Zum Jubiläum von «150 Jahre Bühl» liess die Stiftung ein Buch verfassen. Zur Buchvernissage mit anschliessender Podiumsdiskussion mit dem Thema «Wie inklusiv ist unsere Gesellschaft?» traf man sich am Donnerstagabend des 6. Januars in der Stiftung Bühl, der ältesten Stiftung der Deutschschweiz.
Text & Bilder: Ingrid Eva Liedtke
Zur Eröffnung des Abends und zur Begrüssung der zahlreich erschienen Gäste treten zuerst Andreas Meier, seines Zeichens Stiftungsratspräsident, und Brigitte Steimen, Direktorin der Stiftung Bühl, auf die Bühne. Sie sprechen von ihrem Stolz über die 150-jährige Geschichte, aber auch darüber, sorgsam mit dem Erbe umgehen zu wollen. Wichtig sei die Geschichte zu kennen, sie in der Gegenwart zu verstehen und dann die Zukunft zu gestalten. Die Frage: «Wie inklusiv ist unsere Gesellschaft?» und die weitere daraus resultierende, ob es Institutionen wie das Bühl in Zukunft überhaupt noch brauchen wird, steht im Raum, zusammen mit weiteren Fragen nach der Finanzierung von beruflicher Integration und ihren Möglichkeiten in einem hochdigitalisierten Zeitalter. Die Podiumsdiskussion wird sich ihrer annehmen.
Nachdem die Bühl-Band mit dem Oberstufenchor das Publikum mit ihrem Eröffnungssong «We will rock you» rockte, ist die Bühne frei für Adrian Scherrer, Historiker und Redaktor des zum Anlass herausgegebenen Buches «mehr können lernen». Er führt das Publikum ein in die spannende Geschichte des Bühls, die er, wie er sagt, mit grosser Begeisterung aufgearbeitet hat – zusammen mit weiteren Autoren – in der Absicht, diese Geschichte in einen grösseren Zusammenhang zu stellen.
Auch Klienten kommen in dem Buch zu Wort. Wie sich im Laufe des Abends zeigen wird, ist man sich in den Begrifflichkeiten immer noch nicht einig, denn «behinderte Menschen» lassen sich nicht gerne begrifflich behindern.
Anmerkung der Autorin: Ich habe mich mit meiner Tochter, die ein Downsyndrom hat, darauf geeinigt, dass sie ein spezieller Mensch ist, speziell und einzigartig, wie jeder Mensch.
Start dank Julius Hauser Um also solch speziellen Menschen, die in unserer Gesellschaft oft benachteiligt waren und sind, zu helfen und darin zu unterstützen, auch ihren Platz zu finden, gründete Julius Hauser (1834–1897) in einem Bauernhaus, das er aus dem Konkurs eines seiner Mündel gekauft hatte, das Kinderheim Bühl. Julius Hauser war bekannt als sehr religiöser und wohltätiger Mann. So tilgte er mit dem Hauskauf auch die Schulden vom ehemaligen Bauern auf dem Hof Bühl. 1870 startete das Ehepaar Barbara und Karl Melchert (1838–1896) den Heimbetrieb mit zehn Buben und Mädchen. Der Hauptertrag des Kinderheims kam aus der Landwirtschaft und von den Taggeldern für die Kinder. Nach zwanzig Jahren waren es schon 57 Kinder und die Ins-titution wuchs. Sie galt schon im 19. Jahrhundert als gross. Die Heimeltern ihrerseits begründeten eine lange Familientradition, die 100 Jahre andauerte. Wenn ein Hauselternteil verstarb, kam durch Heirat ein neuer dazu. Die letzte in dieser Reihe war die Berner Lehrerin Lydia Roggli (1899–1982). Sie leitete das Bühl über vier Jahrzehnte.
