Feuilleton Richterswil

Sommer auf der Alp – hart und wunderschön

Seit über 40 Jahren können Bergbauernfamilien auf die Unterstützung von Caritas-Bergeinsatz zählen: sie vermittelt in Notsituationen und in den arbeitsreichen Sommermonaten schnell und unkompliziert freiwillige Helfer. Frank Blume aus Richterswil verbrachte vier Wochen bei solchen Einsätzen.

Text: Reni Bircher, Bilder: zvg

Frank, was hat Dich bewogen, zweimal für zwei Wochen einen Bergeinsatz zu leisten?

Ich habe schon länger mit solch einem Projekt geliebäugelt. Auf meiner Suche kam der entscheidende Hinweis von einer Kollegin, dass die Caritas Bergeinsätze koordiniert. Von meinem Arbeitgeber bekam ich zum 10-Jahre-Jubiläum Ferienzeit geschenkt, und die habe ich jetzt auf der Alp verbracht.

Nach welchen Kriterien hast Du die Betriebe ausgesucht?

Man kann auf der Caritas-Homepage verschiedene Aufgaben angeben, die man bereit ist zu machen. Ich habe mich generell für alle anfallenden Arbeiten gemeldet und Familien ausgesucht, die ein SOS abgesetzt haben, also ganz dringend Hilfe brauchen. 

Wichtig war mir, dass wenigstens ein Hof mit eigener Käserei dabei ist, und dass sie in Gebieten der Schweiz liegen, die ich nicht gut kenne. Somit bin ich einmal im Obersimmental im Berner Oberland und einmal im Sarneraatal im Kanton Obwalden gelandet.

Was wurde auf diesen ­beiden
Höfen gefordert und ­erwünscht? Was für Familien leiten diese Betriebe?

Beide Landwirte sind recht jung und haben erst vor wenigen Jahren den Hof übernommen, beides sind Milchwirtschaftsbetriebe. Im Berner Oberland bewirtschaften sie auf 1300 m ü. M. einen Hof mit Kühen, Rindern, Kälbern, Pferden, Schweinen und Hühnern. Nach einer Woche zogen wir mit dem Vieh auf die nahe Alp (1700 m ü. M.). Die Frau ist hochschwanger.

Der Obwaldner Hof (650 m ü. M.) betreibt die integrierte Produktion, also möglichst ökologisch und mit herkömmlicher industrieller Produktion. Die Alp liegt 1780 m ü. M.Sie besitzen Kühe, Rinder, Kälber, Ziegen, Hunde, Katzen und Hühner samt Hahn. Bei allen Arbeiten der Bauersfrau war das Baby dabei oder wurde von den drei älteren Geschwistern umsorgt.

Der Betrieb in Obwalden produziert täglich frischen Alpkäse. Der Bauer im Berner Oberland liefert die Milch zur Molkerei ins Dorf. Bezahlt wird die Milch teilweise in Naturalien. Generell waren Stall- und Hofarbeiten gefragt, das Betreuen der Tiere, Heuen, Zäunen und täglich die Käselaibe mit Salzlacke einreiben und drehen. 

Erzähle von Deinem Alltag auf der Alp.

Um 5 Uhr bin ich aufgestanden und habe die Kühe in den Stall geholt. Bei Nebel war ich wirklich froh, dass die Kühe Glocken getragen haben, denn sonst hat man diese kaum finden können. Einmal fehlte eine Kuh; sie hatte den Schlegel in der Glocke verloren, ich musste ewig nach dem Vieh suchen. Manchmal lassen Wanderer auch den Zaun offen, dann büxen die Kühe aus. 

Im Stall habe ich ihre Schwänze mit einer speziellen Technik hochgebunden, damit sie dem Bauern beim Melken nicht ins Gesicht schlagen. Wenn ein Milchkessel voll war, habe ich dessen Inhalt in den über hundertjährigen Kupferkessel gegossen, um Käse darin zu machen. 

Auch der Stall musste in dieser Zeit gemistet werden. Inzwischen hat man schon über zwei Stunden gearbeitet, bis es Frühstück gab. Wir haben mit der Familie gut einen halben Laib als Bratkäse direkt vom Feuer verputzt. Das ist eigentlich wie ein Raclette. Und der Joghurt vom Biobauern hatte echtes Suchtpotenzial! Die Kühe durften inzwischen wieder auf die Weide.

Am Vormittag fielen unterschiedliche Arbeiten an. Wichtig war manchmal, dass man sie zu Ende gebracht hat, etwa wenn ein Lohnunternehmer involviert war. Das bedeutet, dass ein Landwirt aus dem Tal einen grossen Fuhrpark unterhält, den die anderen für eine bestimmte Aufgabe anheuern können. Beispielsweise, um mit einer Maschine das Heu einzufahren. Diesen Landwirt bezahlt der Älpler stundenweise, deshalb ist es wichtig, die Arbeit so schnell wie möglich zu erledigen. Das Mittagessen nahmen wir mit der Familie ein oder hatten auf der Alp auch mal einen schön gepackten Picknickkorb von der Bäuerin dabei. 

