Am 30. September wurde im katholischen Pfarrheim das Buch «Fassaden und Innenwelten» präsentiert, welches vom Richterswiler Waisenhaus von 1909–1962 berichtet. Es basiert auf der gleichnamigen Ausstellung von Juni 2021 im Bären.
Text & Bild: Reni Bircher
Anfang des letzten Jahrhunderts wurden schweizweit nicht nur elternlose Kinder in Waisenhäusern untergebracht. Die Behörden orientierten sich am bürgerlichen Familienideal: genügend Geld für Nahrung, Kleidung usw. und genügend Zeit für die Kinderbetreuung. Unterschichten konnten diesen Strukturen oftmals nicht genügen, etwa weil die Frau zwingend arbeiten musste und die daraus folgende mangelhafte Kinderbetreuung als abnormal und nicht regelkonform galt. Bei zusätzlichen Krisensituationen (Scheidung, Alkohol, Todesfall von Elternteil) schritten die Behörden ein. Statt den Familien finanziell zu helfen oder die Mütter zu entlasten, wurden ihnen die Kinder weggenommen und fremdplatziert. Rechtlich war dies seit dem Zivilgesetz von 1912 möglich und klar legitimiert.
Gut hundert Jahre später wies eine unabhängige Expertenkommission die damals herrschenden Zustände unter anderem als grobfahrlässig und gesetzwidrig aus, und der Bund beschloss diesen damals fremdplatzierten Kindern Solidaritätsbeiträge zu zahlen. Zudem wurde diesen Menschen erlaubt, Einsicht in ihre Akten verlangen. So passiert auch in Richterswil, was Bernadette Dubs, Gemeinderätin und Vorsteherin der Sozialbehörde, bewog, die Geschichten dieser ehemaligen Heimkinder öffentlich zu machen und damit diesen dunklen Teil der Dorfgeschichte zu verarbeiten und zu enttabuisieren.
Beiderseitige Erkenntnisse
In den Staatsarchiven findet sich immer nur die halbe Wahrheit, denn die Geschichten derer, welche unter diesen «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen» zu leiden hatten, werden dort nicht festgehalten. An diesem Punkt setzten im Auftrag der Gemeinde Richterswil die Recherchen von Biografin Lisbeth Herger und Historiker Heinz Looser an. Dabei wurden zahlreiche Einzelschicksale aufgedeckt, welche doch erst durch die damalige sozialpolitische Situation ermöglicht worden waren, wie Hansjakob Schneider von der Kommission Kultur in seiner Laudatio den Zuhörerinnen und Zuhörern im Saal erläuterte. «Was diesen Kindern hätte helfen sollen, hat sich für viele als Risikofaktor für ihr Leben erwiesen».
Es gab im Laufe dieses Aufarbeitungsprozesses für ehemalige Heimkinder auch «positive» Erkenntnisse, etwa dass sich geschiedene Mütter über Jahre hinweg aktiv um die Rückgabe des Kindes bemüht haben, durch die eheliche Trennung jedoch von den Behörden als unfähig abgestempelt und verurteilt worden waren. So musste das Kind im Waisenhaus bleiben, meist mit dem Gefühl von ungeliebt und verstossen worden sein.
Sechs dieser aus der letzten und zugleich verwerflichsten Periode des Waisenhauses Richterswil stammenden Heimkinder haben es auf sich genommen und über ihr Leben berichtet. Dies führte im vergangenen Jahr zu einer eindrücklichen Ausstellung im Ortsmuseum, welche von etwa 1000 Besuchern gesehen wurde. Nun erschien das Buch dazu, das nicht minder berührt und beeindruckt, ohne gefühlsduselig zu sein.
Rundumschlag
«Warum braucht es denn noch ein Buch?», fragte Lisbeth Herger rhetorisch die Besucher der Vernissage. Tatsächlich gibt es noch viele Heime, deren Geschichte nicht aufgearbeitet worden ist. «Hier sind wir fast ein wenig exemplarisch», sagte Heinz Looser. Das Buch wird auch für Ehemalige anderer Waisenhäuser Wiedererkennungsmerkmale aufweisen, die würden das möglicherweise gerne sehen, Erkenntnisse gewinnen, vielleicht ermöglicht es einen Verarbeitungsprozess bei Betroffenen. Doch der Hauptgrund dürfte sein, dass mit den Aufzeichnungen dieser fremdplatzierten Kinder die andere Hälfte der Wahrheit, die nicht in den Staatsarchiven gefunden wurde, ergänzt und erhalten bleibt.
Dass diese Zeitzeugen zu Wort gekommen sind und ihnen ein gewisses Mass an Wiedergutmachung angedieh, ist der Initiative der Sozialbehörde, den sorgfältigen Recherchen in zahlreichen Archiven und den einfühlsamen Gesprächen mit Betroffenen durch das Kuratoren- bzw. Autorenpaar zu verdanken. Und nicht zuletzt der Bereitschaft der Richterswiler Behörden, sich diesem teilweise unrühmlichen Geschichtsabschnitt zu stellen, ihn aufzuarbeiten und schliesslich in diesem Buch festzuhalten.