Schon seit der Gründung des Kinderheims war es ein Anliegen, die Kinder im Bühl zu fördern. Es gab von Anfang an ein pädagogisches Konzept. Lydia Roggli drückte der Institution dann einen fortschrittlichen Stempel auf. Sie war sowohl gut ausgebildet wie auch vernetzt. Sie war nicht nur Hausmutter, sondern auch eine Pionierin der Heilpädagogik.
In ihrer Zeit kam es zu einem tragischen Ereignis, dem Brand von 1932, bei dem zwölf Menschen zu Tode kamen und das Gebäude bis auf die Grundmauern niederbrannte. Es war Brandstiftung. Ein Bewohner hatte das Feuer aus Eifersucht gelegt, konnte aber nicht belangt werden. Diese Tragödie löste in der Nachbarschaft und auch im weiteren Umfeld eine grosse Hilfsbereitschaft aus. Die Kinder wurden in verschiedenen Familien untergebracht und es wurde Geld für den Wiederaufbau gesammelt. Innert kurzer Zeit kamen aus der ganzen Deutschschweiz 75 000 Franken zusammen. Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre war das eine enorme Summe, die heute mehr als einer Million Franken entsprechen würde.
Gründung der Stiftung Das Kinderheim wurde wieder aufgebaut auf Land, das vorher landwirtschaftlich genutzt worden war. Treibende Kraft war Lydia Roggli. Der Kanton beteiligte sich erstmals auch und eine Stiftung wurde eingerichtet. Wohngruppen wurden gebildet und diverse neue Unterrichtsformen nahmen Einzug in erste Konzepte für die Berufsbildung. In den 70er-Jahren wurde das Bühl zu einer komplexen Institution ausgebaut und entwickelte sich seither immer weiter, indem man sie auch den sich verändernden Bedingungen anpasste.
Beruhigend zu hören ist auch, dass im Umfeld der Institution keinerlei Missbrauchsfälle aufzudecken waren. Adrian Scherrer hat den Auftrag erhalten, allfällige dunkle Flecken aufzudecken, aber es war nichts zu finden. Heute ist die Stiftung Bühl eine der grössten und vielfältigsten Institutionen für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung oder Lernbehinderung in der Deutschschweiz, mit rund 200 Plätzen und 300 Mitarbeitenden. Wie anfangs erwähnt, ist das Jubiläum ebenso eine Gelegenheit, die aktuelle Situation zu hinterfragen und einen Blick in die Zukunft zu werfen. Was bedeutet Integration bzw. Inklusion für die Stiftung Bühl? Braucht es die Stiftung weiterhin?
Betroffene berichten Wie gut die Gesellschaft mit behinderten Menschen umgeht, kann niemand besser beantworten als die Betroffenen selbst. Bevor die Diskussionsteilnehmer ihr Podiumsgespräch starten, lädt darum Direktorin Brigitte Steimen zwei Jugendliche ein, mit ihr darüber zu sprechen, wie es ihnen im Bühl gefällt und was sie sich von der Gesellschaft wünschen. Allegra Hasler (16) schildert, wie sie zuerst in die normale Schule ging und dort unter Druck und Zeitmangel litt, und auch, wie ihre Mitschüler manchmal fies ihr gegenüber waren. Hier im Bühl gefällt es ihr sehr gut. Sie hat schon an verschiedenen Orten «geschnuppert», in der Restauration, in der Bäckerei und nun am Empfang. Sie wünscht sich, dass die Menschen netter sind zueinander. «Wir sind nett und man muss nicht Angst vor uns haben. Wir wollen nichts falsch machen.»
Claude Müller macht eine Lehre als Hauswart. Das liegt ihm. Würde er etwas verändern? «Nein, man macht das, was man am besten kann!» Logisch. Er hat seinen Platz gefunden, was zeigt, dass die Gesellschaft die Verpflichtung, auch beeinträchtigte Personen zu integrieren, ernst nimmt. Trotzdem muss noch viel getan, noch viel überdacht werden.
