Patrick ging schon als Kind gerne an die Fasnacht. Er liebte es sich zu verkleiden. Da und bei jeder sonstigen Gelegenheit schlüpfte er in Frauenkleider. Darin fühlte er sich erst so richtig wohl. Die Familie wohnte damals in Einsiedeln. Alle sind begeisterte Fasnächtler. Niemand machte sich Gedanken – auch Patrick nicht …
Dass Patrick auf Jungs steht, hat er relativ früh bemerkt. Obwohl sein Vater Süditaliener und seine Mutter Serbin ist, war sein Schwulsein kein Thema. Die Familie liebte und akzeptierte Patrick so, wie er war. Trotzdem existierte in ihm dieses Gefühl, das irgendetwas nicht stimmte.
Was braucht der Mensch um das Gefühl zu haben gut und richtig zu sein? Diese Formulierung hat diesen Unterton, der unser Denken in diese eine Richtung drängt. Ist es unsere Umgebung? Wir sind soziale Wesen und leben in Systemen, die uns prägen: Familie, Schule, Vereine, Freunde, Arbeitsplatz – die Gesellschaft. Sie geben uns vor, was richtig und falsch ist. Wir lernen früh, was es braucht um in unserem System akzeptiert zu werden und als richtig und gut anerkannt zu sein – dies auch, wenn es nicht unseren ureigenen Anlagen entspricht. Zu Beginn sind diese Muster für uns lebenserhaltend. Sie können sich im Laufe eines Lebens aber auch als sehr einschränkend, destruktiv und gar als unheilbringend oder krankmachend erweisen. Welchen Stimmen folgen wir dann? Welche Werte gelten?
Patricks innere Stimme meldete sich zuerst als nie gekanntes Wohlgefühl.
Die ganze Familie della Valle wirkte am Welttheater in Einsiedeln mit. Patrick war die Himmelshirtin, mit langer weisser Haarpracht, in einem silbernen Paillettenkleid und hohen Plateausohlen-Stiefeln. «Mein Bruder meinte, ich solle doch zukünftig als Dragqueen auftreten. Irgendwie hat er wohl etwas gespürt», erinnert sich Jill, die sich von diesem Tag an langsam aus ihrem körperlichen «Falschsein» herauszuschälen begann. Vorerst gab es nur dieses Bewusstsein, wie unsäglich wohl sie sich in Frauenkleidern fühlte, aber auch eine grosse Aufgewühltheit.
Jills Frauenseele wollte gesehen werden.
Bevor ich Jill treffe, google ich mich durch einen Begriffewald: transgender, queer, genderqueer, Intersexualität, Androgynie, Transvestit usw. Ich vermute, dass ich womöglich all diese Begrifflichkeiten in unserem Gespräch nicht brauchen werde, weil wir über menschliches Sein sprechen werden, über das Anderssein, allenfalls über Unterschiede, bestenfalls über Gemeinsamkeiten, im allerbesten Fall darüber, dass wir alle Menschen sind, jeder für sich anders und doch gleich.
Trotzdem meinte ich mich vorbereiten zu müssen auf etwas Fremdes, eine mir bisher unbekannte Welt. Während meiner Recherche begann ich in dieser ein wenig zu fremdeln und mich unwohl zu fühlen. Aber dann habe ich mir gesagt, dass ich darauf vertraue, dass sich im zwischenmenschlichen Kontakt Ängste oder Fremdsein meistens schnell abbauen. Gleichzeitig wurde mir einmal mehr bewusst, wie sich Widerstände gegen Menschen, die anders sind als wir, aufbauen. Es ist nur ein anfängliches Unwohlsein im Angesicht des Neuen und Ungewohnten. Irgendwann vor Urzeiten hatte das Gefühl den Sinn, uns zu schützen vor Gefahren. Heutzutage ist solches nur kontraproduktiv und behindert unser menschliches Miteinander.
Die Begegnung mit Jill hat mich in dieser Überzeugung bestärkt. Während unseres Gespräches meint sie, die obigen Ausdrücke brauche es für ein besseres Verständnis, sozusagen als Brücke. Begegnen wir uns wirklich, als Menschen, sind sie irrelevant.
Zur Begrüssung frage ich Jill wie sie sich fühlt. Sie sagt, sie fühlt sich wohl – als Frau.
Was war der zündende Funke, der Moment der Klarheit?
Das war wohl meine Rolle im Welttheater. Da ist etwas in mir aufgebrochen. Obwohl ich es noch immer nicht benennen konnte.
