Kolumne

Katastrophale Zeiten

Man könnte sagen, wir leben gerade in katastrophalen Zeiten. Ich will mir nicht vorstellen, wie wohlig sich Corona in den überfüllten U-Bahnstationen fühlt, wie schlimm es sein muss mit diesen Grippesymptomen auf der Flucht zu sein, in überfüllten Zügen, beim stundenlangen Warten an Grenzübergängen oder auf einem Fussmarsch, weil per Fahrzeug kein Fortkommen mehr ist. Man kann sich nicht ins Bett legen, fünf Tage in Isolation gehen und alles auskurieren. Da ist kein Zuhause, kein wohliges Bett, keine Wohnung mehr. Es bleibt nur noch die Flucht vor viel heftigeren Gefahren, als dem Virus, nämlich solchen, die aller Leben und Freiheit bedrohen. Ginge es nur um das eigene Leben, wäre es schon schlimm genug, aber wer die Verantwortung für Kinder oder alte Menschen trägt, für den ist alles noch um ein Vielfaches bedrohlicher und beschwerlicher. Katastrophe, Katastrophe, Katastrophe … man möchte sich die Ohren zuhalten, nichts davon wissen, jetzt, wo wir doch endlich mit ein wenig Normalität gerechnet haben! Doch so ist das Leben nicht. Es richtet sich nicht nach unseren Wünschen. Man wundert sich, dass es sich immer wieder mal dem Gewalttätigen, dem Despotischen, dem Bösen beugt und dies, wo wir doch hier im Westen mehrheitlich nicht wirklich an das Böse glauben wollen.
Und nun trifft dieser totalitäre Machtanspruch Menschen wie Dich und mich. Da ist es verständlich, wenn vielleicht ungerecht, dass wir uns mit den Menschen aus der Ukraine besonders gut identifizieren können, dass unsere Hilfsbereitschaft deswegen auch ungleich grösser ist, als anderen Flüchtlingen gegenüber. Von einem Tag auf den anderen wurde uns bewusst, dass es auch möglich ist, hier im Westen, dass alles, was wir lieben und aufgebaut haben, zerstört werden könnte. Und erscheint sie uns barbarisch, unzivilisiert, brachial, im westlichen Sinne kaum verhandelbar, diese Gewalt eines kleinen Mannes mit grossen Machtansprüchen und seine Desinformationen gar unglaublich lächerlich, so können wir doch nicht umhin fassungslos zu staunen, welche zerstörerische Wirkung dies alles erzielt, und wie wenig unsere friedliche, liberale und diplomatische Haltung im Angesicht dieses Irrsinns noch wert ist. Und ich frage mich ganz persönlich, ob ich den Mut hätte, mich vor einen Panzer zu stellen und Widerstand zu leisten. So viel Mut!
Wo die Waffen sprechen, töten und zerstören, scheint es, als hätten man die Sprache der Wahrheit und Vernunft verlernt. Die Gewalt spricht, und ich erwische mich bei Gedanken, die eine Aufrüstung begrüssen, weil Krieg plötzlich eine Möglichkeit wurde.
Doch ich bin auch oder vor allem Mutter, und ich will keinem Kriegsherrn meine Söhne geben und auch nicht meinen Mann und nicht mein schönes Leben. Verdammt!

Ingrid Eva Liedtke

 

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