Moderatorin Cornelia Kazis sagt: «Es bleibt noch Luft nach oben.» Gut vorbereitet und geschmeidig moderiert sie das Podiumsgespräch. Nach einer Vorstellungsrunde fragte die Journalistin und Pädagogin die vier Gesprächsteilnehmer nach einer Beurteilung, wie integrativ sie die Gesellschaft empfinden. Rochus Burtscher, SVP-Kantonsrat und Vater einer Tochter, die im Bühl zur Schule ging, erteilt der Gesellschaft drei von zehn möglichen Punkten, wie auch Alexa von Klitzing, die Präsidentin der Elternorganisation Insieme Horgen. Auch ihre Tochter erhielt ihre Ausbildung im Bühl. Beide haben die Erfahrung gemacht, dass es für die behinderten Jugendlichen schwierig ist, nach einer Anlehre eine geeignete Anschlusslösung in den regulären Arbeitsmarkt zu finden.
Silvan Muffler ist Leiter der Berufsbildung der Migros Zürich und kann dies bestätigen: «Wir haben behinderte Jugendliche, die bei der Anlehre gut zurechtkommen, in der Arbeitswelt dann jedoch mit den Arbeitszeiten überfordert sind.» Trotzdem verleiht er der Gesellschaft eine 5er-Skalierung, so auch Daniel Frei, Alt-Nationalrat der GLP und Präsident von Insos Zürich (kantonaler Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Behinderung). Auch er kennt die Schwierigkeiten der Integration aus der Praxis. Es dauerte fast zwei Jahre, bis sein Team sich an die Arbeitsweise einer kognitiv beeinträchtigten Person im Sekretariat gewöhnt hatte. «Und dies, obwohl wir affin sind für diese Menschen.»
Eine Bereicherung Man ist sich einig, dass behinderte Menschen in der Arbeitswelt gerade wegen ihrer Andersartigkeit eine Bereicherung sind und sich deshalb der Aufwand lohnt, sie zu integrieren. Von Klitzing spricht von der Präambel in der Bundesverfassung, dass der Wert einer Gesellschaft an ihrem Umgang mit ihren Schwächsten gemessen wird. Sie weiss auch von negativen Beispielen, von Firmen, die sich aus der Verantwortung kaufen. Eine Möglichkeit, die Integration voranzutreiben sieht von Klitzing in Teilzeitstellen und einer engmaschigeren Betreuung. Burtscher hält es für notwendig, die administrativen Hürden zu senken, um die Arbeitgeber zur Integration zu motivieren. Die Gesprächsteilnehmer sind sich einig, dass es trotz der UNO-Behindertenrechtskonvention weiterhin Institutionen wie die Stiftung Bühl braucht.
Es ist einiges im Aufbau, aber noch vieles nicht umgesetzt und immer wieder kommt auch die Frage auf, was überhaupt möglich ist und für wen. Nicht jeder spezielle Mensch, so von Klitzing, sei in den ersten Arbeitsmarkt integrierbar. «Wir brauchen Vorreiter und einen gewissen gesellschaftlichen Druck zur Integration.»
Dass eine Quote in den Betrieben nicht zielführend sei, darüber aber sind sich die Gesprächsteilnehmer einig. «Arbeitgeber müssen aus einer positiven Grundhaltung heraus mehr Arbeitsplätze generieren», sagt Muffler. Es wird dafür plädiert, mit den Menschen in Kontakt zu treten, was sich meistens als gar nicht schwierig erweise. Schliesslich ist es eine Frage der Haltung, in der Wirtschaft, in der Politik, aber vor allem des Einzelnen.
Cornelia Kazis findet dazu ein wunderbar passendes Schlusswort. Sie zitiert ihre Grossmutter: «Wer nicht will, findet Gründe. Wer will, findet Wege.»
Als betroffene Mutter kann ich abschliessend dazu sagen, dass es für jeden einzelnen Menschen, ob «normal» oder «speziell», die Möglichkeit geben sollte, seinen individuellen, passenden Weg zu gehen und dass wir alle in der Pflicht stehen. Denn wir sind die Gesellschaft, die jedem, der es braucht, dabei helfen sollte.
