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Mario Pinggera: „Das macht was mit einem“

Satte 293 Seiten umfasst die Arbeit samt umfangreichem Anhang, für die Pfarrer Mario Pinggera aus Richterswil am 5. Mai 2020 die Doktorwürde verliehen wurde – «magna cum laude». In seinem umfassenden Werk geht es um die Aufarbeitung eines düsteren Kapitels: «Musik und Kirche unter dem Einfluss der nationalsozialistischen Diktatur in Südtirol. Musik und Volksfrömmigkeit im Spannungsfeld einer Diktatur». Anfang Juni konnten wir nach weiteren Lockerungen der Pandemie-Massnahmen ein Interview mit ihm führen.

Lieber Mario, herzliche Gratulation zur Doktorwürde für Deine umfangreiche Forschungsarbeit zur Musik und Kirche während der nationalsozialistischen Diktatur in Südtirol. Wie kommst Du als Pfarrer und Kirchenmusiker dazu, Dich mit dem Nationalsozialismus und der Kirchenmusik zu befassen?

Seit meiner Jugendzeit habe ich mich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Ich selbst hatte Lehrer mit NS-Hintergrund. Ich wollte Antworten auf die Frage, wie musikalische Genies dazu kommen, ihre Fähigkeiten in den Dienst eines Regimes zu stellen und die Musik dafür letztlich auch zu missbrauchen. Dass ich mich auf die Region Südtirol eingrenzte, hat damit zu tun, dass hier noch keine Forschungsarbeiten vorlagen. Zudem bin ich selbst ein halber Südtiroler …

Und zu welchen zentralen Erkenntnissen bist Du gekommen?

Eine Ideologie ist immer besitzergreifend. Und sie macht sich existierende Strukturen zu Nutze. Es waren mehrere Faktoren, die zusammen dazu führten, den Nationalsozialismus mit Begeisterung aufzunehmen. In Südtirol war es die Unterdrückung der deutschen Sprache und Kultur durch den Faschismus unter Mussolini, welche ein neues «Wir-Gefühl» mit Deutschland begünstigte. Überall gab es Musikkapellen, die man sich zunutze machte. Die ohnehin beliebte Marschmusik bot sich für die Verbreitung dieses neuen Heimat- und Gemeinschaftsgefühls an. Hinzu kamen gemeinsame Feindbilder zum Beispiel gegen Juden.

Mussolini hatte die Musikkapellen praktisch verstaatlicht. Wer keine italienische Uniform anziehen und in der faschistischen Freizeitorganisation «Opera Nazionale Dopolavoro» mitmachen wollte, musste seine Instrumente abgeben. Musikkapellen, die nicht mitmachten, wurden aufgelöst.

Wie reagierten die bekannteren Komponisten und Musiker?

Einige Musiker zeigten Charakter, zum Beispiel Josef Lechthaler, Vinzenz Goller und Franz Beno Kirchmair, machten keine Kompromisse in der Sache der Musik, unterwarfen sich nicht und wurden abgesetzt. Andere liessen sich in den Sog ziehen, wie Josef Eduard Ploner, Sepp Tanzer und Sepp Thaler, und machten begeistert mit und  beförderten mit ihrer Kunst die gewalttätige und menschenverachtende Bewegung der Nazis. 

War es menschliche Schwäche, Charakterschwäche? Denn nur ein gefestigter Charakter kann solche emotional aufgeladenen Stimmungen durchschauen. Fatal war, dass die katholische Volksfrömmigkeit und das Musikalische, welches den Lobpreis Gottes in die Mitte stellte, sich mit dem nationalsozialistischen Gedankengut vermischte. Die eingängige Melodie von «Grosser Gott wir loben dich» zum Beispiel wurde mit neuen Strophen und Inhalten gefüllt und pervertiert.

Bis heute werden Märsche von Sepp Tanzer kommentarlos gespielt, zum Beispiel der Standschützenmarsch mit dem Text von Josef Ploner. Eine diesbezügliche Studie des Landes Tirol, Innsbruck, die Musikkapellen betreffend, wurde in Auftrag gegeben, aber die Resultate sind seit Jahren unter Verschluss. Wer heute noch sagt, «ich habe davon nichts gewusst», wo man mit wenigen Mausklicks im Internet alles findet, ist zumindest fahrlässig nachlässig.

Da ist also vieles bis heute nicht aufgearbeitet?

Bei meinen Recherchen in Archiven fand ich zahlreiches Material. Die Nazis haben alles minuziös gesammelt und protokolliert, auch ihre brutalen Folterungen und Ermordungen. Das macht was mit einem, keine Frage. Umso befremdlicher war es, wenn mein mehrfaches Nachfragen bei Musikkapellen nur zögerlich oder gar nicht beantwortet wurde.

Sind denn auch gläubige Christen so leicht zu manipulieren gewesen?

Das ist die uralte Frage danach, wie der Mensch reagiert, wenn es «kritisch» wird. Die Bibel gibt uns eindrückliche Zeugnisse menschlicher Schwachheit. Schauen wir uns Judas, Petrus und Pilatus an. Sie alle kannten Jesus, waren beeindruckt von der Kraft seiner Botschaft. Sie wollten es alle «gut und richtig» machen. Doch sie alle sind in konkreten Situationen dann schwach geworden. Es ist die Frage danach, wie «dehnbar» der Mensch gegenüber seinen Werten ist. Wie tief er den Buckel vor Obrigkeiten bereit ist zu machen. Aber auch in seinem Innersten, vor dem Gewissen. Wenn die Angst regiert, wird die Vernunft ausgeschaltet. Nur wenige Menschen sind innerlich so frei, eigene Nachteile in Kauf zu nehmen, wenn ihre Anstellung, ihre Existenz, ihr Ruf, ihre Familie und ihr Leben auf dem Spiel stehen.