Am Nachmittag erledigten wir weitere anfallende Aufgaben, wir haben systematisch Blacken (ein Unkraut, dass Nutzpflanzen Licht und Platz nimmt) und Alpenkreuzkraut (für Kühe giftig) gestochen oder Jungtannen von den Weiden entfernt, denn die lassen die Weiden verbuschen. Am Abend fand dasselbe Prozedere mit der Melkung der Kühe statt. Auf beiden Betrieben wurde in meiner Gegenwart ein Kalb geboren. Das zweite habe ich alleine auf die Welt geholt, weil der Bauer nicht schnell genug zum Stall kommen konnte – das war faszinierend und aufregend.

Am Abend sass ich meistens noch ein wenig auf einer Bank vor dem Stall und habe die wunderschöne Landschaft und den Sonnenuntergang genossen, bevor ich um halb zehn schlafen ging.

Hast Du Unterschiede bei der Bewirtschaftung festgestellt?

Allerdings. Grad was die Kälbchen betrifft, so hat der Obwalder Bauer dieses neben die Mutterkuh gelegt, damit sie es ablecken kann. Dadurch entsteht eine enge Bindung, zudem ist das Tier ruhiger, was gerade bei Erstgebärenden wichtig ist, denn die werden nach dem ersten Kalb erstmals gemolken. Ist die Kuh entspannter und beschäftigt, ist das Melken viel einfacher. Der Berner Bauer hat mit seinen Tieren geredet, sie mit Namen angesprochen und am Morgen haben die Tiere regelrecht auf ihn gewartet. Er behält eine Kuh, auch wenn sie älter ist und nicht mehr so viel Milch gibt. Das war ihm nicht so wichtig, aber er hat gerne die Kühe in Familien gezüchtet, da war er stolz darauf.

In Obwalden hatte ich das Gefühl, dass es den Kühen ziemlich egal war, wenn jemand in den Stall gekommen ist. Hier ist es wichtig, dass die Kühe möglichst viel Milch abgeben, ansonsten werden sie zum Schlachter gegeben.

Auf der Berner Alp gab es Quellwasser, das ermöglichte es dem Bauern seine Kannen und Geräte zu säubern oder auch mal den Stall auszuspritzen.

Dadurch, dass man in Obwalden nicht mit dem Auto zur Alp konnte, benutze der Bauer keine Einstreu, der Stall war aber mindestens so sauber wie beim anderen. Zudem konnte er nicht auf Quellwasser zurückgreifen, also wurde das gesammelte Regenwasser nach dem Reinigen der Kessel noch fürs Putzen in Haus und Stall benutzt. Hier wurde mit dem Fadenmäher Gras geschnitten, nicht wie im Obersimmental, wo man mit dem Traktor hochfahren kann. Sämtliches Material muss mit einer kleinen Transportbahn auf die Obwaldner Alp geschafft werden, ebenso die Milch ins Tal runter. Mehrere Bauern haben diese Lastenbahn privat finanziert und «mein» Älpler durfte diese für ein Entgelt benutzen. Das Heu wird mit dem Hubschrauber geholt. In der zweiten Woche auf der Alp kam die Familie mit Sack und Pack nach, denn die Schulferien hatten begonnen. Da musste selbstverständlich der ganze Haushalt mit rauf, samt Hühner, Katze, Hund und Meerschweinchen der Kinder.

Beide Bauersleute haben gerne Dinge und Abläufe erklärt und ausführlich gezeigt, wenn sie gemerkt haben, dass man Interesse hat. Es war
für mich also eine lehrreiche Zeit.

Beim zweiten Hof, also in Obwalden, wurde der Direktverkauf betrieben, da konnten die Leute auch mit Twint zahlen. Das hatte der Berner Betrieb nicht.

Was hat diese Älpler dazu ­bewogen, sich über Caritas Hilfe zu suchen?

Bei einer Familie kam es zu einer Frühgeburt und die Frau wollte sich danach hauptsächlich um die Kinder, das Haus, die Tiere und das Käsemachen konzentrieren. Eine Schwangerschaft war bei der zweiten Bauersfamilie der Grund für die Helfersuche. Allerdings ist der Zuspruch und die Unterstützung von den eigenen Familien sehr gross: da kamen die Eltern und Geschwister am Wochenende zum Mithelfen, wo es nur ging, das war beeindruckend.