«Fassaden und Innenwelten»:
erhältlich bei Papeterie Köhler, Richterswil
Am 30. September wurde im katholischen Pfarrheim das Buch «Fassaden und Innenwelten» präsentiert, welches vom Richterswiler Waisenhaus von 1909–1962 berichtet. Es basiert auf der gleichnamigen Ausstellung von Juni 2021 im Bären.
Text & Bild: Reni Bircher
Anfang des letzten Jahrhunderts wurden schweizweit nicht nur elternlose Kinder in Waisenhäusern untergebracht. Die Behörden orientierten sich am bürgerlichen Familienideal: genügend Geld für Nahrung, Kleidung usw. und genügend Zeit für die Kinderbetreuung. Unterschichten konnten diesen Strukturen oftmals nicht genügen, etwa weil die Frau zwingend arbeiten musste und die daraus folgende mangelhafte Kinderbetreuung als abnormal und nicht regelkonform galt. Bei zusätzlichen Krisensituationen (Scheidung, Alkohol, Todesfall von Elternteil) schritten die Behörden ein. Statt den Familien finanziell zu helfen oder die Mütter zu entlasten, wurden ihnen die Kinder weggenommen und fremdplatziert. Rechtlich war dies seit dem Zivilgesetz von 1912 möglich und klar legitimiert.
Gut hundert Jahre später wies eine unabhängige Expertenkommission die damals herrschenden Zustände unter anderem als grobfahrlässig und gesetzwidrig aus, und der Bund beschloss diesen damals fremdplatzierten Kindern Solidaritätsbeiträge zu zahlen. Zudem wurde diesen Menschen erlaubt, Einsicht in ihre Akten verlangen. So passiert auch in Richterswil, was Bernadette Dubs, Gemeinderätin und Vorsteherin der Sozialbehörde, bewog, die Geschichten dieser ehemaligen Heimkinder öffentlich zu machen und damit diesen dunklen Teil der Dorfgeschichte zu verarbeiten und zu enttabuisieren.
Beiderseitige Erkenntnisse
In den Staatsarchiven findet sich immer nur die halbe Wahrheit, denn die Geschichten derer, welche unter diesen «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen» zu leiden hatten, werden dort nicht festgehalten. An diesem Punkt setzten im Auftrag der Gemeinde Richterswil die Recherchen von Biografin Lisbeth Herger und Historiker Heinz Looser an. Dabei wurden zahlreiche Einzelschicksale aufgedeckt, welche doch erst durch die damalige sozialpolitische Situation ermöglicht worden waren, wie Hansjakob Schneider von der Kommission Kultur in seiner Laudatio den Zuhörerinnen und Zuhörern im Saal erläuterte. «Was diesen Kindern hätte helfen sollen, hat sich für viele als Risikofaktor für ihr Leben erwiesen».
Es gab im Laufe dieses Aufarbeitungsprozesses für ehemalige Heimkinder auch «positive» Erkenntnisse, etwa dass sich geschiedene Mütter über Jahre hinweg aktiv um die Rückgabe des Kindes bemüht haben, durch die eheliche Trennung jedoch von den Behörden als unfähig abgestempelt und verurteilt worden waren. So musste das Kind im Waisenhaus bleiben, meist mit dem Gefühl von ungeliebt und verstossen worden sein.
Sechs dieser aus der letzten und zugleich verwerflichsten Periode des Waisenhauses Richterswil stammenden Heimkinder haben es auf sich genommen und über ihr Leben berichtet. Dies führte im vergangenen Jahr zu einer eindrücklichen Ausstellung im Ortsmuseum, welche von etwa 1000 Besuchern gesehen wurde. Nun erschien das Buch dazu, das nicht minder berührt und beeindruckt, ohne gefühlsduselig zu sein.
Rundumschlag
«Warum braucht es denn noch ein Buch?», fragte Lisbeth Herger rhetorisch die Besucher der Vernissage. Tatsächlich gibt es noch viele Heime, deren Geschichte nicht aufgearbeitet worden ist. «Hier sind wir fast ein wenig exemplarisch», sagte Heinz Looser. Das Buch wird auch für Ehemalige anderer Waisenhäuser Wiedererkennungsmerkmale aufweisen, die würden das möglicherweise gerne sehen, Erkenntnisse gewinnen, vielleicht ermöglicht es einen Verarbeitungsprozess bei Betroffenen. Doch der Hauptgrund dürfte sein, dass mit den Aufzeichnungen dieser fremdplatzierten Kinder die andere Hälfte der Wahrheit, die nicht in den Staatsarchiven gefunden wurde, ergänzt und erhalten bleibt.
Dass diese Zeitzeugen zu Wort gekommen sind und ihnen ein gewisses Mass an Wiedergutmachung angedieh, ist der Initiative der Sozialbehörde, den sorgfältigen Recherchen in zahlreichen Archiven und den einfühlsamen Gesprächen mit Betroffenen durch das Kuratoren- bzw. Autorenpaar zu verdanken. Und nicht zuletzt der Bereitschaft der Richterswiler Behörden, sich diesem teilweise unrühmlichen Geschichtsabschnitt zu stellen, ihn aufzuarbeiten und schliesslich in diesem Buch festzuhalten.
«Fassaden und Innenwelten»:
erhältlich bei Papeterie Köhler, Richterswil