Viele sprechen von diesem unglaublichen Druck, der sich im eigenen Innern aufbaut.
Das stimmt. Der Druck wurde so gross, dass ich nicht einmal mehr in den Spiegel schauen konnte. Da war für mich der Moment gekommen um mir psychologische Hilfe zu holen. Sehr schnell wurde mir dann klar, dass ich eine Frau bin – in einem Männerkörper!
Je mehr ich mich einzufühlen versuche, desto mehr Fragen tauchen auf: Warum weist die Schöpfungsintelligenz einer Frauenseele ihren Platz in einem Männerkörper zu oder umgekehrt? Was haben diese Spielarten der Natur für einen Sinn? Sind sie ein Versehen oder steht eine höhere Absicht dahinter?
Ich bin mir nicht sicher ob sich Jill solche Gedanken gemacht hat.
Es scheint, als ob es für sie eine so grosse Erleichterung war, endlich zu verstehen, wer sie ist, dass die Frage nach dem «warum» nicht mehr wichtig ist. Jill ist bei sich angekommen, obwohl sie sich ihre Identität, ihr neues Zuhause noch einrichten muss. Ihr Körper hat noch nicht die richtige Passform.
Doch wie reagierte die Umwelt? Patrick arbeitet in der Schulmensa der Kantonsschule in Glarus. In den Schulferien trifft er den Schulleiter. Er zeigt sich ihm erstmals als Frau.
«Ich hatte wirklich Glück. In den letzten Frühlingsferien habe ich mich gewandelt, habe angefangen einen BH zu tragen, mich ganz wenig geschminkt, den Bart rasiert. Dann habe ich meinen Chef angerufen, bin zu ihm gegangen und habe ihm alles erklärt. Er war sehr offen und fand es OK. Hätte es Probleme mit den Schülern gegeben, hätte er für mich eine Stelle in der Küche geschaffen. Das wäre allerdings ein Problem für mich gewesen, da ich sehr gerne unter Menschen bin und den Kontakt mit den Schülern liebe.»
Wie reagieren die Schüler?
Gar nicht! Ich achte während der Arbeit auch nicht so darauf. Trotzdem, es wäre mir lieber sie würden Fragen stellen. Ich glaube, sie trauen sich nicht. Das ist schade, denn ich denke, dem einen oder anderen könnte ein Gespräch mit mir auch bei der eigenen Selbstfindung helfen. Sicher haben sie sich unterdessen auch schon an mein verändertes Äusseres gewöhnt, daran, dass ich jetzt eine Frau bin.
Wie hat Deine Mutter reagiert?
Anhand von Beispielen von berühmten Transgender-Frauen in Italien habe ich meiner Mutter erklärt, was mit mir los ist. Sie hat es akzeptiert. Ich lebe mit meiner Mutter zusammen. Wir haben einen guten Familienzusammenhalt! Meine Mutter kauft mir nun ab und zu ein schönes Oberteil oder wir gehen zusammen shoppen. Sie ermahnt mich, jetzt viel mehr aufzupassen – als Frau.
Vielen Menschen in Deiner Situation wird mit Unverständnis begegnet, und sie werden von Familien, Freunden und Gesellschaft ausgegrenzt, verachtet oder gar verstossen.
Das ist sehr traurig. Wenn meine Mutter wegen mir gemieden wird, verletzt mich das auch. Zum Glück habe ich eine verständnisvolle Familie und sehr gute Freunde. Mein vier Jahre älterer Bruder hat, wie schon gesagt, als erster verstanden, was mit mir los ist. Er ist verheiratet und hat ein Kind. Wir haben ein sehr enges Verhältnis. Mit meinem Vater ist es ein wenig schwieriger. Da ist eine gewisse Distanz – Ängste –, auch meinerseits. Er hat mich erst im Januar das erste Mal gesehen und einfach nicht reagiert. Das hat mich irritiert. Ich muss wohl lernen, auf die Leute zuzugehen. Ich wünschte mir, dass man mehr mit mir sprechen würde und das Thema nicht gemieden wird. Meine Grenzen kann ich gut verteidigen.
Wie geht es weiter? Reicht es Dir Dich als Frau zu kleiden?
Nein. Das wurde mir klar, als ich mit einem Kollegen ausging. Ich trug enge Hosen. Mein Geschlechtsteil zeichnete sich ab und ich versuchte die ganze Zeit es zu verbergen. Mein Kollege meinte, ich solle es so akzeptieren. Da wusste ich, ich will es weghaben. Ich kann und will so nicht leben. Jetzt nehme ich Hormone und später, wenn mein Körper soweit ist, werde ich mich operieren lassen. Im Moment mache ich eine zweite Pubertät durch. Ich habe oft Muskelkater durch das Wachstum der Brüste, meine Haare werden feiner, die Barthaare weniger.
