur Sicherheit in die nahe Schweiz. René Magnanis Leben hat dies nachhaltig geprägt.
«Der Krieg ist eine ‹catastrophe›», sagt René Magnani immer wieder, gefangen von den Erinnerungen daran. «So viele Tote. 10000 an einem Tag in der Normandie! Viele haben Kinder. Nichts zu essen! Catastrophe! Eine Sauerei!» Das bringt ihn zum Weinen. «Das prägt einen fürs ganze Leben!» Er wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Sein Lebensrückblick beinhaltet auch viel Schönes. Die Erinnerungen an seine Kindheit sind sehr lebendig.
Mit 89 möchte er zurückschauen und zusammenfassen. Er freut sich, wenn andere Menschen an seinem Leben Anteil nehmen. «Immer wieder sagen Freunde von mir: Erzähl mal! Wie war das damals? Darum dachte ich, meine Geschichte könnte interessant sein.» Er lacht verschmitzt. Darum schreiben wir sie hier auf.
Reise nach Richterswil
Für 13 der 30 französischen Kinder ging die Reise damals nach Richterswil. Darunter waren René Magnani, seine Schwester und sein Bruder. Als René mit seinem Pflegevater Paul Bachmann in Wädenswil aus dem Zug ausstieg, weinte er, denn er wusste nicht, dass er seine Geschwister wiedersehen würde. Zum Glück fanden alle drei in Richterswil ein sicheres Zuhause und konnten sich zu Fuss besuchen.
Die Familie Bachmann wohnte in der Mühlenen. Dora Bachmann war gleich alt wie der Franzosenbub René. Sie kam ihrem Vater und René an diesem denkwürdigen Tag mit ihrem Dreiradvelo auf halbem Weg entgegen. Die beiden Kinder freundeten sich sofort an. Dora Bachmann wurde später René Magnanis Frau.
Verwöhnt
Aus den Schilderungen der Zeit, die René Magnani bei der Familie Bachmann verbrachte, wird klar, wie sehr verwöhnt sich der kleine Bub aus dem kriegserschütterten Frankreich fühlte.
Weihnachten wurde bei den Bachmanns mit 20 Personen gefeiert. Ein schöner geschmückter Weihnachtsbaum stand in der wohlig warmen Stube und betörende Düfte zogen durch das Haus. Magnani erinnert sich sogar noch an sein Päckchen, das für ihn unter dem Baum lag: «Ich bekam einen Sack mit getrockneten Birnen – nur für mich alleine!» Das war etwas ganz Besonderes für den Jungen aus dem vom Hunger gebeutelten Kriegsland. Nach den obligaten Weihnachtsliedern wurde sogar noch ein französisches gesungen.
Schokolade und Schule
Wer weiss, wie es ist im Krieg zu leben und Mangel an allem zu haben, der kann René Magnanis grosse Freude über ein Stück Schokolade verstehen. Er erzählt noch heute mit glänzenden Augen von den täglichen Gängen an den See und zu der Teigwarenfabrik Rebsamen, wo er manchmal vom «Bürofräulein» (ja, so sagte man damals) ein Stück Schokolade bekam. «Schokolade hat es in Frankreich schon lange nicht mehr gegeben.» Oft holte er Dora von der Schule ab. Bald konnte er mit den anderen Flüchtlingskindern eine eigens eingerichtete Schule in Wädenswil besuchen.
Der Migroswagen
Eine sehr lebendige Erinnerung ist die an den Migroswagen. Einige Leserinnen und Leser mögen sich wohl noch an den Migroswagen erinnern, der einmal pro Woche in die Dörfer fuhr. Der Wagen war ein mobiler Laden, wo man alles kaufen konnte, was man brauchte.
«In diesem Winter war es sehr kalt und es lag viel Schnee. Damit die Frauen nicht in der Kälte warten mussten, schickten sie mich, um an der Strasse auf den Migroswagen zu warten. Wenn ich ihn kommen sah, rief ich alle zusammen. Auch dafür kriegte ich ein Stück Schokolade.»