Der Vorgänger der Berner Bauern lebt noch immer mit seiner Frau auf dem Hof und muss mit über 70 Jahren noch als Milchbeschauer arbeiten, weil sonst das Geld nirgends reicht. Das finde ich schon bedenklich.

Auf welche Art hast Du von Deinem Einsatz profitieren können?

Ich habe sehr viel über die Herstellung von Lebensmitteln lernen können, vor allem beim Käse im Kupferkessel produzieren, das war sehr urig. Nicht nur, was da an Wissen dahintersteckt, sondern auch der enorme Zeitaufwand, der dafür notwendig ist. Das weiss man alles gar nicht, wenn man im Laden vor den Waren steht. Da erschliessen sich mir die günstigen Preise bei den Grosshändlern nicht immer. Diese Älpler verdienen für ihre Arbeit höchsten Respekt. 

Dann musste ich feststellen, dass wir «Städter» uns manchmal ein Bild vom Landleben fern der Realität machen. Bei den Abstimmungen schreiben wir Gesetze häufig mehr nach Bauchgefühl, oder lesen das Pro und Contra und setzen das Kreuz nach Sympathie. Aber jetzt, wo ich weiss, was so ein Kreuzchen in Echt für Auswirkungen hat – zwar für die, die es wirklich betrifft und nicht für die hier am Zürichsee – da haben sich meine Ansichten schon geändert, gerade was den Wolf betrifft – auch wenn das jetzt einige nicht gerne hören.

Eindrücklich ist auch, dass diese herrlichen Blumenwiesen, welche die Wanderer so bewundern und geniessen, nur dank der Bewirtschaftung der Alpen so vielfältig und schön sind. Dass der Bauer häufig den Abfall dieser Besucher zusammenklauben muss, ist gelinde gesagt bedauerlich. Es kommt auch vor, dass Freerider im Winter mit dem Bolzenschneider die Zäune im Waldgebiet durchschneiden, obwohl es verboten ist, dort durchzufahren. Aus eigener Erfahrung weiss ich, welch harte Arbeit zäunen ist, und die willkürliche Zerstörung dieser Arbeit ist einfach respektlos.

Gab es Momente, wo Dir der Einsatz schwerfiel?

Nicht wirklich. Im Oberland bestand die Herausforderung darin, den Dialekt zu verstehen, weil ich anfangs gesagt habe, sie könnten ruhig Dialekt reden … ich habe dann aber wirklich vieles nicht verstanden (muss lachen). 

Das zweite Mal stiess ich leicht an meine Grenzen, als die Obwaldner-Mädchen fragten, ob ich mit ihnen spielen würde und die dann so Rollenspiele als Tierärztin und Patientin gemacht haben. Meine Versuche, die Kinder für andere Spiele zu begeistern, scheiterten oft kläglich. 

Wie steht es mit der ­Kultur, hast Du da Erfahrungen ­gemacht?

Im Oberland haben wir in einem festlichen Alpaufzug das Vieh auf die Alp gebracht. Der Bauer bestand darauf, dass ich eines dieser Edelweisshemden trage, so wie die anderen Helfer auch. Er selbst gewandete sich mit dieser schwarzen Samtjacke, weissem Hemd und brauner Hose. Tradition ist sehr wichtig. Die Kühe trugen beim etwa einstündigen Aufzug diese wunderbaren, grossen, schweren Treicheln, die später bis zum Abzug repräsentativ vor dem Stall hängen. 

In Obwalden gehören die Alpen der Kooperation und werden alle zwölf Jahre verlost. Das soll verhindern, dass die einen Landwirte immer nur die mühsamen, strengen Gebiete bekommen und andere die schön flachen Weiden. Diese Vorgehensweise ist, glaube ich, einmalig in der Schweiz.

Ein bisschen Traditionsgefühl kam auch auf, wenn die neunjährige Tochter auf dem Handörgeli gespielt hat, wenn auch moderne Lieder, die man auch im Radio hört. 

Ist dieser Bergeinsatz etwas, das Du nochmals machen oder auch weiterempfehlen würdest?

Ja, unbedingt! Gerade bei der ersten Bauernfamilie ist der Funke total übergesprungen. Die waren so herzig untereinander und mit den Tieren, haben so viel Freude und Leidenschaft für ihre Arbeit, das hat mich sehr berührt. Auch die Ideen, die sie haben und von denen die Alten im Dorf tatsächlich auch schon einiges abgeschaut und nachgemacht haben, das hat wirklich alles Sinn gemacht für mich.

Empfehlen kann ich so einen Einsatz wohl jedem. Man ist nie zu alt oder zu jung, um dazuzulernen und Neues zu entdecken. Und man kann sich auch für leichte Arbeiten anmelden, wenn man körperlich nicht mehr so fit ist.   

www.bergeinsatz.ch/de/home.html

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