Feuilleton

Ein Buch über Flucht und das Ankommen in einem fremden Land

Elvan Göktas schrieb ein Buch über ihre Erlebnisse und Gefühle auf der Flucht aus der Türkei in die Schweiz. Darin beschreibt sie auch den langen Weg der Integration in ihrer neuen Heimatgemeinde Richterswil.

«Die Blicke der Menschen, egal, ob von den Angestellten oder von den Asylsuchenden, erstickten mich. Die dauernde Beobachtung macht mich physisch und psychisch zerbrechlich. Unbekannte Gerüche, undefinierbare Gefühle, unbekannte Gesichter und unerwartete Lebensweisen überströmten mich. Schreck­erfüllt war mein Herz unter so vielen Augen. Wer konnte mich wahrnehmen, verstehen oder mir nachfühlen? Ein Gefühl des Andersseins, des Ausgeliefertseins überkam mich und blieb lange Jahre mein ständiger Begleiter.»

Elvan Göktas ist ein Kind von elf Jahren, als die alevitische Familie, plötzlich und unerwartet, aufbricht. In ihrer Wohnung in Istanbul stehen die Möbel an ihrem gewohnten Platz und im Kühlschrank sind noch alle Lebensmittel. Elvan weiss nicht, was vor sich geht; nicht, wohin die Reise geht. Sie kann es nur erahnen, aber noch nicht verstehen. Die Eltern sagen nichts, erklären nichts. Ein Schlepper führt die Familie bei Nacht und Nebel in die Schweiz.

Am 17. November 2017 feierte Elvan Göktas die Buchvernissage ihrer Geschichte. «Als stünde es auf meiner Stirn geschrieben» ist der Titel dieser Geschichte einer Flucht, die sie uns 28 Jahre später präsentiert. Es ist die Erzählung ihrer Flucht, von Verunsicherung durch das Fremde, und vom Ankommen in einem anfangs so anderen Land, in einer neuen Kultur, einer neuen Sprache und schliesslich auch bei sich selber.

Hardy Ruoss, ehemaliger SRF-Literaturkritiker, moderiert den Abend und stellt Göktas Fragen zu ihrem «Ausländersein». Bewusst hat er diesen Ausdruck gewählt, um – wie er sagt – klar auszudrücken, was ist und um nichts zu beschönigen. Doch Elvan Göktas fühlt sich nicht mehr als Ausländerin, jetzt nicht mehr! Sie ist hier angekommen. Sie fühlt sich im Schweizer Dialekt zuhause. Gross ist die Freude, dass ihr Herzenswunsch endlich in Erfüllung gegangen ist. Seit sie 25 Jahre alt ist, hat sie Lust zu erzählen, wie es ist anzukommen und sich fremd zu fühlen, was es bedeutet fremdbestimmt zu sein, sich zu verhalten, wie es erwartet wird, seine Meinung nicht äussern zu dürfen.
Um frei und unabhängig zu sein waren sie geflüchtet. «Doch die Furcht hat nur ihr Gesicht verändert.»
Elvan Göktas Gefühlssprache lässt uns nachvollziehen, was sie durchlebt hat in diesem Land und in der neuen, ungewohnten Umgebung um schliesslich «… eine von hier zu werden», wie sie mit strahlenden Augen vorliest.
Schnell musste sie Verantwortung übernehmen. Durch die Beantwortung von amtlichen Briefen für ihre Eltern erlangte sie rasch eine gewisse Sicherheit im Umgang mit der deutschen Sprache.
Und sie hat gelernt ihre Ziele hartnäckig zu verfolgen, wie zum Beispiel dieses Buchprojekt, wofür sie den Luzerner Verleger Benno Bühlmann vom db-Verlag gewinnen konnte, indem sie ihn immer wieder anrief, bis er sich mit ihr persönlich treffen wollte.
In Zusammenarbeit mit der Lektorin Martina Läubli entstand eine eindrückliche Dokumentation einer Immigration, schön illustriert von der Luzerner Künstlerin Irena Naef und – wie Hardy Ruoss begeistert betont – fadengebunden.
Elvan Göktas Eltern, Geschwister und auch ihr Sohn sind im vollbesetzten Saal des Kirchgemeindehauses in Wädenswil anwesend, als sie aus ihrem Buch liest. Es ist ein emotionales Erlebnis. Göktas Erleben und auch ihre Engagement für Menschen in ähnlichen Situationen sind spürbar, ebenso die Freude und ihr Stolz über ihr Werk und die Genugtuung angekommen zu sein.
Allerdings ist wohl auch in manchem Zuhörer Beschämung aufgekommen, darüber, dass wir es Menschen, die ihre Heimat und alles, was sie liebten und kannten, hinter sich lassen mussten, oft so schwer machen hier anzukommen.
Ingrid Eva Liedtke

Elvan Göktas: Als stünde es auf meiner Stirn geschrieben. Die Geschichte einer Flucht.
db-Verlag, Luzern 2017
ISBN 978-3-905388-49-7
www.db-verlag.ch

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