Doch Frausein definiert sich nicht nur über Brüste, Vagina und breitere Hüften. Für Jill haben sich auch die Emotionen verschoben. Sie macht sich viel mehr Sorgen um ihre Lieben, ist einfühlsamer geworden, sensibler und grübelt mehr. «Früher habe ich knallhart gewisse Kapitel in meinem Leben abgeschlossen. Jetzt will ich der Sache auf den Grund gehen, höre besser zu und will über Probleme sprechen.» Jill ist häuslicher geworden. Sie muss nicht mehr jedes Wochenende ausgehen. Nachts, auf der Strasse fürchtet sie sich.
Jill ist romantisch. Sie wünscht sich einen Partner. «Es ist nicht einfach,» sagt sie «wer will denn jemanden, der nicht komplett ist, mit Brüsten und ohne Vagina?» Darum ist sie in einem Chatroom. «Die wollen Spass und sind neugierig, aber alles soll sehr diskret und im Geheimen stattfinden. Das will ich nicht. Ich will mich zeigen. Niemand soll sich für mich schämen. Dann verzichte ich lieber auch auf Sex. Kuscheln würde ich schon ab und zu gerne. Vielleicht bin ich im falschen Chatroom?»
Möglicherweise müsse sie zuerst ihre Hormonbehandlung und die Operation hinter sich bringen, mutmasst Jill. Die Behandlung dauert mindestens zwei Jahre. Je länger, desto besser. Sie ist im 1. Jahr. Sie weiss, sie muss geduldig sein. Der Preis ist Unfruchtbarkeit. Jill wird nie ein Kind zeugen, ausser sie lässt Sperma einfrieren.
Doch Jill schaut vorwärts und geniesst das Leben als Frau. Sie liebt es zu shoppen, auch wenn es ein wenig schwierig ist, schöne Schuhe in Grösse 45 zu finden.
Neuerdings hat sie ein paar Pölsterchen um die Hüften gekriegt. Jill ist sehr glücklich, eine Frau zu sein.
Ingrid Eva Liedtke
Patrick ging schon als Kind gerne an die Fasnacht. Er liebte es sich zu verkleiden. Da und bei jeder sonstigen Gelegenheit schlüpfte er in Frauenkleider. Darin fühlte er sich erst so richtig wohl. Die Familie wohnte damals in Einsiedeln. Alle sind begeisterte Fasnächtler. Niemand machte sich Gedanken – auch Patrick nicht …
Dass Patrick auf Jungs steht, hat er relativ früh bemerkt. Obwohl sein Vater Süditaliener und seine Mutter Serbin ist, war sein Schwulsein kein Thema. Die Familie liebte und akzeptierte Patrick so, wie er war. Trotzdem existierte in ihm dieses Gefühl, das irgendetwas nicht stimmte.
Was braucht der Mensch um das Gefühl zu haben gut und richtig zu sein? Diese Formulierung hat diesen Unterton, der unser Denken in diese eine Richtung drängt. Ist es unsere Umgebung? Wir sind soziale Wesen und leben in Systemen, die uns prägen: Familie, Schule, Vereine, Freunde, Arbeitsplatz – die Gesellschaft. Sie geben uns vor, was richtig und falsch ist. Wir lernen früh, was es braucht um in unserem System akzeptiert zu werden und als richtig und gut anerkannt zu sein – dies auch, wenn es nicht unseren ureigenen Anlagen entspricht. Zu Beginn sind diese Muster für uns lebenserhaltend. Sie können sich im Laufe eines Lebens aber auch als sehr einschränkend, destruktiv und gar als unheilbringend oder krankmachend erweisen. Welchen Stimmen folgen wir dann? Welche Werte gelten?
Patricks innere Stimme meldete sich zuerst als nie gekanntes Wohlgefühl.
Die ganze Familie della Valle wirkte am Welttheater in Einsiedeln mit. Patrick war die Himmelshirtin, mit langer weisser Haarpracht, in einem silbernen Paillettenkleid und hohen Plateausohlen-Stiefeln. «Mein Bruder meinte, ich solle doch zukünftig als Dragqueen auftreten. Irgendwie hat er wohl etwas gespürt», erinnert sich Jill, die sich von diesem Tag an langsam aus ihrem körperlichen «Falschsein» herauszuschälen begann. Vorerst gab es nur dieses Bewusstsein, wie unsäglich wohl sie sich in Frauenkleidern fühlte, aber auch eine grosse Aufgewühltheit.