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Zum Jubiläum von «150 Jahre Bühl» liess die Stiftung ein Buch verfassen. Zur Buchvernissage mit anschliessender Podiumsdiskussion mit dem Thema «Wie inklusiv ist unsere Gesellschaft?» traf man sich am Donnerstagabend des 6. Januars in der Stiftung Bühl, der ältesten Stiftung der Deutschschweiz.
Text & Bilder: Ingrid Eva Liedtke
Zur Eröffnung des Abends und zur Begrüssung der zahlreich erschienen Gäste treten zuerst Andreas Meier, seines Zeichens Stiftungsratspräsident, und Brigitte Steimen, Direktorin der Stiftung Bühl, auf die Bühne. Sie sprechen von ihrem Stolz über die 150-jährige Geschichte, aber auch darüber, sorgsam mit dem Erbe umgehen zu wollen. Wichtig sei die Geschichte zu kennen, sie in der Gegenwart zu verstehen und dann die Zukunft zu gestalten. Die Frage: «Wie inklusiv ist unsere Gesellschaft?» und die weitere daraus resultierende, ob es Institutionen wie das Bühl in Zukunft überhaupt noch brauchen wird, steht im Raum, zusammen mit weiteren Fragen nach der Finanzierung von beruflicher Integration und ihren Möglichkeiten in einem hochdigitalisierten Zeitalter. Die Podiumsdiskussion wird sich ihrer annehmen.
Nachdem die Bühl-Band mit dem Oberstufenchor das Publikum mit ihrem Eröffnungssong «We will rock you» rockte, ist die Bühne frei für Adrian Scherrer, Historiker und Redaktor des zum Anlass herausgegebenen Buches «mehr können lernen». Er führt das Publikum ein in die spannende Geschichte des Bühls, die er, wie er sagt, mit grosser Begeisterung aufgearbeitet hat – zusammen mit weiteren Autoren – in der Absicht, diese Geschichte in einen grösseren Zusammenhang zu stellen.
Auch Klienten kommen in dem Buch zu Wort. Wie sich im Laufe des Abends zeigen wird, ist man sich in den Begrifflichkeiten immer noch nicht einig, denn «behinderte Menschen» lassen sich nicht gerne begrifflich behindern.
Anmerkung der Autorin: Ich habe mich mit meiner Tochter, die ein Downsyndrom hat, darauf geeinigt, dass sie ein spezieller Mensch ist, speziell und einzigartig, wie jeder Mensch.
Start dank Julius Hauser
Um also solch speziellen Menschen, die in unserer Gesellschaft oft benachteiligt waren und sind, zu helfen und darin zu unterstützen, auch ihren Platz zu finden, gründete Julius Hauser (1834–1897) in einem Bauernhaus, das er aus dem Konkurs eines seiner Mündel gekauft hatte, das Kinderheim Bühl. Julius Hauser war bekannt als sehr religiöser und wohltätiger Mann. So tilgte er mit dem Hauskauf auch die Schulden vom ehemaligen Bauern auf dem Hof Bühl. 1870 startete das Ehepaar Barbara und Karl Melchert (1838–1896) den Heimbetrieb mit zehn Buben und Mädchen. Der Hauptertrag des Kinderheims kam aus der Landwirtschaft und von den Taggeldern für die Kinder. Nach zwanzig Jahren waren es schon 57 Kinder und die Ins-titution wuchs. Sie galt schon im 19. Jahrhundert als gross. Die Heimeltern ihrerseits begründeten eine lange Familientradition, die 100 Jahre andauerte. Wenn ein Hauselternteil verstarb, kam durch Heirat ein neuer dazu. Die letzte in dieser Reihe war die Berner Lehrerin Lydia Roggli (1899–1982). Sie leitete das Bühl über vier Jahrzehnte.