Sind religiöse Menschen weniger gefährdet, einem politischen Regime gegenüber hörig zu werden?

Wer seine Religion praktiziert (den gesunden Menschenverstand dabei vorausgesetzt) und eine lebendige Beziehung zu Gott pflegt, ist weniger anfällig für Ideologien aller Art! Denn der Gläubige hat ein anderes Mass und kann aufkommende Strömungen, ob politisch oder gesellschaftlich, aufgrund der religiösen Kultur, dem Menschenbild und der Werte, kritischer analysieren und somit besser widerstehen. Jeder Lobpreis Gottes ist im Grunde eine Gefahr für das totalitäre Establishment. Wer «Grosser Gott wir loben dich» singt, betet damit eben genau nicht einen Führer oder eine neue Ideologie an. Darum war es für die Nazis so bedeutsam, die Volksfrömmigkeit über die Musik zu beeinflussen und sie zu manipulieren. Über die Musik erreicht man die Herzen der Menschen. Kirchenmusik ist nicht harmlos, wie man meinen könnte.

Ein Beispiel?

Im Gotteslob des Bistums Mainz (Ausgabe von 1975) gibt es ein Adventslied unter der Nummer 809. Es stammt aus den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Darin heisst es: «Der Satan löscht die Lichter aus und lässt die Welt erblinden. Wir suchen einen Weg nach Haus …» und weiter in Strophe zwei und drei: «Menschen treiben arge List und sinnen viele Lügen», «das Leben ist nicht liebenswert in diesen bösen Zeiten». Dies zu singen, während die SS durch die Strassen zieht und die kirchliche Jugendbewegung zusehends eingeschränkt wurde, hatte eine ganz eigene Kraft. Über das christliche Liedergut konnte sich teilweise eine innere Eigenständigkeit bewahrt werden. 

Insgesamt kann man von einem «Bollwerk» gegen die Nationalsozialisten sprechen (leider gibt es da auch Ausnahmen), wenn es um die Kirche in Südtirol ging. Und das war alles andere als selbstverständlich. Das reichhaltige kirchlich-musikalische Leben, so sehr es auch von Restriktionen bedroht war, war eben nicht bis in die hintersten Täler einsehbar oder kontrollierbar. Zu Hause, in der Messe, bei Taufen, Hochzeiten und an jeder Beerdigung wurde gebetet und musiziert. Wer wusste schon von den einschlägigen Prozessionen etwa am Fest Herz-Jesu oder an Maria Himmelfahrt im hintersten Ultental oder im Passeiertal? Aber es gab auch Sympathisanten, ja zum Teil Enthusiasten, sowie zahlreiche «kleinere Helfer» und Denunzianten. 

Was heisst das nun für die Weiterentwicklung der Kirchenmusik heute? Sind die Erkenntnisse über das spannungsreiche Zusammenspiel zwischen Kirchenmusik und Vereinnahmung verwertbar?

Eine Anfrage an die Kirchenmusik heute möchte ich schon aussprechen. Bei den Versuchen, moderne, neue Lieder zu finden und das ältere Liedgut teilweise als überholt anzusehen, frage ich nach dem eigentlichen Ziel der Musik oder nach der Botschaft und nach der Nachhaltigkeit mancher durchaus schöner Events. Mit harmlosen Wohlfühl-Inhalten, die kein Geschichtsbewusstsein mehr erkennen lassen, kommen wir nicht weiter. Es gibt keine Zukunft ohne konkrete Praxis vor Ort. Es geht um die Auswahl von Stücken, welche die Stimmung der Anwesenden aufzugreifen vermag und die das Bekenntnis und die Wahrheit des christlichen Glaubens nicht verraten. Flexibilität und Empathie sind hier wichtig. Das Dialogische in der Liturgie zu pflegen, nicht alles zu planen, sondern auch aus dem Moment heraus zu reagieren. Musik zu erschaffen und zu verwenden, die zu tragen vermag. Die Möglichkeiten nutzen, die mit den Menschen vor Ort da sind. Ein Bedürfnis nach neuen, mystischen Erfahrungen ist vorhanden. Es ist an der Zeit, dem auch musikalisch wieder neu zu entsprechen.

An dieser Stelle holt Mario einige Ordner aus dem Nebenzimmer hervor mit Eigenkompositionen: Liedverse zum Evangelium, Antwort-Psalmen, vierstimmige Marienlieder. Er nutzte mit seinem Team die Corona-Zeit, um neue Stücke einzuüben. Hier hat er im Sinn, eine Edition zu starten. Als Beispiel zeigt er aus einem der letzten Gottesdienste mit Live-Stream eine vierstimmige Aufnahme zum Lied «Wir ziehen zur Mutter der Gnaden». Er betont, dass es sich lohne, in den bekannten liturgischen Formen, Gesang und Mehrstimmigkeit zu investieren. 

Lieber Mario, ein Ausblick: Wie geht es weiter mit unserer Kirche?

Wir müssen uns wieder unseres Auftrages bewusst werden, nicht bloss auf Strukturen schauen. Wir brauchen nicht nur einen guten neuen Bischof, sondern es braucht uns alle für eine Erneuerung aus dem Glauben. Das Schönste ist, die Menschen auf diesem Weg zu begleiten.

Das Interview führten Sabine und Felix Zgraggen aus der Nachbarpfarrei in Wädenswil. Die Dissertation wird in der Churer Schriften-Reihe des Universitätsverlages Freiburg im 2021 heraus kommen. 

Mario Pinggera ist seit 14 Jahren Pfarrer in Richterswil und auch als Dozent für Kirchenmusik an der Theologischen Universität in Chur tätig.

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