Richterswil

Mail aus England: Ein Richterswiler in Wiltshire

Immer kam meine Entscheidung mit viel Verwirrung und grossem Staunen an. Besonders, weil meine Erfahrung nicht «normal» war und alles andere als üblich. Mein Name ist Samuel Morris, ich komme aus Richterswil, und momentan befinde ich mich in einem Internat im County Wiltshire, England.
Den Gedanken, einen Austausch zu machen, hatte ich schon immer. Die Idee, die Schweiz für eine Zeit zu verlassen und neue Erfahrungen zu machen, sah für mich immer attraktiv aus. Neue Leute, neue Kultur, neues Leben. Mit dem Wissen, immer ein Zuhause in der Schweiz zu haben. Klingt super, oder?
Typisch ist es nach der Sekundarschule ein Jahr ins Ausland zu gehen und danach die Lehrstelle zu starten. Somit verpasst man keinen Stoff und kann seine Zeit vollkommen geniessen. Als ich also die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium bestand, dachte ich, meine Idee für einen Auslandaufenthalt sei unmöglich. Und das ich bis nach meiner Zeit im Gymi warten müsse.
Falsch. Es war nämlich möglich ein Jahr oder ein halbes Jahr ins Ausland zu gehen und trotzdem noch im Gymi zu bleiben. Dies zu erfahren, bedeutete für mich: ab ans Planen. Da die Schule aber parallel zu meiner Zeit im Ausland laufen würde, war mir bewusst, dass ich nur ein halbes Jahr gehen will. Schliesslich wollte ich in der Schweiz abschliessen. Nun lag es also an mir, alles zu Organisieren. Viele Dinge mussten in Ordnung gebracht werden, damit es funktionieren konnte.
Nun hiess es Mitte Sommer «Samuel absolviert im Januar für ein Semester in England». Und nein, nicht wie es alle anderen machen. Nicht in einer Gastfamilie. Nämlich in einem richtigen englischen Internat. Natürlich wurden mir viele verwirrte Blicke entgegengebracht. Wieso ging ich nicht in eine Gastfamile? Nun, das Ziel war es eine neue Erfahrung zu machen. Das Leben in einer Familie kannte ich doch schon. Um also die grösstmögliche Umstellung zu erleben, entschied meine Familie mit mir, dass ich in ein Internat gehe.
Nach schwierigem Abschied in der Schweiz und etlichen Covid-Tests bin ich nun hier. Und das schon seit 5 Wochen. Die Zeit vergeht wie nichts. Was ich vornewegnehmen muss ist, dass es eine vollkommen andere Erfahrung ist, in einem Land zu leben, als dort im Urlaub zu sein. Ich war schon oft in England. Trotzdem war die Umstellung ins Leben hier nicht leicht.