Schon seit der Gründung des Kinderheims war es ein Anliegen, die Kinder im Bühl zu fördern. Es gab von Anfang an ein pädagogisches Konzept. Lydia Roggli drückte der Institution dann einen fortschrittlichen Stempel auf. Sie war sowohl gut ausgebildet wie auch vernetzt. Sie war nicht nur Hausmutter, sondern auch eine Pionierin der Heilpädagogik.
In ihrer Zeit kam es zu einem tragischen Ereignis, dem Brand von 1932, bei dem zwölf Menschen zu Tode kamen und das Gebäude bis auf die Grundmauern niederbrannte. Es war Brandstiftung. Ein Bewohner hatte das Feuer aus Eifersucht gelegt, konnte aber nicht belangt werden. Diese Tragödie löste in der Nachbarschaft und auch im weiteren Umfeld eine grosse Hilfsbereitschaft aus. Die Kinder wurden in verschiedenen Familien untergebracht und es wurde Geld für den Wiederaufbau gesammelt. Innert kurzer Zeit kamen aus der ganzen Deutschschweiz 75 000 Franken zusammen. Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre war das eine enorme Summe, die heute mehr als einer Million Franken entsprechen würde.
Gründung der Stiftung
Das Kinderheim wurde wieder aufgebaut auf Land, das vorher landwirtschaftlich genutzt worden war. Treibende Kraft war Lydia Roggli. Der Kanton beteiligte sich erstmals auch und eine Stiftung wurde eingerichtet. Wohngruppen wurden gebildet und diverse neue Unterrichtsformen nahmen Einzug in erste Konzepte für die Berufsbildung. In den 70er-Jahren wurde das Bühl zu einer komplexen Institution ausgebaut und entwickelte sich seither immer weiter, indem man sie auch den sich verändernden Bedingungen anpasste.
Beruhigend zu hören ist auch, dass im Umfeld der Institution keinerlei Missbrauchsfälle aufzudecken waren. Adrian Scherrer hat den Auftrag erhalten, allfällige dunkle Flecken aufzudecken, aber es war nichts zu finden. Heute ist die Stiftung Bühl eine der grössten und vielfältigsten Institutionen für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung oder Lernbehinderung in der Deutschschweiz, mit rund 200 Plätzen und 300 Mitarbeitenden. Wie anfangs erwähnt, ist das Jubiläum ebenso eine Gelegenheit, die aktuelle Situation zu hinterfragen und einen Blick in die Zukunft zu werfen. Was bedeutet Integration bzw. Inklusion für die Stiftung Bühl? Braucht es die Stiftung weiterhin?
Betroffene berichten
Wie gut die Gesellschaft mit behinderten Menschen umgeht, kann niemand besser beantworten als die Betroffenen selbst. Bevor die Diskussionsteilnehmer ihr Podiumsgespräch starten, lädt darum Direktorin Brigitte Steimen zwei Jugendliche ein, mit ihr darüber zu sprechen, wie es ihnen im Bühl gefällt und was sie sich von der Gesellschaft wünschen. Allegra Hasler (16) schildert, wie sie zuerst in die normale Schule ging und dort unter Druck und Zeitmangel litt, und auch, wie ihre Mitschüler manchmal fies ihr gegenüber waren. Hier im Bühl gefällt es ihr sehr gut. Sie hat schon an verschiedenen Orten «geschnuppert», in der Restauration, in der Bäckerei und nun am Empfang. Sie wünscht sich, dass die Menschen netter sind zueinander. «Wir sind nett und man muss nicht Angst vor uns haben. Wir wollen nichts falsch machen.»
Claude Müller macht eine Lehre als Hauswart. Das liegt ihm. Würde er etwas verändern? «Nein, man macht das, was man am besten kann!» Logisch. Er hat seinen Platz gefunden, was zeigt, dass die Gesellschaft die Verpflichtung, auch beeinträchtigte Personen zu integrieren, ernst nimmt. Trotzdem muss noch viel getan, noch viel überdacht werden.