Jills Frauenseele wollte gesehen werden.
Bevor ich Jill treffe, google ich mich durch einen Begriffewald: transgender, queer, genderqueer, Intersexualität, Androgynie, Transvestit usw. Ich vermute, dass ich womöglich all diese Begrifflichkeiten in unserem Gespräch nicht brauchen werde, weil wir über menschliches Sein sprechen werden, über das Anderssein, allenfalls über Unterschiede, bestenfalls über Gemeinsamkeiten, im allerbesten Fall darüber, dass wir alle Menschen sind, jeder für sich anders und doch gleich.
Trotzdem meinte ich mich vorbereiten zu müssen auf etwas Fremdes, eine mir bisher unbekannte Welt. Während meiner Recherche begann ich in dieser ein wenig zu fremdeln und mich unwohl zu fühlen. Aber dann habe ich mir gesagt, dass ich darauf vertraue, dass sich im zwischenmenschlichen Kontakt Ängste oder Fremdsein meistens schnell abbauen. Gleichzeitig wurde mir einmal mehr bewusst, wie sich Widerstände gegen Menschen, die anders sind als wir, aufbauen. Es ist nur ein anfängliches Unwohlsein im Angesicht des Neuen und Ungewohnten. Irgendwann vor Urzeiten hatte das Gefühl den Sinn, uns zu schützen vor Gefahren. Heutzutage ist solches nur kontraproduktiv und behindert unser menschliches Miteinander.
Die Begegnung mit Jill hat mich in dieser Überzeugung bestärkt. Während unseres Gespräches meint sie, die obigen Ausdrücke brauche es für ein besseres Verständnis, sozusagen als Brücke. Begegnen wir uns wirklich, als Menschen, sind sie irrelevant.
Zur Begrüssung frage ich Jill wie sie sich fühlt. Sie sagt, sie fühlt sich wohl – als Frau.
Was war der zündende Funke, der Moment der Klarheit?
Das war wohl meine Rolle im Welttheater. Da ist etwas in mir aufgebrochen. Obwohl ich es noch immer nicht benennen konnte.
Viele sprechen von diesem unglaublichen Druck, der sich im eigenen Innern aufbaut.
Das stimmt. Der Druck wurde so gross, dass ich nicht einmal mehr in den Spiegel schauen konnte. Da war für mich der Moment gekommen um mir psychologische Hilfe zu holen. Sehr schnell wurde mir dann klar, dass ich eine Frau bin – in einem Männerkörper!
Je mehr ich mich einzufühlen versuche, desto mehr Fragen tauchen auf: Warum weist die Schöpfungsintelligenz einer Frauenseele ihren Platz in einem Männerkörper zu oder umgekehrt? Was haben diese Spielarten der Natur für einen Sinn? Sind sie ein Versehen oder steht eine höhere Absicht dahinter?
Ich bin mir nicht sicher ob sich Jill solche Gedanken gemacht hat.
Es scheint, als ob es für sie eine so grosse Erleichterung war, endlich zu verstehen, wer sie ist, dass die Frage nach dem «warum» nicht mehr wichtig ist. Jill ist bei sich angekommen, obwohl sie sich ihre Identität, ihr neues Zuhause noch einrichten muss. Ihr Körper hat noch nicht die richtige Passform.
Doch wie reagierte die Umwelt? Patrick arbeitet in der Schulmensa der Kantonsschule in Glarus. In den Schulferien trifft er den Schulleiter. Er zeigt sich ihm erstmals als Frau.
«Ich hatte wirklich Glück. In den letzten Frühlingsferien habe ich mich gewandelt, habe angefangen einen BH zu tragen, mich ganz wenig geschminkt, den Bart rasiert. Dann habe ich meinen Chef angerufen, bin zu ihm gegangen und habe ihm alles erklärt. Er war sehr offen und fand es OK. Hätte es Probleme mit den Schülern gegeben, hätte er für mich eine Stelle in der Küche geschaffen. Das wäre allerdings ein Problem für mich gewesen, da ich sehr gerne unter Menschen bin und den Kontakt mit den Schülern liebe.»
Wie reagieren die Schüler?
Gar nicht! Ich achte während der Arbeit auch nicht so darauf. Trotzdem, es wäre mir lieber sie würden Fragen stellen. Ich glaube, sie trauen sich nicht. Das ist schade, denn ich denke, dem einen oder anderen könnte ein Gespräch mit mir auch bei der eigenen Selbstfindung helfen. Sicher haben sie sich unterdessen auch schon an mein verändertes Äusseres gewöhnt, daran, dass ich jetzt eine Frau bin.