In England gibt es das sogenannte Sixth Form. Im Sixth Form sind Schüler in ihren letzten zwei Schuljahren. Lower Sixth und Higher Sixth. Da ich noch eher Jung bin gehöre ich ins Lower Sixth. Im Wohngebäude teile ich ein Zimmer. Wer mein Mitbewohner ist, erfuhr ich erst bei meiner Ankunft. Stellt Euch vor: Ihr erfahrt Minuten zuvor, mit wem Ihr ein halbes Jahr das Zimmer teilen werdet. Glücklicherweise ist er ein netter Typ, und wir verstehen uns sehr gut. Ich packte also meine Dinge aus und machte mich bereit fürs Abendessen. Fürs Abendessen setzte ich mich zu einer Gruppe von Schülern und realisierte schnell, dass man in einem Internat ohne Snacks und Fertignudeln schlecht überleben kann. Das Essen war nämlich nicht gut, geschmackslos und sehr wässerig. Ich wundere mich, wieso es so schwierig ist, Pasta zu kochen. Aufgeregt liess ich mich nun in mein schmales Bett fallen und erwartete den nächsten Tag. Um 7.30 Uhr heisst es Aufstehen im Internat. Eigentlich recht spät. Im Vergleich zur Schweiz ist das ungefähr eine Stunde später.
Bevor es zum Frühstück ging, hiess es Anzug anziehen. Und natürlich war das auch gewöhnungsbedürftig. Den ganzen Tag, fünf Tage in der Woche, einen Anzug zu tragen, war neu. In der Schweiz geht man jeden Tag wie üblich zu seinen Lektionen. In England, besonders in einem Internat, muss man sich jedoch zuerst in sogenannten «Tutor Groups» registrieren. Diese Gruppen bestehen aus einem Lehrer und etwa 10–15 Schülern. In diesen Gruppen wird jeden Morgen den Ablauf des Tages besprochen und worauf geachtet werden muss. Ich bekam an diesem Tag meinen Stundenplan. Mir wurde kurz in Theorie beschrieben, wo alles ist, und ab da war ich allein. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wo meine erste Mathelektion war. Schon 10 Minuten zu spät lief ich auf dem Campus herum und fragte nach Hilfe. Nach einer Weile begleitete mich eine Lehrerin zu meiner ersten Schulstunde. Da ich neu war, wurde mir nicht vorgeworfen, zu spät zu sein.
Die Schule endete um vier. Auch anders zur Schweiz ist, dass wir danach sogenannte Aktivitäten besuchen müssen. Da ich jedoch ein später Ankömmling war, waren viele Aktivitäten schon ausgebucht, viele Sportklubs schon voll. Schliesslich entschied ich mich jedoch Astronomie am Montag, Newsletter am Dienstag und eine Diskussionsgruppe am Freitag zu besuchen. Am Mittwoch wurde ich ins Green Team eingeteilt und am Donnerstag hatte ich Tennislektionen. Ein voller Stundenplan also. Insgesamt studiere ich hier 6 Fächer. Ich absolviere hier das internationale Baccalauréat. Mich an 6 Fächer zu gewöhnen war auch eine Umstellung, da ich in der Schweiz fast das Doppelte lernte. Die ersten Wochen waren schwierig. Ich war oft auf mich gestellt. Ich bekam selten Hilfe oder Unterstützung von der Schule selbst. Wäre ich den Lehrern nicht hinterhergerannt, um meine Aktivitäten zu organisieren, wären sie wahrscheinlich immer noch nicht organisiert. Auch wechselte ich nach einer Woche von Deutsch zu Französisch, da der Standard in Deutsch in der Schweiz viel höher war. Natürlich war der französisch-englische Akzent der Lehrer Anfangs recht lustig. Was ich aber gut finde ist, dass wir mit einer französisch sprechenden Person Sprechunterricht haben. Meiner Meinung nach bringt dies vielmehr als eine Sprache durch endlose Grammatik-Lektionen zu lernen.
Was auch anders ist, ist dass wir jede Woche verschiedene Lektüren haben. Diese Lektüren finden normalerweise am Mittwoch statt. Bis jetzt hatte ich schon eine Lektüre über «Kriegsfotographie» und «Steuern». Eine weitere Umstellung sind die wöchentlichen Kirchgänge. Jeden Montag müssen wir anstatt Tutor in die grosse Kirche im Dorf. Dort wird auch etwas über die Schule berichtet und einen guten Start in die neue Woche gewünscht. Dazu müssen wir jeden Sonntagabend in eine kleinere Kirche.

Das tönt jetzt wohl alles recht gut und so. Leider leben wir aber immer noch in einer Pandemie, und die Coronasituation ist noch immer ein Riesenthema. Vor allem in einem Internat. Anfangs mussten wir 2-mal in der Woche Selbsttests machen. Als wir aber einen Fall im Wohngebäude hatten, wurde es auf tägliches Testen verschärft. Der eine Fall wurde zu zwei und danach zu drei Fällen und so weiter. Nach einer Woche hatten wir 10 Coronakranke im Haus. Ich hatte eine Maske an, wusch die Hände, tat alles, um von Covid geschont zu werden. Wäre ich zuhause in der Schweiz, hätte ich mir nicht so viel Mühe gegeben, denn dort hätte ich mein Bett, gutes Essen usw. wenn ich positiv wäre, und ich würde für mindestens 5 Tage im Zimmer isoliert.
Nach ca. 1 Woche traf es mich, und so verbrachte ich 9 Tage in Isolation in einem kleinen Zimmer. Die Regel ist, dass man erst wieder frei ist, wenn man einen negativen Test vorweisen kann. Neun Tage in einem Zimmer eingesperrt war hart. Ich durfte während der ganzen Zeit 2-mal nach draussen. Dazu war das Essen nicht sehr köstlich. Nach ewigem Warten bin ich aber wieder draussen und habe wie nie zuvor ein feines Sandwich so geschätzt.

Obwohl der Anfang mit Covid und alles eher schwieriger war, schätze ich meine Zeit extrem. Jede Sekunde. Alles ist anders. Die Leute, das Umfeld, die Schule, das Land usw. Ich bin froh hier zu sein. Ich merke auch, wie viel man persönlich aus einem Austausch mitnimmt. Schon nur während diesen 5 Wochen habe ich Erfahrungen gemacht und Leute kennengelernt, die mir fürs Leben bleiben werden.
Bist Du also unsicher oder hast Angst diesen Schritt zu wagen, dann kann ich nur raten mutig zu sein. Denn Mut braucht es auf jeden Fall.

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