Bei dieser Schilderung kann man sich seine Freude über diesen luxuriösen Genuss -vorstellen.
Heimkehr
Nach vier Monaten Aufenthalt in Richterswil, näherte sich der Zweite Weltkrieg seinem Ende zu. Die Kriegslinie hatte sich verschoben, und die Lage in der französischen Heimat war wieder sicher, sodass die Kinder heimkehren konnten.
René Magnani erinnert sich an seine grosse Freude, seine Mutter wieder zu sehen. «Sie war eine grossartige Frau. Sie hat uns allen, ob Junge oder Mädchen, gelehrt, wie ein Haushalt zu führen ist.» Das sei viel besser, als ins Militär zu gehen, meinte sie. In Frankreich gab es dann aber vorerst gar nichts. «Darum war dann auch erst mal Schluss mit Schokolade.»
Peugeot
Die Gegend, in der René Magnani aufwuchs, wurde dominiert von den Peugeot-Werken. Sein Vater arbeitete bei Peugeot und auch René machte eine Lehre als Dreher-Mechaniker. 1950 gewann er bei einer Ausstellung der besten Lehrlinge in Strassburg eine Medaille als bester Lehrling in der Abteilung Mechanik.
Militärdienst und Asthma
Am 19. April 1955 wurde René Magnani zum Dienst aufgeboten. Er machte die Rekrutenschule und wurde im September in ein Mechaniker-Praktikum für Militärfahrzeuge nach Kaiserslautern geschickt. Dort gefiel es ihm. Doch der nächste Krieg liess nicht auf sich warten. Krieg in Algerien! Und René Magnani wurde dort stationiert.
Fragt man ihn, was der Krieg in ihm hinterlassen habe, schluckt René Magnani schwer. Wieder kommen die Tränen, er schüttelt nur den Kopf. Er hat so viel – zu viel – gesehen. Wieder sagt er: «Catastrophe!» und schüttelt den Kopf.
Er habe sich versteckt, wenn es ums Schiessen und Töten ging. Dann wurde er von einer Granate verletzt. «Zum Glück war es eine von diesen selbstgebastelten!» Es war nur eine leichte Verletzung, doch im Krankenhaus hatte René, der schon seit seiner Kindheit an schwerem Asthma litt, heftige Attacken. Das Notspital konnte ihm nicht die nötige Pflege zukommen lassen. Deshalb wurde er zurück nach Deutschland geschickt. «Ich war froh um diese Lösung» – weg zu sein vom Kampfgeschehen.
Berufs- und Ortswechsel – Genesung
Wegen seines Asthmas riet man René Magnani zu einem Berufs- und Ortswechsel. Er reiste in die Schweiz. Sein ehemaliger Pflegevater Paul Bachmann hatte ihm einen Job als Mechaniker in seiner Firma angeboten, und er riet ihm zu einer Behandlung seines Asthmas bei seinem Arzt in Zürich. Dieser konnte ihn tatsächlich heilen.
Dora Bachmann und René Magnani
Während all der Jahre, war René Magnani immer in Kontakt geblieben mit Dora Bachmann, dem Mädchen mit dem Dreirad. Sie schrieben sich regelmässig und René hatte Dora auch schon besucht. Am 15. März 1958 heirateten die beiden in Richterswil.
In René Magnanis Memoiren hat auch Dora das Wort. Sie schrieb: «An all unseren kindlichen Unternehmungen nahm auch René teil. Für ihn war der Aufenthalt bei uns in der Mühlenen das reinste Schlaraffenland. In seinem Heimatdorf in Frankreich hatte man nur sehr wenig zu essen. Die Mutter Etna Magnani hatte fünf Kinder zu versorgen. Der Vater war oft abwesend, weil er sich dem Widerstand angeschlossen hatte.»