Wie hat Deine Mutter reagiert?
Anhand von Beispielen von berühmten Transgender-Frauen in Italien habe ich meiner Mutter erklärt, was mit mir los ist. Sie hat es akzeptiert. Ich lebe mit meiner Mutter zusammen. Wir haben einen guten Familienzusammenhalt! Meine Mutter kauft mir nun ab und zu ein schönes Oberteil oder wir gehen zusammen shoppen. Sie ermahnt mich, jetzt viel mehr aufzupassen – als Frau.
Vielen Menschen in Deiner Situation wird mit Unverständnis begegnet, und sie werden von Familien, Freunden und Gesellschaft ausgegrenzt, verachtet oder gar verstossen.
Das ist sehr traurig. Wenn meine Mutter wegen mir gemieden wird, verletzt mich das auch. Zum Glück habe ich eine verständnisvolle Familie und sehr gute Freunde. Mein vier Jahre älterer Bruder hat, wie schon gesagt, als erster verstanden, was mit mir los ist. Er ist verheiratet und hat ein Kind. Wir haben ein sehr enges Verhältnis. Mit meinem Vater ist es ein wenig schwieriger. Da ist eine gewisse Distanz – Ängste –, auch meinerseits. Er hat mich erst im Januar das erste Mal gesehen und einfach nicht reagiert. Das hat mich irritiert. Ich muss wohl lernen, auf die Leute zuzugehen. Ich wünschte mir, dass man mehr mit mir sprechen würde und das Thema nicht gemieden wird. Meine Grenzen kann ich gut verteidigen.
Wie geht es weiter? Reicht es Dir Dich als Frau zu kleiden?
Nein. Das wurde mir klar, als ich mit einem Kollegen ausging. Ich trug enge Hosen. Mein Geschlechtsteil zeichnete sich ab und ich versuchte die ganze Zeit es zu verbergen. Mein Kollege meinte, ich solle es so akzeptieren. Da wusste ich, ich will es weghaben. Ich kann und will so nicht leben. Jetzt nehme ich Hormone und später, wenn mein Körper soweit ist, werde ich mich operieren lassen. Im Moment mache ich eine zweite Pubertät durch. Ich habe oft Muskelkater durch das Wachstum der Brüste, meine Haare werden feiner, die Barthaare weniger.
Doch Frausein definiert sich nicht nur über Brüste, Vagina und breitere Hüften. Für Jill haben sich auch die Emotionen verschoben. Sie macht sich viel mehr Sorgen um ihre Lieben, ist einfühlsamer geworden, sensibler und grübelt mehr. «Früher habe ich knallhart gewisse Kapitel in meinem Leben abgeschlossen. Jetzt will ich der Sache auf den Grund gehen, höre besser zu und will über Probleme sprechen.» Jill ist häuslicher geworden. Sie muss nicht mehr jedes Wochenende ausgehen. Nachts, auf der Strasse fürchtet sie sich.
Jill ist romantisch. Sie wünscht sich einen Partner. «Es ist nicht einfach,» sagt sie «wer will denn jemanden, der nicht komplett ist, mit Brüsten und ohne Vagina?» Darum ist sie in einem Chatroom. «Die wollen Spass und sind neugierig, aber alles soll sehr diskret und im Geheimen stattfinden. Das will ich nicht. Ich will mich zeigen. Niemand soll sich für mich schämen. Dann verzichte ich lieber auch auf Sex. Kuscheln würde ich schon ab und zu gerne. Vielleicht bin ich im falschen Chatroom?»
Möglicherweise müsse sie zuerst ihre Hormonbehandlung und die Operation hinter sich bringen, mutmasst Jill. Die Behandlung dauert mindestens zwei Jahre. Je länger, desto besser. Sie ist im 1. Jahr. Sie weiss, sie muss geduldig sein. Der Preis ist Unfruchtbarkeit. Jill wird nie ein Kind zeugen, ausser sie lässt Sperma einfrieren.
Doch Jill schaut vorwärts und geniesst das Leben als Frau. Sie liebt es zu shoppen, auch wenn es ein wenig schwierig ist, schöne Schuhe in Grösse 45 zu finden.
Neuerdings hat sie ein paar Pölsterchen um die Hüften gekriegt. Jill ist sehr glücklich, eine Frau zu sein.
Ingrid Eva Liedtke