Moderatorin Cornelia Kazis sagt: «Es bleibt noch Luft nach oben.» Gut vorbereitet und geschmeidig moderiert sie das Podiumsgespräch. Nach einer Vorstellungsrunde fragte die Journalistin und Pädagogin die vier Gesprächsteilnehmer nach einer Beurteilung, wie integrativ sie die Gesellschaft empfinden. Rochus Burtscher, SVP-Kantonsrat und Vater einer Tochter, die im Bühl zur Schule ging, erteilt der Gesellschaft drei von zehn möglichen Punkten, wie auch Alexa von Klitzing, die Präsidentin der Elternorganisation Insieme Horgen. Auch ihre Tochter erhielt ihre Ausbildung im Bühl. Beide haben die Erfahrung gemacht, dass es für die behinderten Jugendlichen schwierig ist, nach einer Anlehre eine geeignete Anschlusslösung in den regulären Arbeitsmarkt zu finden.
Silvan Muffler ist Leiter der Berufsbildung der Migros Zürich und kann dies bestätigen: «Wir haben behinderte Jugendliche, die bei der Anlehre gut zurechtkommen, in der Arbeitswelt dann jedoch mit den Arbeitszeiten überfordert sind.» Trotzdem verleiht er der Gesellschaft eine 5er-Skalierung, so auch Daniel Frei, Alt-Nationalrat der GLP und Präsident von Insos Zürich (kantonaler Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Behinderung). Auch er kennt die Schwierigkeiten der Integration aus der Praxis. Es dauerte fast zwei Jahre, bis sein Team sich an die Arbeitsweise einer kognitiv beeinträchtigten Person im Sekretariat gewöhnt hatte. «Und dies, obwohl wir affin sind für diese Menschen.»
Eine Bereicherung
Man ist sich einig, dass behinderte Menschen in der Arbeitswelt gerade wegen ihrer Andersartigkeit eine Bereicherung sind und sich deshalb der Aufwand lohnt, sie zu integrieren. Von Klitzing spricht von der Präambel in der Bundesverfassung, dass der Wert einer Gesellschaft an ihrem Umgang mit ihren Schwächsten gemessen wird. Sie weiss auch von negativen Beispielen, von Firmen, die sich aus der Verantwortung kaufen. Eine Möglichkeit, die Integration voranzutreiben sieht von Klitzing in Teilzeitstellen und einer engmaschigeren Betreuung. Burtscher hält es für notwendig, die administrativen Hürden zu senken, um die Arbeitgeber zur Integration zu motivieren. Die Gesprächsteilnehmer sind sich einig, dass es trotz der UNO-Behindertenrechtskonvention weiterhin Institutionen wie die Stiftung Bühl braucht.
Es ist einiges im Aufbau, aber noch vieles nicht umgesetzt und immer wieder kommt auch die Frage auf, was überhaupt möglich ist und für wen. Nicht jeder spezielle Mensch, so von Klitzing, sei in den ersten Arbeitsmarkt integrierbar. «Wir brauchen Vorreiter und einen gewissen gesellschaftlichen Druck zur Integration.»
Dass eine Quote in den Betrieben nicht zielführend sei, darüber aber sind sich die Gesprächsteilnehmer einig. «Arbeitgeber müssen aus einer positiven Grundhaltung heraus mehr Arbeitsplätze generieren», sagt Muffler. Es wird dafür plädiert, mit den Menschen in Kontakt zu treten, was sich meistens als gar nicht schwierig erweise. Schliesslich ist es eine Frage der Haltung, in der Wirtschaft, in der Politik, aber vor allem des Einzelnen.
Cornelia Kazis findet dazu ein wunderbar passendes Schlusswort. Sie zitiert ihre Grossmutter: «Wer nicht will, findet Gründe. Wer will, findet Wege.»
Als betroffene Mutter kann ich abschliessend dazu sagen, dass es für jeden einzelnen Menschen, ob «normal» oder «speziell», die Möglichkeit geben sollte, seinen individuellen, passenden Weg zu gehen und dass wir alle in der Pflicht stehen. Denn wir sind die Gesellschaft, die jedem, der es braucht, dabei helfen sollte.