1945 kehrte René in seine Heimat zurück. Bald gingen Briefe hin du her. Alle wurden vom Zoll geöffnet. Anfangs der 50er-Jahre fuhren wir zum ersten Mal zu Besuch nach Dampierre-les-Bois. Bei seinem letztem Urlaub 1957 verlobten sie sich im Kreise seiner Familien in Frankreich. Die Verlobungsfeier in der Mühlenen holten sie im Dezember nach. Nach 27 Monaten im Dienst kam René im September 1957 endgültig in die Schweiz und arbeitete in der mechanischen Werkstatt seines Schwiegervaters.
Am 15. März 1958 heirateten René und Dora in der Kirche in Richterswil. «Wegen der vielen französischen Gäste hielt Herr Pfarrer Custer die Hälfte der Predigt auf französisch», erinnerte sich Dora.
Das Paar bekam zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und die Familie wohnte in einem Einfamilienhaus in Schönenberg. René Magnani arbeitete tatkräftig im Betrieb des Schwiegervaters mit.
Firmengründung
1984, nachdem Paul Bachmann gestorben war, machten sich die Magnanis selbstständig. Sie gründeten die Firma Bamag (für Befestigungstechnik und Gartengeräte) in Samstagern. Arbeitssame Jahre folgten. Firmenfeste, Familienfeste – Leben.
Dora erkrankt
Dann erkrankte Dora an Krebs. 2007 haben sich die zwei Eheleute entschieden, ihr Haus in Schönenberg zu verkaufen und nach Siebnen in eine Eigentumswohnung mit Lift zu ziehen, eine Wohnung für das Alter. Das Reisen ohne Auto sollte von dort aus auch leichter gehen. Doch schon ein Jahr später starb Dora – eine weitere Katastrophe für René Magnani.
Die erste Zeit war sehr schwer für den Witwer. Aber er sagt, seine Enkelin habe ihm in den ersten Monaten Gesellschaft geleistet und er habe gute Freunde. Mit einer langjährigen Freundin, die auch verwitwet ist, verbringt er gerne Zeit und reist mit ihr in der Schweiz umher.
Was kann noch kommen?
René Magnani ist nun 89. Er hat so einiges erlebt, durchgemacht und ausgestanden. Was bleibt? Was kann noch kommen?
«Der Tod», sagt René Magnani ergeben lächelnd. Er hebt die Schultern hoch und macht eine dieser typisch französischen Gesten «Was soll man machen? Der muss kommen!» Jetzt lacht er und der Schalk blitzt immer noch in seinen Augen.
«Ich möchte möglichst gesund bleiben. Morgens muss ich ein paar Turnübungen machen, weil sonst alles weh tut. Ich rauche nicht und trinke keinen Wein.» Da hat sich der Franzose wohl dem Schweizer in ihm gebeugt. «Der Körper will schon nicht mehr alles mitmachen. Grosse Sprünge liegen nicht mehr drin. Man muss froh sein, dass man laufen kann. Ich mache jeden Tag fünf Kilometer. Alles reduziert sich, aber man muss in Bewegung bleiben.»
Zum Beweis führt René Magnani eine Turnübung vor. Er beugt den Oberkörper nach vorne und dann nach unten, berührt mit den Fingerspitzen den Boden. «Das kann ich noch!», grinst er stolz.
Freunde und noch ein Wunsch
René Magnani ist zufrieden mit seinem Leben. Er schaut viel Sport am Fernsehen und trifft seine zahlreichen Freunde. «Ich habe eine Partnerin. Wir waren früher als Paare befreundet und nun sind wir zwei Übriggebliebene. Jeder von uns ist unabhängig und hat eine eigene Wohnung. Ich kenne sehr viele Leute in Richterswil; Leute, die mich gerne haben. Ich habe immer viel zu erzählen. Wir können zusammen lachen. Das ist viel besser, als sich zu beklagen.»
Darum wäre René Magnanis Wunsch, wieder in Richterswil zu wohnen, in der Nähe seiner Freunde. Auf jeden Fall ist er bis heute froh und dankbar, dass er in Richterswil so freundlich aufgenommen wurde.
Und dann, irgendwann, wenn es Zeit ist, möchte er einfach einschlafen, in seinem Bett, in seiner Wohnung.